FREE RIDERS

 

 

 

Nein, dachte sie verzweifelt, das ist nicht wahr, nicht fair. Sie machte sich Hoffnung. Vielleicht hatte er eine der Einheiten hinter ihr erwischt. Später losgelaufen, später gesprungen, das konnte doch sein. Und sie wusste ja nicht einmal, ob er nicht doch auf ihrer Einheit war. Vielleicht wartete er ja genau in diesem Moment auf der anderen Seite und fragte sich, wo sie blieb. Sie musste ihn suchen gehen. Leicht gesagt. Sie bemerkte erst jetzt, dass ihre Augen schon ganz verklebt waren vom Staub und dass der Fahrtwind schneidend kalt war. Sie schlug die Kapuze ihrer Jacke hoch, und auch wenn das nicht allzu viel brachte, fühlte sie sich jetzt immerhin ein wenig besser geschützt. Um vorwärts zu kommen, musste sie sich mit voller Kraft in den Wind lehnen, die eine Hand an der Reling, die andere am Tank ihrer Karawaneneinheit. Unter ihrer linken Hand konnte sie spüren, wo der Lack abgeplatzt war und Rost sich breit machte. Als sie auf diese Weise ein paar Meter zurückgelegt hatte, musste sie plötzlich an die Träume vom Grönlandfeldzug denken, aber diese Höllenfahrt hier war fies und echt. Sie kam an eine Ecke und bewegte sich blind nach rechts, vom Wind gegen die flache Vorderseite des Containers gedrückt. Sie stellte sich vor, sie sei die Fliege an der Windschutzscheibe eines fahrenden Autos, die von der Fahrer- auf die Beifahrerseite wechseln wollte, ohne vom Wind weggerissen zu werden. Auf der anderen Seite des Containers ging es wieder schlechter. Jetzt überließ sie sich dem Druck des Windes, der sie mit seiner starken, kalten Hand über die Metallplanken schob. Eine unvorsichtige Bewegung, sie stürzte, fiel, dachte im Fallen: »Tot!« und stieß dann mit ihren Beinen so schmerzhaft an die Reling, dass sie fast ohnmächtig wurde. In letzter Sekunde fand sie Halt und rappelte sich wieder hoch.

Die Rückseite des Containers war dem Fahrtwind abgekehrt. Natürlich herrschte hier keine Windstille, Verwirbelungen von allen Seiten sorgten für manchmal heftige Böen um ihren Kopf, aber das war kein Vergleich mit dem Orkan vorher. Der Lärm hatte nachgelassen, weil sie jetzt auf einer größeren und besser ausgebauten Straße unterwegs waren, deswegen gab es auch keinen Staub mehr oder zumindest viel weniger als bei der Abfahrt vom Terminal. Ihr direkt gegenüber, vielleicht anderthalb Meter entfernt, schwankte der Container der nachfolgenden Karawaneneinheit im Rhythmus der Fahrbahnunebenheiten auf und ab. Die Querwand des Containers trug eine Aufschrift, Tabea konnte im Licht der Positionslampen nur die Buchstaben AMP entziffern. Jetzt saß sie da. Björn hatte sie nicht gefunden. Verzweiflung und Anstrengung hatten sie müde gemacht. Sie wusste, dass es vielleicht nicht sehr klug war, auf einer Karawane, die mit 150 Stundenkilometern durch die Gegend brauste, ein Schläfchen zu halten. Aber sie sagte sich, dass sie ohnehin nur kurz einnicken würde und im Moment sowieso nichts ändern konnte. Und ausruhen musste sie sich in jedem Fall, um später wieder fit zu sein. Und da der nachfolgende Container mit dem AMP-Schriftzug so beruhigend auf- und abschwankte, schlief sie tatsächlich ein. Als sie aufwachte, war sie völlig desorientiert. Sie hatte von zu Hause geträumt und fragte sich jetzt verschreckt, wo sie war, was dieser Lärm und diese Kälte zu bedeuten hatten. Kaum hatte sie ihre Lage erkannt, meldete sich ihr gepeinigter Körper: Arme und Beine waren steif und kalt, die Rückenmuskeln verspannt. Erst als sie sich hochrappeln wollte, um sich ein wenig zu strecken und zu dehnen, sah sie den Mann, kaum zwei Meter von ihr entfernt, mit einer Waffe in der Hand. Panisch versuchte sie, vom Boden hochzukommen, konnte aber nur auf ihrem Hintern einen halben Meter von dem Mann wegrutschen, bevor ein Knall ertönte.

Sofort kam der Schmerz. Als würde ihr ganzer Körper von zwei großen Händen wie ein nasses Kleidungsstück durchgewrungen. Ihre Haut musste verbrennen. Die Muskeln darunter zerreißen. Die Knochen zerbrechen. Und sie konnte sich weder bewegen noch schreien. Der Fremde packte sie und trug sie davon. Er hatte vier Hände, zwei für ihre Beine, zwei für ihre Arme. Er würde sie über die Reling werfen und die ganze Karawane würde über sie hinwegdonnern. Warum hatte sie auch geschlafen! Björn, hätte sie gedacht, wenn der Schmerz es erlaubt hätte.

Aber sie wurde nicht über die Reling geworfen. Der Fremde mit den vier Händen trug sie ins Innere des Containers, an dessen Außenhaut gelehnt sie geschlafen hatte. Sie hörte ein metallisches Kratzgeräusch, dann wurde sie herumgezerrt und gestaucht, dann war sie drinnen. Ein Geruch nach altem Stroh, den kannte sie von einem Besuch mit der Schulklasse auf einem Bauernhof. Man legte sie hart ab. Obwohl es hier drinnen viel leiser war und auch ein wenig wärmer, konnte sie zuerst nur Gesprächsfetzen verstehen. »… noch eine, hab ich doch gesagt…«

»… nur ein kleines Hühnchen, kein Problem…«

»… vielleicht mal durchnehmen die Kleine, kommt doch wie gerufen…«

»… habt ihr sie überhaupt schon gefilzt…«

Da war plötzlich Bewegung um sie, man hörte das Scharren von Füßen, Flüche, unterdrückte Schreie. »Aufhören!«, schrie jemand. »Sofort aufhören!« Und dann eine Stimme, die sie ins Mark traf: »Niemand rührt das Kind an. Ich habe euren Boss. Er macht jetzt Licht. Wer kämpfen will, riskiert das Leben seines Anführers und sein eigenes.«

Ein grünliches, fahles Licht ging an. Sie sah nur die schäbige Decke des Containers. Der Schmerz war immer noch groß. Sie konnte sich immer noch nicht bewegen, wollte »Björn!« rufen, aber stattdessen kam nur etwas heraus, das wie »Bö!« klang. »… aber du hast doch gesagt, das ist nur ein Zombie…«

»… ist er doch auch, Scheiße noch mal!«

»Schnauze!«, rief eine schneidende Stimme. »Ihr seid jetzt alle still und tut, was er sagt.«

»Gut«, sagte Björn. »Niemand rührt das Kind an.« Tabea begriff erst jetzt, dass sie gemeint war. »Tabea, kannst du mich hören?«

»Ja!« Das ging wieder.

»Sie haben dich mit einem Elektroschocker bearbeitet. Du wirst dich bald besser fühlen. Setzt sie hin.« Nichts geschah.

»Na, macht schon!«, befahl die schneidende Stimme. Tabea wurde aufgerichtet und an die Wand gelehnt, wie ein Sack mit Armen und Beinen. Langsam kehrte das Gefühl in ihren Körper zurück. Es waren sechs, und sie trugen alle Masken. Hinter einem von ihnen kniete Björn. Er hielt ihm etwas an die Kehle.

»Wer seid ihr?«, fragte sie, es klang noch etwas undeutlich. »Still, Tabea. Warte«, sagte Björn. »Also. Ich habe Geld. Es ist in Afrika. Ich habe es dort deponiert, als ich Soldat der EuroForce war. Ihr könnt es haben. Aber wenn ihr uns umbringt, findet ihr dieses Geld nie. Tabea weiß nicht, wo es ist, und ich bin ein Zombie, der gegen Folter unempfindlich ist. Keiner von euch rührt Tabea an. Und jetzt nehmt eure Masken ab. Wir wollen wissen, wie ihr ausseht.«

Tabea fiel etwas auf: Björn sprach schneller als sonst. Vielleicht nicht so schnell wie ein normaler Mensch, aber doch schneller als ein Zombie. War das überhaupt Björn? »Los«, sagte der Typ, hinter dem er kniete. »Masken runter.« Einer nach dem anderen nahm die Maske herunter. Tabea schaute sich um. Das Licht war ja nicht sehr hell, aber es war doch deutlich zu erkennen, dass keiner der Männer älter als achtzehn oder neunzehn war. Aber ihre Gesichter, das konnte sie auch in der schummrigen Beleuchtung erkennen, waren hart und böse.

»Du hast uns immer eingebläut, wir sollen gegenüber Fremden die Masken aufbehalten«, sagte einer von ihnen. Dabei hielt er den Kopf gesenkt.

Der, dem Björn immer noch das Messer an die Kehle hielt, antwortete: »Aber Tommi. Tabea und… und wie heißt du noch mal?«

»Björn.«

»Genau, Björn. Tabea und Björn hier, das sind doch keine Fremden. Das sind unsere Freunde. Riders wie wir.« Er sah Tabea jetzt genau in die Augen, und obwohl sich Tabea immer noch vor ihm und seinen Freunden fürchtete, obwohl da eine Grausamkeit in seinen Augen war, die sie abstieß, senkte sie ihren Blick nicht. »Ich bin übrigens Danielle«, sagte er. »Hallo.« Er winkte statt ihr die Hand zu geben, schließlich wollte er sich Björns Messerspitze nicht selbst in die Kehle drücken, indem er sich nach vorn beugte. Sein Lächeln war gar nicht so übel, fand sie, und sie winkte ironisch zurück.

»Okay«, sagte Björn, »gut«. Er nahm sein Messer weg und steckte es ein.

Sie aßen mit den Freeriders, in einer Atmosphäre der gedämpften Wut und des Misstrauens, die sich erst veränderte, als die Riders betrunken waren und anfingen zu singen. Aber da zogen sich Björn und Tabea in ihr eigenes Appartement zurück, in eine Abteilung des AMP-Containers, die vom Materiallager der Riders mit einem alten Teppich abgetrennt war. Der Himmel wusste, wo die Riders die Teppiche, das Essen und die Leuchtelemente herhatten, mit denen sie in den bewohnten Teilen der Karawane Licht machen konnten. Es war wahrscheinlich alles gestohlen. Aber das machte Björn jetzt gar nichts aus. Er war dankbar für das Essen und das Licht. Mit dem Rücken an der Containerwand lehnend, gestützt von seinem Rucksack, neben sich Tabea, war er so glücklich, wie er es in diesem Moment überhaupt nur sein konnte. Er betrachtete seine Finger, die sich weit schneller schlossen und öffneten als gestern noch. Sie gehorchten besser, sie waren mehr seine, er hatte den Eindruck, sie seien irgendwie aufgewacht. Also stimmte es doch. Diese Illegalen, die ihm den Zettel zugesteckt und Tabea das Intro übertragen hatten, waren keine Betrüger gewesen. Man konnte Zombies wieder beschleunigen, mit Elektrizität, und diese harten Jungs, diese Freeriders, wie sie sich nannten, hatten, ohne es zu wollen, seine Ketten gesprengt. Wie schmerzhaft war der Elektroschock gewesen! Aber jetzt war er fast wieder ein richtiger Mensch. Als er seine Hände genug geprüft und bestaunt hatte, legte er sie auf dem Bauch ab wie kostbare Instrumente, die nicht beschädigt werden durften. Sizilien konnte nicht mehr allzu weit sein.

Tief in der Nacht wachte sie mit einem Ruck auf. Eine Sekunde lang glaubte sie, der Rider mit dem Schocker stünde wieder über ihr. Aber dann beruhigte sie sich. Es war ja alles gut gegangen. Sie hatte Björn wiedergefunden und die Freeriders waren keine Feinde mehr. Das ist gut, dachte sie, das ist gut. Aber etwas war nicht gut, das spürte sie genau. Sie hörte nur die Fahrgeräusche der Karawane, sie sah absolut nichts, weil die Lichter gelöscht worden waren, aber sie spürte trotzdem ganz genau, dass außer Björn und ihr noch jemand im Raum war. Sie richtete sich auf, aber eine große Hand legte sich auf ihre Schulter: Björns, wie sie glücklicherweise schnell genug bemerkte, sonst hätte sie geschrien.

»Tommi«, sagte Björn ruhig. »Du bist zu laut. Sogar Tabea hast du aufgeweckt. Und ich hab dich schon reinkommen gehört.« Der Eindringling gab keine Antwort.

»Danielle lässt uns hier aus einem ganz bestimmten Grund schlafen. Er will uns beweisen, dass er uns vertraut. Vertrauen gegen Vertrauen, das ist die Rechnung von Danielle. Eure Vorräte sind hier sicher. Aber wir beide sind es auch. Soll ich dir verraten, warum?«

Immer noch nichts von der anderen Seite des Containers. Tabea bildete sich jetzt sogar ein, sie könne den nächtlichen Besucher sehen. Aber das war natürlich nur eine Täuschung. »Ich muss nicht schlafen. Nie. Ich bin immer wach und kann mich und Tabea deswegen gut beschützen.« Tabea hörte ein verächtliches Schnauben, dann Schritte. Durch die geschickt verhängte, winzige Tür, die die Riders in die Containerwand geschnitten hatten, fiel ganz kurz ein Streifen Licht. Sie waren wieder allein.

Die Riders waren erstaunlich gut organisiert, wie sich am nächsten Tag herausstellte. Sie kannten die Karawanen wie ihre Westentasche. Nick, offenbar der Elektroniker der Gruppe, behauptete, er sei sogar in der Lage, eine Karawane ganz in seine Gewalt zu bringen und sie dorthin zu steuern, wohin er wollte. Selbst die Satellitenüberwachung könne er täuschen, sagte er. Tabea wusste nicht, was sie von seinen Sprüchen halten sollte, aber er schien kein Angeber zu sein. Er hatte tatsächlich Spezialtaschen mit verschiedenen Computern dabei, von denen er sich nie weiter als ein paar Meter entfernte. In bestimmten Zeitabständen baute er seine Apparaturen auf, um mysteriösen Geschäften nachzugehen.

Vor allem aber waren die Riders Meister darin, in die leeren Container einzudringen und sich dort einzurichten. Wenn sie keine anderen Zugänge fanden, schnitten sie sich einfach durch die Wände, und die kleinen, ultrascharfen Geräte, die sie dazu benutzten, waren ihr ganzer Stolz. Sie wohnten praktisch in den Karawanen, »wie Flöhe auf einer Katze«, sagte Nick. Er verriet ihr auch, dass sie manche Container immer wieder benutzten. Speziell in dem AMP-Container, wo sie diesmal ihr Materiallager eingerichtet hatten, war er schon drei Mal unterwegs gewesen.

»Aber wie verwischt ihr eure Spuren?«, fragte Tabea. »Die müssen doch merken, wenn ihr einen Container benutzt habt!« Er grinste. »Betriebsgeheimnis«, sagte er. »Unsere Spuren sind ziemlich schwer zu finden, vor allem natürlich, wenn wir nicht geschnitten haben. Manchmal habe ich auch den Eindruck, sie wollen uns nicht mehr ausrotten wie früher. Sie würden es wahrscheinlich nie zugeben, aber bis zu einer gewissen Grenze tolerieren sie uns. Heißt aber nicht, dass das immer so bleibt.« Manchmal gab Nick anderen Rider-Gruppen sogar Tipps, welche Container besonders geeignet waren und mit welchen man sich besser nicht abgab.

»Du ahnst nicht, mit was für einem Schrott die in der Gegend rumfahren. Ich hab schon Container gesehen, da waren Löcher im Boden mit einem halben Meter Durchmesser. Da konnte man prima auf die Straße durchgucken. Man hört ab und zu, dass welche durchfallen.«

Nick gab sich wie seine Freunde ziemlich cool. Das gehörte bei einem Freerider anscheinend dazu. Nur einmal wurden sie an diesem Tag richtig nervös. Die Karawane verringerte wie immer ihre Geschwindigkeit, um eine neue Containereinheit aufzunehmen. Das war nichts Besonderes. Aber erstens wurde diesmal der Neuzugang nur drei Einheiten entfernt vom Basislager der Riders eingegliedert, zweitens erschien kurz danach wie aus dem Nichts ein sehr tief fliegender Hubschrauber, der die Karawane eine ganze Weile begleitete. Die Riders blieben reglos, sprachen kein Wort und lauschten angespannt auf alle Veränderungen in den Fahrgeräuschen. Endlich verschwand der Hubschrauber wieder.

»Wertguttransport«, sagte Danielle. »Der Hubschrauber war eine Warnung. Finger weg von der neuen Einheit. Zum Glück ist die Außenhaut der Container wärmer als wir, sonst hätten sie unsere Infrarot-Signaturen sehen können.«

 

 

Wenig später, sie mussten schon an Rom vorbei sein, hielt Danielle eine Rede.

»Okay, Leute. Ihr wisst ja eigentlich, worum es geht, aber weil wir Gäste haben, will ich noch mal ins Detail gehen. Wir sind ja freie Unternehmer.« Die Riders lachten. Tabea hatte das Gefühl, dass Danielle gerne Reden hielt und ihre Wirkung genoss. »Wir haben ein paar Waren dabei, die wir in den Süden bringen und dort gegen Sachen eintauschen, die wir wieder mit zurück in den Norden nehmen. Außerdem holen wir uns diesmal eine Belohnung dafür ab, dass wir unseren Freunden Björn und Tabea hier Geleitschutz in die Wüste geben.« Er sah Björn an und lächelte dabei unangenehm.

»Und was«, warf Tabea aus reiner Neugier ein, »bringt ihr eigentlich da runter? Und was bringt ihr wieder mit rauf?« Björn warf ihr einen warnenden Blick zu. »Das, liebe Tabea«, sagte Danielle mit einem Haifischgrinsen, »geht dich einen Scheißdreck an.« Er wandte sich wieder an die ganze Gruppe. »Eigentlich ist alles wie immer. Wir haben zwei Röntgencheckpoints, einen beim Verlassen des Festlandes, an der Brücke nach Sizilien, und einen, wenn es auf die Brücke nach Tunesien geht. Wir haben immer das gleiche Ziel: Erstens dürfen wir nichts von der Ware verlieren, zweitens niemanden von uns. Ihr habt ja gesehen, dass ein Wertguttransport in der Karawane ist, und das bedeutet, dass wir uns ganz besonders gut verdünnisieren müssen. Wir müssen uns und unser Basislager weiter nach vorn verpflanzen und dann so gut über drei oder vier Wagen verteilen, dass wir im Röntgenbild wie der übliche Müll aussehen, den man in leeren Containern findet: Paletten, Kartons, Abfall. Beim Verdünnisieren müssen wir natürlich unseren Gästen hier Hilfestellung leisten. Aber das wird schon klappen. Los, an die Arbeit!«

In Windeseile hatten die Riders ihren Kram handlich zusammengepackt und sammelten sich an einem Ende des Containers. So wenig Björn und Tabea auch dabeihatten, sie brauchten doch länger als die Riders. Als Danielle sich davon überzeugt hatte, dass es dunkel genug war, gab er den Befehl zum Aufbruch. Draußen schlug Tabea der Fahrtwind ins Gesicht. Die Straßen waren wieder schlechter geworden, Staub wirbelte um sie her, und sie band sich schnell ein Tuch vors Gesicht, um besser atmen zu können. Danielle legte die Marschordnung fest – sie und Björn liefen in der Mitte der Kolonne – und dann ging es los.

Bei den ersten drei Containern gab es keine Probleme. Der vierte war ein Kesselwagen für Flüssigkeiten und hatte keinen Umlauf an den Seiten. Man musste auf seinem Rücken lang. Schon die schmale Leiter nach oben gefiel Tabea gar nicht. »Okay«, schrie Danielle in den Wind, als sich alle auf der Plattform am Fuß der Leiter versammelt hatten. »Das ist jetzt nicht so schön. Wir kennen ja den Kesselwagenscheiß hier. Da oben ist nur ein schmaler Steg, an der linken Seite mit einem niedrigen Geländer gesichert.«

Tabea bemerkte, dass Danielle öfter in ihre Richtung sah. Das war wohl eine kleine Speziallektion für sie. Vor Björn hatte er mehr Respekt, weil der ihn schon einmal mit einem Messer bedroht hatte.

»Wir können da nicht laufen, sondern nur auf Knien robben. Ihr bleibt zusammen und haltet euch immer an dem Geländer fest, klar? Los geht’s.«

Er kletterte als Erster die Leiter hoch, dann kam Nick, dann Tommi, dann Tabea und Björn, dann Fedor, Ghazwan und ein Typ, dessen Namen sich Tabea immer noch nicht merken konnte, weil er nie was sagte. Die Leiter wirkte so zerbrechlich. Als Tabea auf dem Dach des Kesselwagens angekommen war, stockte ihr der Atem. Aus ihrer Perspektive sah es aus, als kniete sie gerade auf einer überdimensionalen Wurst, die an einer Schnur befestigt war und ziemlich schnell über die Straße gezerrt wurde. Der Kessel war riesig, und sie schätzte, dass sie sich auf seinem Rücken gut sieben Meter über dem Erdboden befand. Er rauschte viel zu schnell vorbei. Vor sich sah sie Tommis geduckten Schatten, der sich langsam an dem Geländer entlanghangelte. Hinter sich wusste sie Björn und die anderen. Sie blockierte den Steg, sie hielt den Verkehr auf. Okay, dachte sie sich und begann auf den Knien nach vorne zu rutschen. Sie hielt sich so eng ans Geländer, wie es nur ging, und nahm sich fest vor, ab sofort nicht mehr nach unten zu sehen. Sie war so etwa fünf Meter gerobbt, als Tommi vor ihr aufstand. Im Licht der Positionslampen zeichnete sich seine schwankende Silhouette ab. Sie wollte noch was sagen, rufen, eine Warnung, eine Frage, da breitete er seine Arme aus, als seien sie Flügel. Und dann schmierte er ab. Einfach so. Obwohl sie so schnell unterwegs waren, konnte Tabea doch das Geräusch hören, mit dem er unten auf der Straße aufkam: »Wump« machte es, wie bei einem Mehlsack, der aus Versehen feucht geworden war und beim Abtransport vom Gabelstapler fiel. Tabea wurde übel. Sterne tanzten vor ihren Augen. Das Einzige, was sie tun konnte, um nicht selbst abzustürzen, war, sich hinzulegen, flach auf den Bauch, den linken Arm um eine Strebe des Geländers geschlungen. Das Geschrei um sie herum bekam sie gar nicht richtig mit.

»Die zwei bringen uns Unglück«, sagte Fedor. Weil das die allgemeine Stimmung auszudrücken schien, wurde Björn langsam nervös. Er stand neben Tabea mitten in dem Container, in den die Gruppe nach Tommis Absturz eingedrungen war. Tabea hielt den Kopf gesenkt. Sie waren von den Riders umzingelt. »Was heißt hier Unglück?«, sagte Danielle. »Was soll das schon für ein Unglück sein, wenn einer so blöd ist, da oben aufzustehen und die Arme auszubreiten.«

»Wissen wir doch nicht, ob das stimmt, was die Kleine erzählt. Das mit den Armen hat sonst keiner gesehen«, sagte Nick.

Das war nicht gut. Björn hatte Nick eigentlich zu der Fraktion gezählt, die mit ihm und Tabea gut auskam. Und Danielle war vorsichtig geworden, weil er merkte, dass die Stimmung umschlagen konnte, wenn er sich weiter so offen auf die Seite der beiden Fremden stellte. Denk nach, dachte Björn. Lass dir etwas einfallen. »Er war betrunken.«

Diese Stimme hatte Björn noch nie gehört. Es war der Schweigsame, dessen Name er sich bisher nicht hatte merken können. Die Stimme war sehr hell und gehörte doch eindeutig einem Jungen. Eine seltsame Stimme.

»Völlig besoffen«, sagte die Stimme. »Ihr habt das nicht bemerkt, weil er Tricks draufhatte, um seine Fahne zu verbergen. Er wusste ja, dass wir das nicht mögen. Aber gesoffen hat er trotzdem. Aus einem Flachmann.«

»Was ist denn das für eine Scheiße«, sagte Nick wütend. »Tommi säuft sich zu und macht dann vom Kesselwagen den Flattermann? Und wieso? Erzähl das deiner Oma.«

»Ich weiß nicht, wieso!« Die Stimme des Namenlosen klang jetzt auch gereizt. »Ich weiß halt nur, dass er gesoffen hat! Jetzt tut doch nicht so, als wäre Tommi in letzter Zeit normal gewesen!« Das fand Björn jetzt beinahe zum Lachen. Was galt unter den Riders wohl als »normal«?

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er kauerte sich hin, das rechte Knie am Boden, das linke Bein angewinkelt, den linken Arm stützte er auf dem Knie auf, die Stirn legte er in die Hand. Es war die vorgeschriebene Trauerhaltung für Soldaten der EuroForce. Björn sprach das Abschiedsgebet für gefallene EuroForce-Soldaten. Es handelte von »letztem Opfer«, Mut und ewiger Ruhe. Björn murmelte die Worte, denn der Text schien nicht ganz zur Gelegenheit zu passen.

»Was machst du da?«, fragte Danielle, dieses eine Mal nicht souverän und cool.

»Ich bete«, sagte Björn, »für Tommi.«

Das brachte sie alle zum Schweigen. Man konnte die peinliche Stille fast mit Händen greifen, während Björn seine Litanei murmelte. Er wiederholte es mehrere Male, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Er hatte den Eindruck, dass Tabea unter seiner Vorstellung besonders litt, wahrscheinlich quälte sie sich mit Schuldgefühlen, weil sie Tommis Tod nicht hatte verhindern können, aber um sie würde Björn sich später kümmern. Nach dem Trauerritual stand er auf und schwieg. Nach einer Pause räusperte sich Danielle und sagte: »Also, der erste Checkpoint dürfte in etwa einer halben Stunde kommen. Ich denke, wir sollten uns vorbereiten.« Die meisten verzogen sich, Tabea setzte sich einfach hin und begrub das Gesicht in den Händen. Björn strich ihr übers Haar. Nach einer Weile sagte er: »Tabea, wir dürfen uns am Checkpoint nicht fangen lassen.«

Sie nickte. Als Danielle einmal an ihnen vorbeikam, klopfte er Björn auf die Schulter.

Unter der Decke war es stickig und zu warm. Tabea war ängstlich und verwirrt. Danielle und Nick hatten ihr mehrfach versichert, dass die Decken bestmögliche Sicherheit boten, sie warfen den Röntgengeräten Echos zurück, die ihr Versteck wie einen Haufen zurückgelassenen Abfalls aussehen ließen. »Denk daran«, hatte Danielle zu ihr gesagt, »die Karawane passiert in langsamer Fahrt verschiedene Röntgenstationen, und nur wenn die automatischen Systeme etwas Verdächtiges entdecken, schicken sie die BorderForce auf die Karawane. Sie bleibt manchmal auch noch, wenn die Karawane wieder volle Fahrt macht, manchmal steigen die Typen sogar erst am anderen Ende von Sizilien aus. Wenn du Stiefel oder andere fremde Geräusche hörst, die darauf hindeuten, dass die Soldaten an Bord sind, verhalt dich ganz ruhig. Du hast dann immer noch eine Chance, weil sie nie die ganze Karawane durchsuchen. Generell würd ich sagen: Immer schön mit dem Kopf unter der Decke bleiben und morgen bist du in Afrika.« Aber sie brauchte doch wenigstens Luft! Die Decke wog schwer und kratzte. Tabea musste sich sehr anstrengen, nicht zu niesen. Bewegung war auch schlecht. Wie überhaupt alles, was darauf schließen ließ, dass sie kein Abfall war, sondern ein blinder Passagier. Sie konnte nicht klar denken, wie sollte sie auch. Vor einer Stunde hatte sie zum ersten Mal einen Menschen sterben sehen. Waren da nicht Stiefel ganz in ihrer Nähe? Vorhin hatte ihr Herz nur geklopft, jetzt hämmerte es. Keine Frage, die Soldaten durchsuchten ausnahmsweise die ganze Karawane, Container für Container. Was hatte Danielle gesagt von einem »Wertguttransport«? Sie hörte Hubschrauberlärm, na klar, die wussten doch, dass die Riders an Bord waren, die wussten doch alles!

Schritte, das waren eindeutig Schritte. Björn wird auf einen Lastwagen verladen und endet in der Erlösungskammer, und ich komme in ein Heim – das war alles, was sie denken konnte. Die Schritte näherten sich. Sie hielt den Atem an und schloss die Augen. Jemand beugte sich über sie, sie konnte das Rascheln der Kleidung hören. Ein Ruck, die Decke wurde weggerissen. Sie öffnete die Augen. Fedor und Danielle. Fedor, dessen Glasauge ihr seltsamerweise erst jetzt auffiel, sagte: »Du hältst ja richtig gut durch!« Er beugte sich mit einem Pappbecher zu ihr herunter, aber obwohl sie schweißüberströmt und ausgedörrt war, schlug sie ihm auf die Hand, dass das Mineralwasser nur so durch die Gegend spritzte. »Arschlöcher!«, schimpfte sie. Beide lachten.

»Zwei Stunden Sizilien«, sagte Danielle, »dann Checkpoint Nr. 2.« Im Licht der Taschenlampe konnte sie zum ersten Mal die Tätowierung an seinem Unterarm erkennen: aufeinandergestapelte Totenköpfe vor tintenschwarzem Hintergrund. Seinen anderen Unterarm zierten Spinnennetze. Danielle grinste, als er bemerkte, dass Tabea die Tätowierungen anstarrte. Zuerst dachte sie, beim zweiten Mal würde es leichter für sie sein. Sie fand eine Position, in der sie sich bei Niesreiz die Nase zuhalten konnte, ohne sich groß zu bewegen. Sie dachte bei sich: Vielleicht sollte ich endlich Pläne machen, was überhaupt wird, wenn wir in Afrika sind. Wo wir hingehen. Was wir tun. Aber sollte das nicht Björn wissen? War nicht er der Erwachsene, war nicht er Soldat gewesen? Was würden sie essen? Wo würden sie unterkommen? Wie würden sie leben? Tabea hatte keine Ahnung, aber irgendwie gelang es ihr, über diesen Sorgen einzunicken. Wenige Minuten später wachte sie mit einem Ruck auf, weil die Karawane plötzlich abbremste. Tabea konnte es genau spüren. War das schon der zweite Checkpoint oder die vorgelagerte Röntgenstation? Wenn sie sich nicht täuschte, legt die Karawane jetzt einen Stopp ein, was nach Danielles Auskunft so gut wie nie vorkam. Die Angst kehrte zurück und wurde zur Panik, als Tabea Getrappel hörte, nicht von einem Paar Stiefeln, nicht von zweien, sondern von vielen. Also wimmelte es auf der Karawane nur so von Soldaten. Es gab Geschrei und Aufregung. Tabea war wie gelähmt. In ihren Ohren brauste es. Jeden Moment konnte die Decke weggezogen werden, jeden Moment konnte Tabea geschnappt und mit einem Sack über dem Kopf in einen Gefangenenwagen gesteckt werden.

Aber es geschah nichts dergleichen. Um Tabea herum war es auf einmal still. Ich bin allein, dachte sie. Alle anderen sind entdeckt worden, aber ich aus irgendeinem Grund nicht. Die Karawane fuhr wieder an, erst so langsam, dass sie es kaum spürte, dann immer schneller, bis das vertraute, ohrenbetäubende Gedröhn sie wieder umgab.

Und was jetzt?, fragte sie sich verzweifelt. Sie konnte hier nicht bis zur Ankunft in Tunesien liegen bleiben. Sie musste die Initiative ergreifen, so wie es ihr im Kurs für Allgemeine Lebenspraxis beigebracht worden war und wie es ihr Berater immer verlangt hatte. Es kann sein, dachte sie, dass die BorderForce-Soldaten noch auf der Karawane sind. Aber wenn ich mich einfach tot stelle, bringt das auch nichts. Ich muss wissen, was hier los ist. Sie warf die Decke ab und starrte mit pochendem Herzen ins Nichts. Der Container, in dem sie sich versteckt hatte, erwies sich im Schein ihrer Taschenlampe als völlig leer, von ein wenig Schmutz abgesehen. Draußen, auf dem Umlauf des Containers, fiel ihr vor allem der Geruch auf: Da war natürlich die Maschinen- und Ölmischung der Karawane, aber auch etwas Herberes, Pflanzliches, Steinigstaubiges. Kurz bevor sie die Kupplung zum nächsten Container erreicht hatte, ging ihr auf, dass es der Geruch Afrikas war. Und natürlich, es war viel wärmer als bei ihrer Abreise. Wie lange es schon her zu sein schien! In Wirklichkeit waren keine dreißig Stunden vergangen. Sie sprang hinüber, mittlerweile geübt im Wechsel von Container zu Container. Auch dieser hier, eine alte Rostbeule, die wahrscheinlich schon alles transportiert hatte, was sich überhaupt in Container verpacken ließ, war von den Riders besiedelt worden, das wusste sie. Immer auf der Hut vor einer BorderForce-Patrouille, suchte sie nach dem Einlass in den Container, in der Hoffnung, darin vielleicht Ausrüstungsgegenstände zu ergattern, die bei der Verhaftung der anderen übersehen worden waren. Sie hatte nur, was sie am Leib trug, und ihren Rucksack, sonst nichts. Sie fand den Einlass, der mit den scharfen Miniaturfräsen in die Blechwand des Containers geschnitten worden war, drückte ihn auf und zwängte sich durch. Dann knipste sie ihre Taschenlampe an – und stand inmitten der Riders. Danielle legte sofort einen Finger auf seine Lippen. Björn winkte sie wortlos zu sich her. So leise, wie es ging, setzte sie sich neben ihn. Er begann, in ihr Ohr zu flüstern.

»War eine andere Rider-Gruppe. Alle verhaftet. Wissen nicht, ob BorderForce noch hier. Nicht sprechen. Kein Licht.« Sie hatte die Taschenlampe bereits ausgemacht, schließlich war sie nicht von gestern.

Björn konnte es kaum fassen. Er saß auf dem Dach des Kesselwagens, von dem Tommi abgestürzt war, und sah hinaus auf die Weite des Meeres. Sie waren mittlerweile sicher, dass die BorderForce weg war. Sie hatten also tatsächlich ungeheures Glück gehabt, nur die andere Rider-Gruppe war entdeckt und verhaftet worden. Dass die Karawane danach so schnell weitergefahren war, führte Danielle auf den Container mit dem Wertguttransport zurück. Offenbar musste der um jeden Preis pünktlich ankommen und die BorderForce war einen Kompromiss eingegangen: Festnahme der Störer, die sie erwischen konnte, Stichprobendurchsuchung der restlichen Karawane bei sofortiger Weiterfahrt. Die Theorie wurde gestützt von der Tatsache, dass eine ganze Menge Rettungskapseln fehlten. Diese Kapseln waren an jeder fünften Einheit in der Karawane angebracht, und konnten von den Servicetechnikern und anderen Passagieren im Notfall genutzt werden, um bei voller Fahrt der Karawane »auszusteigen«: Die Kapseln funktionierten ähnlich wie ein Flugzeug-Schleudersitz, nur wurde man eben nicht nach oben, sondern zur Seite katapultiert. Von diesen Dingern fehlten zehn, also genau so viele, wie von einer größeren BF-Patrouille zum Abgang benötigt wurden. Für Danielle und die anderen stand fest: Die BFler waren nach der Durchsuchung mit den Rettungskapseln ausgestiegen, um nicht bis nach Tunesien mitfahren zu müssen.

Und jetzt saß Björn also auf dem Kesselwagen und genoss die Aussicht. Tabea war bei ihm. Zuerst hatte sie sich geweigert, aber auf seine nachdrückliche und sanfte Art hatte er sie dazu gebracht mitzukommen. Der Himmel war sternenklar, die Milchstraße ein helles Band. Ein phantastisch voller und großer Mond ging über ihnen auf und verwandelte das Meer in Quecksilber. Die riesige Brücke, die Sizilien und Tunesien verband, zog sich als dunkle Linie hin im silbernen Meer, und der Schwung, den sie da, weit hinten, auf Tunesien zu machte, war so elegant, dass er Björn ins Herz schnitt. Der Fahrtwind war ja zu stark, aber wenn er mit Tabea hätte sprechen können, hätte er gesagt: »Siehst du, das ist Freiheit!« Sein Kontakt zum Heiligen Netz funktionierte schon nicht mehr, seit sie in Italien gewesen waren. Ob das darauf beruhte, dass er einfach nicht mehr in Reichweite war, oder darauf, dass der Elektroschock seine Hardware so glücklich beschädigt hatte, war ihm egal. Er sah Tabea an. Die Haare flatterten ihr nur so ums Gesicht.

»Nein, können wir nicht«, sagte Danielle. »Und ich erklär dir auch, warum. Die Rettungskapseln sind verwanzt. Sie fangen schon an zu senden, wenn sie rausgeschleudert werden. Das macht Sinn, sie sind ja Rettungsboote für den Notfall, nicht? Es kommt vor, dass so eine Kapsel innerhalb von fünf Minuten von einem EuroForce-Copter geborgen worden wird. Die Bergung dieser Kapseln hat eine hohe Priorität, um die Servicetechniker zu beruhigen und alle anderen, die eventuell mal schnell aussteigen müssen. Und jetzt stell dir vor, du versuchst dich aus so einem Ding zu befreien, während schon ein Copter über dir kreist. Oder du hast es geschafft, bist draußen, und willst weglaufen, aber du weißt leider nicht, wohin. Die schnappen dich sofort. Keine Chance.«

»Aber in der Karawanserei wimmelt es wahrscheinlich von EF-Soldaten. Wie sollen wir da rauskommen?« Björn hielt an seinem Plan fest. Mit den restlichen Rettungskapseln von der Karawane zu fliehen, bevor sie an ihrem Bestimmungsort ankam, schien ihm unendlich viel attraktiver, als bis zur Karawanserei mitzufahren und dort nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Er machte sich nicht gern freiwillig zum Gefangenen. »Die Karawanserei ist eine kleine Stadt und eine Stadt bietet immer Unterschlupf. Ich gebe zu, es ist nicht einfach, aus dem Karawanenterminal rauszukommen. Ich weiß das, weil ich es schon oft nur ganz knapp geschafft habe. Der größte Vorteil ist der: Wenn du draußen bist, kann es wenigstens von da aus weitergehen. Mit der Rettungskapsel befindest du dich im Nichts. Oder direkt unter den wachsamen Augen einer EF-Coptercrew.«

Björn ließ das auf sich wirken. Er wollte nicht so einfach aufgeben. Danielle sprach mit ihm wie mit einem ahnungslosen Kind und das reizte ihn zum Widerspruch. Aber er musste aufpassen, sachlich bleiben.

»Kann man die Sendeeinheiten von diesen Rettungskapseln blockieren, bevor man sie benutzt?« Danielle seufzte. »Frag Nick. Wenn man an diesen Kapseln herummacht, fangen sie sofort an zu senden. Nick hat’s versucht und ist erst nach einem Jahr wieder aus dem Erziehungsheim zurückgekommen. Stimmt’s, Nickie?«

Nick, der übernächtigt und bleich war und mit seiner Seemannsmütze jetzt viel älter aussah, sagte: »Stimmt genau, Dani.«

»Du sollst mich nicht Dani nennen, weißt du doch.« Er wandte sich wieder Björn zu. »Vergiss die Rettungskapseln. Bringt nichts.«

Danielle stand auf, anscheinend hielt er das Gespräch für beendet. Er sah auf die Uhr und verließ dann grußlos den Container.

Tabea hatte zu dem Gespräch nichts beigetragen und hatte die ganze Zeit beinahe regungslos neben ihm gesessen; aber Björn schien es so, als wolle sie ihm etwas sagen, ihm die Hand auf die Schulter legen, ihn um Geduld bitten. Leise setzte sich Nick neben ihn.

»Weißt du, das stimmt mit dem Erziehungsheim. Und Danielles jüngerer Bruder Claude hat mal in Panik versucht, mit einer Rettungskapsel zu fliehen. Danielle hat ihn nie wieder gesehen. Sag nicht weiter, dass ich dir das erzählt hab.«

»Bestimmt nicht«, versicherte Björn. Ihm gefiel der Plan mit dem Terminal und der Karawanserei immer noch nicht. Immerhin würde es dunkel sein, wenn sie ankamen.