EVAKUIERUNG

 

 

 

»Ich kann sie auch jetzt gleich abknallen«, sagte Aslal, als sie wieder ins Fenneklager zurückgekehrt waren. Sie fand das alles unwirklich. Das grünliche Licht in der Garage, der Geruch nach Maschinenöl und Kamelen, die bewaffneten Männer, die um sie herumstanden. Nasrid war dabei, Björn auch (seit wann ließ er sich eigentlich einen Bart wachsen?). Sie selbst fühlte sich, als sei sie gar nicht richtig da. Auch der Lauf der Pistole, in den sie jetzt hineinstarrte, wirkte unecht, fast wie die Mündung einer Spielzeugpistole. Lächerlich. Ihr Hintern tat vom Ritt in dem harten Kamelsattel weh, und ihre Handgelenke wurden langsam taub, denn gefesselt war sie noch immer. »Das wirst du nicht tun«, sagte Björn und schwenkte seine Mitrailleuse in Richtung Aslal.

»Ach! Und warum nicht?«, schrie Aslal, außer sich vor Zorn. »Sie ist eine Verräterin, Nasrid! Genau wie dieser dreckige EF-Überläufer.«

»Wollt ihr beide jetzt wohl mit diesem Unsinn aufhören«, erwiderte Nasrid so gelassen, als wolle er einen Streit zwischen zwei Kindern schlichten. »Steckt jetzt mal eure Waffen weg, ja? Jetzt möchte ich ein paar Sachen klarstellen. Dubb, du hast saubere Arbeit geleistet. Deine Reaktion beim Käferangriff war hervorragend. Wenn wir hier so etwas wie Orden hätten, würde ich dir sofort einen verleihen. Okay. Und dann haben wir hier Tabea. Die abhauen wollte. Kannst du mir vielleicht sagen, warum, Tabea?«

Tabea schwieg.

Nasrid seufzte. »Schau, ich kann jetzt Aslal erlauben, eine Antwort aus dir herauszuprügeln, und Björn kann dir dann auch nicht helfen. Aber muss das wirklich sein? Was wolltest du in der Wüste? Antworte mir!«

»Ihr seid alle verrückt«, hörte sie sich sagen, wie aus weiter Ferne. »Die EF wird euch alle umbringen. Ich wollte abhauen, irgendwo hin. In der Oase hatte ich Kontakt zum EuroNet.« Die Männer stöhnten entsetzt auf. Björn starrte Tabea an. »Was!?«, schrie Aslal und griff wieder nach seiner Pistole. Nasrid stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Nicht absichtlich!«, schrie Tabea. »Nicht von mir aus, verdammt! Woher hätte ich denn wissen sollen, dass diese verfluchte Oase verdrahtet ist? Ich schlafe ein, wache auf, plötzlich schwebt mein Berater vor mir und quatscht mich voll. Fragt mich, wo ich bin und wo Björn ist und was wir hier in Tunesien eigentlich machen. Ich bin vor ihm geflohen! An dem Wasserloch wollte ich meine Schläuche auffüllen, da hat mich der da gefangen.«

»Du hattest Kontakt zum EuroNet?«, fragte Nasrid. »Ja doch. Mein Berater hat gesagt, ein Hubschrauber wär schon unterwegs.«

»Das ist doch wohl nicht wahr!«, protestierte Claude, einige in der Truppe riefen auf Arabisch durcheinander. »Ruhe!«, schrie Nasrid. »Und warum hast du das nicht früher gesagt?«

»Aslal meinte, er killt mich, wenn ich auch nur einen Mucks mache.«

Nasrid schloss die Augen und rieb sich die Stirn. »Na fabelhaft«, sagte er dann. »Hat sich der Sturm draußen gelegt? Ja?«

Einer der Männer bestätigte es. »Gut«, sagte Nasrid. »Wir evakuieren.«

Als niemand reagierte, schrie er: »Worauf wartet ihr noch? Alarmstufe rot!«

Eine Sirene schrillte, ein heilloses Chaos brach los. Irgendjemand packte Tabea und schleifte sie hinter sich her, in den Kamelstall. Björn war nirgendwo zu sehen. Trotz ihrer Niedergeschlagenheit konnte Tabea nur staunen. Die Evakuierung lief mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ab. Die Kamele wurden gesattelt und beladen, mit Salz, Wasserschläuchen und verschiedenen anderen Waren, die sie zur Tarnung mit sich führen sollten, wie eine typische Handelskarawane. Geschrei, Gezerre, die unruhigen Kamele – alles wirkte desorganisiert und chaotisch, aber binnen weniger Minuten war die Ausrüstung auf den Tieren festgezurrt. Zur Verstärkung der Leute, die ohnehin meistens mit den Kamelen zu tun hatten, kamen ein paar der anderen Fenneks angelaufen, gekleidet wie Tuaregs, obwohl sie keine waren. Sie trugen ihre Waffen auf dem Rücken. Ein paarmal lief Abdellatif an ihr vorbei, er würdigte sie keines Blickes. Aus der Garage hörte man Motoren starten, die Wüstenbuggys würden auch ausrücken, alle auf einmal. Tabea wurde vor einem von Aslals Leuten auf den Sattel gesetzt, sie hatte seinen Namen vergessen. Jetzt erhoben sich alle Kamele, kaum zehn Minuten, nachdem Nasrid den Evakuierungsbefehl gegeben hatte. Tabea war verzweifelt. Sie hatte seit der Rückkehr ins Lager nichts gegessen und getrunken, ihr Hintern war wund, sie fühlte sich todmüde nach der gescheiterten Flucht, und jetzt ging es schon wieder hinaus in die Wüste! Das Tor des Kamelstalls öffnete sich weit. Ein Tier nach dem anderen lief hindurch.

Das Gebilde sah aus wie ein Sarg. Es war anthrazitfarben, etwa zwei Meter lang, auf dem Deckel befanden sich verschiedene blinkende Statusanzeigen und Monitore. An den Längsseiten waren Tragegriffe zu erkennen.

»Darf ich vorstellen«, sagte Nasrid zu den verdutzten Fenneks. »Mein Bruder Hassan.«

»Angenehm«, sagte die Stimme, die Björn jetzt schon öfter gehört hatte, und von der er immer geglaubt hatte, dass sie von einem Menschen mit entstellenden Verbrennungen oder Narben stamme. Dass sich dieser sargartige Tank hinter dem Vorhang befunden hatte, verblüffte ihn ebenso wie die anderen. »Wir können hier leider nicht den ganzen Tag Konversation machen. Angesichts der Umstände versteht ihr sicher, dass mein Bruder weder auf einem Kamel reiten noch in einem der normalen Buggys fahren kann. Ihr fünf hier seid die besten Leute, die ich habe.«

Björn stellte mit Genugtuung fest, dass Aslal nicht zu der Gruppe gehörte.

»Und deswegen seid ihr auch ab sofort die persönliche Leibgarde meines Bruders. Beschützt ihn mit eurem Leben.« Er trat zur Wand und berührte sie. Wo seine Hand auflag, begann das nackte Gestein grünlich zu leuchten, und vor den Augen der Fenneks öffnete sich die Tür eines Aufzugs. Die Kabine wirkte fabrikneu, steril und sauber. »Na los«, sagte Nasrid. »Tragt ihn rein.« Die Männer gehorchten. Sofort schloss sich die Aufzugstür und sie fuhren nach unten.

In der Garage befanden sich nur noch drei Buggys, umgeben von etwa fünfzehn Kämpfern. Die Motoren liefen. Hassan wurde in einen speziellen Buggy verladen, der größer und stärker wirkte als alle anderen. Björns geschultem Auge fiel auf, dass er besser gepanzert war als der Rest des Fuhrparks. Alle stiegen ein. Nur Nasrid stand noch an der geöffneten Luke des Gefährts, in dem die Leibgarde schon um Hassans Tank herum Platz genommen hatte. In der Hand trug er einen länglichen Gegenstand, vielleicht doppelt so dick wie ein Kugelschreiber, mit rot glühendem Druckknopf am oberen Ende. Björn hatte so etwas schon einmal gesehen, als er mit seinem Bataillon ein Rebellennest gesprengt hatte, das sie kurz vorher erobert und ausgeräuchert hatten. Es war ein Funkzünder, mit dem Sprengladungen scharf gemacht wurden. Nasrid drückte den Knopf und stieg ein. Sofort gab er den Befehl zur Abfahrt. »Sprengfallen?«, fragte Björn.

Nasrid lächelte. »Wenn du so willst. Man könnte auch sagen, die ganze Basis ist jetzt eine einzige Sprengfalle. Wenn die EF zu Besuch kommt, stürzt der Felsen über ihr ein.« Björn nickte. Seinerzeit hatten sie an Sprengfallen verschiedener Machart viele Leute verloren. Aber eigentlich war er im Moment mit seinen Gedanken woanders. Den Wiederbelebungstank, in dem sein zerfetzter Leib in einen Zombie verwandelt worden war, hatte er nie gesehen. Die Wiederbelebungstechnologie war ein streng gehütetes Geheimnis, und niemand außerhalb des Militärs konnte sagen, wie sie funktionierte, niemand wusste, wie die Wiedererweckungsmaschinen aussahen. Gerade deswegen gab es viele Gerüchte darüber. Vor allem in der Kirche hatten immer wieder angeblich echte Bilder von den Wiedererweckungstanks zirkuliert, ja, die Tanks hatten unter den Zombies sogar einen speziellen Namen gehabt: Sie wurden die »Zweiten Mütter« genannt. Es muss nichts heißen, sagte sich Björn, es kann Zufall sein. Aber die Bilder hatten ganz ähnlich ausgesehen wie das anthrazitschwarze Ding vor seinen Füßen. Wie Hassans Tank.