SAND
Er musste geschlafen haben, denn als er das nächste Mal in die Landschaft hinaussah, gingen ihre Silberschattierungen schon in ein schmutziges Ocker über: Der Morgen dämmerte. Björn weckte Tabea, die sich wehrte, weil sie zuerst ganz verwirrt war. »Ist gut«, beruhigte er sie, »ist gut«, und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie sah ihn mit großen Augen an. »Björn, wo sind wir?«
»Sicher bald da.«
»Stimmt genau«, meldete sich der Pilot. »Guten Morgen!« Da sah Björn links von sich kleine Krater in der Hülle des Gleiters aufblühen, die sich in einer schnurgeraden Linie bis zum Piloten fraßen. Der Mann wurde beinahe zerteilt und konnte nicht einmal schreien, bevor er starb.
Ein helles Singen erfüllte auf einmal die Kabine, die Maschine begann zu schlingern. Es dauerte eine halbe Sekunde, bis in Björns Gehirn die richtigen Nervenverbindungen schalteten und er begriff, dass sie getroffen waren. Dann schrie Tabea los, der Gleiter neigte sich gefährlich nach links, dann knallten um sie herum die Airbags. Der Aufprall war trotzdem hart, Björn verlor fast das Bewusstsein. Mühevoll befreite er sich aus den erschlaffenden Airbagresten und rollte sich herüber zu Tabea, die leise wimmerte. »Was… was…«
»Still. Wir sind abgeschossen worden. Der Pilot ist tot. Das war die EF. Die kommen jetzt runter und checken uns ab. Nimm das hier.« Er gab ihr sein Messer. »Leg dich flach hin, so flach wie möglich. Ich will sie überraschen.«
Björn zog seine Mitrailleuse und legte den Sicherungshebel um. Die Maschine ihrer Verfolger, ein klassischer EF-Patrouillencopter mit zwei Mann Besatzung, landete ziemlich nah. Weil er um keinen Preis {las Überraschungsmoment aus der Hand geben wollte, zog sich Björn vom Seitenfenster zurück und lauschte. Die Schritte der beiden Soldaten waren in der windstillen Morgenhitze der Wüste deutlich zu hören. Sie erwarteten offenbar keinen Widerstand und sahen deshalb auch keine Notwendigkeit, leise zu sein. Als der Erste von ihnen durch den gesprungenen Kunststoffmantel der Kanzel den toten Piloten betrachtete, eröffnete Björn das Feuer. Der Soldat stürzte, Björn zog nach rechts, um auch den zweiten zu erwischen, das helle Pfeifen der Mitrailleuse stach in seine Ohren. Die Dinger hatten noch immer den Nachteil, dass sie so höllisch laut waren. Ein anderes Pfeifen antwortete von draußen, zum Glück war der zweite Soldat, den Björn nicht erwischt hatte, verwirrt, und glaubte von dem Piloten beschossen worden zu sein, das Cockpit wurde noch einmal von Schüssen durchsiebt. Dann Schritte. Der zweite Soldat lief weg und Björn wusste genau, wohin: Wenn er den Copter in die Luft bekam, war alles verloren, mit seiner Bordkanone konnte er den havarierten Gleiter, Björn und Tabea buchstäblich pulverisieren. Und selbst wenn er das nicht vorhatte: Er durfte auf keinen Fall entkommen, um seinen Kollegen von dem abgeschossenen Gleiter in der Wüste zu erzählen. Björn ließ sich aus dem Wrack herausgleiten. Bevor er über das Dach hinweglugte, gab er eine kurze Salve in Richtung Copter ab, erst dann spähte er hinüber: Richtig, der Soldat sprang gerade in den Copter hinein und schloss die Einstiegsluke hinter sich. Björn versuchte ihn noch zu erwischen, bevor er ganz drin war, aber er schaffte es nicht. Schlecht, denn der Copter war so gut gepanzert, dass eine normale Mitrailleuse nichts gegen ihn ausrichten konnte. Der Soldat ließ die Turbinen an. Björn erinnerte sich daran, dass zwei Punkte an einem EF-Copter dieses Typs verwundbar waren: die Bordkanone selbst, die in einem drehbaren Gestell an seinem Bauch befestigt war, und das Fahrwerk. Es hatte früher eine ganze Reihe von Witzen über Designfehler wie diesen gegeben. Björn opferte den Rest seines ersten Magazins, um das Fahrwerk anzugreifen. Die Mitrailleuse pfiff; einige Querschläger, die von dem Rumpf des Copters abprallten, heulten durch die Luft. Zuerst glaubte Björn, daneben geschossen zu haben, und klickte das zweite Magazin ein, da kippte der Copter zur Seite, die Turbinen gaben ein hässliches Geräusch von sich, etwas splitterte und krachte, danach wurde es kurz still. Jetzt geriet der Pilot in Panik. Die Bordkanone hatte überlebt, aber weil der Copter auf der Seite lag, ließ sie sich nicht mehr um 360 Grad drehen, und Björn, Tabea und der zerstörte Gleiter lagen jetzt im toten Winkel. Trotzdem begann der Pilot zu schießen. Björn konnte das Mündungsfeuer der Waffe sehen, konnte sehen, wie der Pilot sie in eine Richtung zu drehen versuchte, in die sie sich nicht drehen ließ, und dachte: Dich krieg ich. Der erste Soldat, den Björn erwischt hatte, lag nicht weit entfernt. Jeder EFler in Afrika hatte immer zwei bis vier Granaten bei sich, die geworfen oder wie Minen angewendet werden konnten, mit einer Zündverzögerung bis zu einer Stunde. Björn musste die blutbesudelte Uniform durchwühlen, um dem Toten zwei seiner Granaten abzunehmen. Sie sahen wie zu groß geratene Pistolengriffe mit absurden Tellerchen am oberen Ende aus: Das waren die Haftflächen, mit denen man die Granaten überall ankleben konnte. Björn überschlug die Zeit, die er brauchte, um zum Copter zu laufen, die Granaten zu platzieren, zurückzukehren und hinter dem Gleiterwrack wieder in Deckung zu gehen. Er stellte den Zünder auf zwanzig Sekunden, drückte die Pistolengriffe einmal, um sie zu entsichern, und lief los. Es war fast zu leicht. Der Pilot, der immer noch mit seinem sinnlosen Geballer beschäftigt war, konnte ihm nichts anhaben, ja, er konnte ihn nicht einmal sehen. Tap, tap, tap, lief er in einem Halbkreis auf das Heck des Copters zu, der wie ein gestrandeter Wal auf der Seite lag. Er tauchte unter den Bauch der Maschine. Er kam der eingeklemmten, aber immer noch feuernden Bordkanone ziemlich nahe, er musste sich sogar ducken, um vom Regen der ausgestoßenen Patronenhülsen nicht getroffen zu werden. Schnell eine Granate angeheftet, dann die andere. Noch zehn Sekunden. Er drehte sich um. Abhauen!, dachte er. Und da sah er etwas, was sein Herz stillstehen ließ: Neben dem Gleiterwrack war eine Gestalt aufgetaucht. Sie schwankte ein wenig, dann taumelte sie los, vage in die Richtung des havarierten Copters und langsam in das Schussfeld der Bordkanone hinein.
»Tabea!«, brüllte Björn und rannte los. Die Zeit wurde zu Gelatine. Er wusste, es ging um jede Sekunde, er beschleunigte, er lief, so schnell er konnte, aber wie in dem bösen Traum, der bis vor Kurzem sein Zombiealltag gewesen war, schien er kaum vom Fleck zu kommen. Sie blieb stehen. Er schlug einen Haken, rannte nun von der Seite her auf sie zu und riss sie in dem Moment zu Boden, in dem die Granaten losgingen. Die Explosionen waren überraschend leise. Ein paar Splitter trafen auch das Gleiterwrack, es prasselte um sie herum. Die Bordkanone hatte aufgehört zu schießen. Alles hatte aufgehört. Seit dem Angriff der EF-Patrouille waren vielleicht drei Minuten vergangen. Irgendetwas ist hier ganz falsch, dachte Björn. Er rollte von Tabea herunter, die er mit seinem Körper vor der Explosion geschützt hatte. Sie zitterte, ihr Blick war starr in den heißblauen Himmel gerichtet.
»Tabea«, flehte Björn, aber sie reagierte nicht. Er atmete so schwer, das kannte er gar nicht von sich. Vielleicht steht sie unter Schock, dachte er, oder eher ich? Er setzte sich auf. Dann fiel ihm ein, was hier ganz falsch war. Beide Fahrzeuge waren zerstört. Das eine durch den Angriff der EF-Soldaten, das andere durch ihn. Sie saßen hier fest, in der Wüste, die sich aufheizte wie ein leerer Topf auf einer voll aufgedrehten Herdplatte. Ja, die Hitze, dachte er. Es muss unwahrscheinlich heiß sein. Aber warum ist mir dann so kalt? Er blickte an sich herab. Seine ganze Hose war voller Blut. Sein eigenes Blut. Man hatte ihn getroffen. Irgendwann während des Gefechts war er getroffen worden und hatte es gar nicht gemerkt. Und die Kälte, die er spürte, kam von dem Blutverlust. So war das. Ach, und da kam schon das Schwarzweißsehen. Kurz vor dem Verbluten, das wusste er, sah man keine Farben mehr, das hatte mit einer Unterversorgung der Stäbchen in der Netzhaut zu tun, oder waren es Zäpfchen? Ich sterbe, dachte er, und fiel hintenüber.
Tabea hatte schon den Absturz nicht mehr richtig mitbekommen. Es war alles viel zu schnell gegangen, und als ihr Björn das Messer in die Hand gedrückt hatte, lag ihr Traum eigentlich noch gar nicht richtig hinter ihr, von Zuhause hatte er gehandelt. Und dann die Schießerei. Sie kannte die Geräusche alle. Sie hatte genug Kriegsfilme gesehen, um das alles zu kennen – wie man halt etwas aus Filmen kannte. Sie umklammerte das Messer. Wenn einer der Feinde hier hereinkam, in das Wrack des abgestürzten Gleiters, dann konnte sie immer noch nach ihm stechen. Björn war verschwunden. Draußen pfiffen diese kleinen Maschinenkanonen, wie hießen die noch mal, diese Mitrailleusen, und dann etwas, das nach größerem Kaliber klang. Sie wollte zu Björn. Packte das Messer noch fester, krabbelte irgendwie aus dem Gleiterwrack. Da war er ja. Machte irgendwas an dem Copter, während der Pilot wild in die Luft schoss. Da kam Björn schon auf sie zugerannt, riss sie um und erdrückte sie fast mit seinem Gewicht. Zwei kleine Explosionen. Dann Stille. Sie setzte sich auf. Björn lag neben ihr, er war voller Blut. Sie beugte sich zu ihm herunter und konnte ihn murmeln hören: »Medikit, Wasser«. Diese beiden Wörter murmelte er immer wieder vor sich hin. Sie musste ihn als Erstes in den Schatten ziehen, denn der Sand kochte. Sie warf das Messer hin. Sie packte ihn und zerrte wie eine Verrückte. Sein Körper bewegte sich nur zentimeterweise, aber sie schaffte es. »Medikit, Wasser.« Er blutete stark und brauchte deshalb eines dieser Armee-Medikits, mit deren Hilfe auch starke Blutungen gestillt werden konnten.
»Copter«, hauchte er. Da hat er wohl recht, dachte sie mechanisch. Sie rappelte sich auf. Ihre Knie waren weich. Sie wankte auf den gesprengten Copter zu. Vom Cockpit war nicht mehr viel übrig. Sie krabbelte hinein und zerschnitt sich dabei die Hände am zerbrochenen Glas der Kanzel, ohne es richtig zu merken.
Der Boden hatte Schlagseite, weil der Copter gekippt war, und es war nicht einfach, von dem zerstörten Cockpit aus in den kleinen Laderaum zu gelangen. Sie hielt sich an allem fest, was sie greifen konnte, und rutschte auf Knien durch die Trümmer. Sie fand das rote Kreuzzeichen auf der Tür eines kleinen, in die Wandverkleidung der Kabine eingelassenen Kabinetts. Beim Versuch, die Tür zu öffnen, brach sie sich zwei Fingernägel ab, bevor sie merkte, dass sie nur einen einfachen Drehgriff bedienen musste. Im Kabinett befanden sich tatsächlich zwei Medikits, für jedes Besatzungsmitglied eines. Die Kits konnten wie Rucksäcke getragen werden. Tabea hängte sich eines vor die Brust und eines auf den Rücken.
Es wurde seltsam dunkel und kühl, aber sie durfte jetzt nicht ausruhen. Zuerst musste sie verhindern, dass Björn starb. Das war das Allerwichtigste.
Sie öffnete den Rucksack und nahm das Medikit heraus. Das schwere und unhandliche Paket sprang an der Oberseite von selbst auf und gab einen grünen Knopf frei, neben dem in Euro und in allen europäischen Hauptsprachen das Wort »Aktivierung« stand. Sie drückte den Knopf. Die Decke des Kits wölbte sich, höher und höher, und veränderte ihre Farbe von schwarz zu dunkelgrün. Dann schaute plötzlich am vorderen Ende der teigartigen Masse, die über den Medikitbehälter hinauszuquellen drohte, ein Kopf heraus, der überraschende Ähnlichkeit mit dem einer Raupe hatte – allerdings einer Raupe von monströsen Ausmaßen.
Angewidert wich Tabea zurück. Die Raupe richtete ihren grotesken Körper auf und pendelte zwischen Tabea und Björn hin und her. Das Wesen schien sich für eine Weile nicht entscheiden zu können, um wen es sich zuerst kümmern sollte. Dann handelte es. Mit der Geschmeidigkeit eines Tausendfüßlers glitt es aus dem Medikit heraus, kroch an Björns linkem Bein hoch, umklammerte den Oberschenkel, blähte sich noch einmal leicht auf und senkte ein gutes Dutzend seiner Füße, die in Wirklichkeit Injektionsnadeln waren, tief in Björns Haut und in seine Venen. Anfangs zuckte und stöhnte Björn, doch bald zeigten die Schmerz- und Beruhigungsmittel ihre Wirkung. Dann kamen die Infusionen: Kunstblut, Wasser, Nährlösung, Elektrolyte.
Auf einmal klingelte es. Tabea brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass das Klingeln aus dem zweiten Medikit kam. Sie öffnete es und sah neben dem grünen Knopf einen gelben Warnhinweis pulsieren: »Unterstützungseinheit – sofort aktivieren.« Der grüne Knopf leuchtete, sie drückte ihn. Der zweite Tausendfüßler blähte sich auf, glitt aus seinem Behälter und machte sich über Björns anderes Bein her. Kein Zucken diesmal, denn er wurde gerade in chemischem Glück gebadet. Tabea sah zu, wie die Automaten ihre Arbeit machten. Sie fand das alles so widerlich, aber zugleich so faszinierend, dass sie beinahe die Veränderungen um sie herum übersehen hätte. Als es sehr dunkel geworden war und das ferne Grollen sich zu ohrenbetäubendem Lärm gesteigert hatte, ein Lärm, der sich durch Sand und Geröll, ja, durch die Erde selbst fortzupflanzen schien, blickte Tabea auf.
Der Himmel nahm mehr und mehr die Farbe von Asche an. Ein Dunstschleier hing vor der Sonne. Tabea hatte keine Ahnung, was los war, Angst schnürte ihr die Kehle zu. »Tabea!« Björn hatte die Augen geöffnet. Er wirkte nicht mehr wie ein Sterbender, wenn seine Stimme auch schwach war. »Wir müssen irgendwie in den Gleiter rein. Der Sandsturm wird bald hier sein.«
Tabea zog und Björn strampelte. Er wusste ganz genau, dass er sich nicht bewegen sollte, weil die Medikit-Tausendfüßler mit ihrer Arbeit nicht fertig waren. Sie waren dabei, Flüssigkeiten auszutauschen und hatten sich noch nicht in Stützverbände verwandelt, die die Wunden schützten und versorgten. Aber er hatte keine Wahl, er musste sich und Tabea in Sicherheit bringen. Panik stieg in ihm auf. Während seiner Ausbildung zum Sahara-Kämpfer war er einmal mit seinem Bataillon in einen Sandsturm geraten, und obwohl sie gut vorbereitet worden waren und die erforderliche Ausrüstung dabeigehabt hatten, war einer seiner Kameraden im tosenden Sand erstickt. »Los«, schrie er, so laut er konnte, »rein in den Gleiter!«
»Ich mach, so schnell ich kann«, schrie Tabea zurück. Der Wind um sie herum heulte und das Prasseln der Sandkörner schwoll bedrohlich an. Mit großer Anstrengung hievte sich Björn an der Einstiegsöffnung des Gleiters auf die Knie. Über das Heck des zerstörten Fahrzeugs hinweg sah er den Sandsturm kommen: eine mehrere hundert Meter hohe, gelbgraue Wand mit Ausläufern und Einbuchtungen, die auf sie zukam. Tabea ist drin, dachte Björn, und seine Angst gab ihm die Kraft, selbst durch die Einstiegsöffnung hindurch ins Innere zu rutschen. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, schrie er, als er gegen den Winddruck mit letzter Kraft die Luke schloss. »Die Sandfilter!«, brüllte er.
Tabea starrte ihn verständnislos und verschreckt an. »Sandfilter!« Seine Stimme überschlug sich. »Im Cockpit. Über dem Pilotensitz!«
Tabea kroch nach vorne. Björn sah, wie sie versuchte, die kleine Klappe über dem Pilotensitz zu öffnen, auf der ein rotes Kreuz aufgedruckt war. Als sie die Klappe aufbekam, fiel der ganze Inhalt heraus.
»Die weißgrauen Dinger!«, brüllte Björn. »Die mit dem Knubbel vorne drauf. Zwei davon! Und die Taschenlampe!« Das Tosen des Windes wurde immer lauter. Tabea klaubte um den toten Piloten herum alles vom Boden auf, was sie in die Finger bekommen konnte, und kam dann zurückgekrochen. Sie stülpten sich die Sandfilter über, die ähnlich wie Gasmasken Augen, Mund und Nase schützten. Und dann war der Sturm über ihnen. Unbeschreiblich die Dunkelheit. Das Zischen und Pfeifen des Sandes. Der Gestank – Björn war noch nie in der Nähe eines Vulkans gewesen, aber bei diesem erstickenden schweflig-staubig-steinigen Geruch in der Nase dachte er an Vulkanasche. Es fühlte sich an, als ginge ein gigantisches Sandstrahlgebläse über sie hinweg. Jeden Moment konnte die beschädigte Hülle des Gleiters weggerissen werden. Björn sah die Medikit-Tausendfüßler an seinen Beinen blinken, sie gaben Zustandsmeldungen von sich. Das war das einzige Licht; seine Taschenlampe wagte er nicht einzuschalten, um ihre Batterien zu schonen. Tabea lag zitternd neben ihm, aber was sollte er machen, er zitterte ja selbst. Sandstürme dauerten manchmal Tage. Er hatte niemanden, zu dem er beten konnte. Nach fünf oder sechs Stunden war es vorbei. Zuerst merkte er gar nicht, wie still es nach dem Sturm war, denn in seinen Ohren wollte das Zischen und Fauchen nicht aufhören. Sein Sandfilter war so verstopft, dass er nur noch schwer Luft bekam. Er zog sich das Ding herunter und schaltete die Taschenlampe ein. Überall Sand. Tabea, halb verschüttet, antwortete zunächst nicht, als er nach ihr rief. Dann hörte er ein trockenes Husten, sie richtete sich auf, Sand rieselte von ihrem Körper herab, schließlich schob sie den Filter hoch. Grauer Staub bedeckte ihr Gesicht dort, wo es die Maske nicht abgedeckt hatte. Wortlos fiel sie Björn in die Arme.
»Alles vorbei«, sagte er, und er schämte sich für seine Worte, weil sie so unglaubwürdig klangen. Was sollte er ihr denn sagen? Dass sie so gut wie tot waren? Dass sie entweder verdursten oder von der EF geschnappt würden? »Hör mal«, sagte er, »ich will nachsehen, ob in dem Copter vielleicht noch irgendwo Wasser ist. Kann ich dich hier allein lassen?«
»Und was ist mit deinen Verletzungen? Besser, ich gehe.«
»Nein, du weißt nicht, wo du suchen musst. Ich bin okay.« Das war nur die halbe Wahrheit. Björn hatte starke Schmerzen, weil die Wirkung der Medikamente langsam nachließ. Wundheilung tat nun einmal weh, auch wenn medizinische Roboter sie mit tausend Mittelchen und Tricks unterstützten. Als er aus dem Wrack kletterte, merkte er, dass der tote Pilot bereits nach Verwesung roch, er würde ihn bald begraben müssen. Draußen ging die Sonne unter. Da der Sturm die Hitze des Tages mit sich genommen hatte, die Luft noch sehr dunstig war und die Sonnenstrahlen dämpfte, waren wenigstens die Temperaturen erträglich.
Zuerst zog Björn den Soldaten, den er erschossen hatte, an den Beinen aus dem Sand. Dann durchsuchte er die Leiche. Außer zwei Ersatzmagazinen für seine Mitrailleuse, einer halb vollen Wasserflasche und einer weiteren Taschenlampe war nicht viel zu holen. Den würde er nicht begraben, den würde er einfach in der Wüstenluft vertrocknen lassen. Das Copterwrack war von dem Sturm verschoben worden, es lag jetzt näher an dem Gleiter. Björn fand die Wasser-Notrationen unter dem Boden der Kabine und schleppte die beiden Zwanzig-Liter-Tanks mühsam nach draußen. Vierzig Liter. Das reichte bei härtester Rationierung für vielleicht sechs Tage.
Dass er umzingelt war, merkte er erst viel zu spät. Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht: fünf Gestalten in Tarnfarben, die Gewehre im Anschlag. Er hob die Hände. Seine Arme zitterten vom Tragen der Wassertanks. »Ruf die Kleine«, befahl einer von ihnen. »Tabea!«, rief Björn. »Komm bitte raus! Wir sind umzingelt. Hab keine Angst! Komm bitte raus!«
Tabea steckte den Kopf durch die Einstiegsluke an der Seite des Gleiters und stieg sofort aus.
Als sie neben Björn stand, ebenfalls mit erhobenen Armen, sprach einer der Kämpfer leise in ein Funkgerät, das er sich dicht an den Mund hielt. Der Mann sprach Arabisch, daher konnte Björn nicht viel verstehen, außer: »Wir haben sie!« Eine Weile verstrich, bis drei bizarre Wagen auftauchten. Sie hatten sechs walzenförmige Räder, waren fast so flach wie der Gleiter, anscheinend gepanzert und sehr, sehr leise für Fahrzeuge dieser Größe. Jedes trug auf dem Dach ein kleines Geschütz. Björn konnte keine Scheinwerfer sehen. Das Einzige, was ihm beim Anblick dieser Dinger einfiel, waren die uralten russischen Mondautos, die er einmal in einem Intro gesehen hatte. Eines der Gefährte wendete, am hinteren Ende öffnete sich die Ladeklappe. Man konnte das schwach erleuchtete Innere sehen, offenbar war dort Platz für sechs bis sieben Leute. »Ihr könnt die Arme jetzt runternehmen«, sagte der Wortführer der Angreifer in amüsiertem Ton. »Rein da. Los!« Björn und Tabea gehorchten, die Kämpfer stiegen ebenfalls ein und der Wagen setzte sich in Bewegung.
Sie saßen wie in einem Truppentransporter, auf zwei Sitzbänken entlang der Außenwand. Da der Wagen so niedrig war, mussten sie die Köpfe einziehen. Die Kämpfer stützten sich dabei auf ihren Gewehren ab, abgesehen von dem einen, der seine Waffe auf Björn und Tabea gerichtet hielt. Es roch ein wenig muffig, nach abgestandenem Schweiß. Björn war fasziniert von dem Wagen. Ungeheuer leise war er, aber die Beschleunigungs- und Bremsphasen ließen darauf schließen, dass er sehr schnell fuhr.
»Und ihr habt uns also die ganze Zeit beobachtet?«, fragte er den Kämpfer, der ihm gegenübersaß. Ein kleiner, drahtiger und braun gebrannter Mann mit ziemlich tiefen Falten im Gesicht, sicher schon über vierzig. Er schüttelte nur verdutzt den Kopf, statt seiner antwortete der große breitschultrige Kerl neben ihm.
»Warum glaubst du das?«
»Weil ihr genau wusstet, dass noch jemand in dem Wrack war. Wie habt ihr das gemacht, uns die ganze Zeit zu beobachten, ohne dass ich es bemerke? Da gab’s doch nichts zum Verstecken.«
»Tja, vielleicht bemerkst du nicht sonderlich viel, bis es zu spät ist? Wir sind halt Spezialisten«, sagte der Breitschultrige. Björn hatte eine Idee, die er testen wollte. »Diese Wagen können sich irgendwie unsichtbar machen, stimmt’s?« Er wusste, dass die EF an solchen Technologien gearbeitet hatte, die fast ausgereift gewesen waren, als ihn damals die Mine erwischt hatte. Vielleicht waren diese Leute, die offensichtlich nicht zur EF gehörten, sondern zum Widerstand, unabhängig von diesen Forschungen auf einen solchen Trick gekommen. Der Breitschultrige runzelte die Stirn. Er sagte etwas auf Arabisch zu dem Typ, der direkt neben Björn auf der Bank saß. Der antwortete zu schnell, Björn konnte nichts verstehen. Dann sagte der Breitschultrige gelassen zu Björn: »Halt’s Maul.« Also hatte ich recht, dachte Björn. Irgendwie können sich die Dinger unsichtbar machen.
»Und wie werden sie angetrieben? Ich höre gar nichts? Scheinwerfer habt ihr wohl auch keine. Wie orientiert ihr euch? Benutzt ihr das Magnetfeld der Erde? Zapft ihr Galileo an?« Der Breitschultrige sah an ihm vorbei und antwortete nicht. »Wo bringt ihr uns hin?«, fragte Björn weiter. »Wirst du schon sehen«, sagte der Mann, der vorher ins Funkgerät gesprochen hatte, und jetzt neben dem Breitschultrigen saß. »Jetzt halt aber endlich die Klappe!«
Eigentlich sehr freundlich, diese Leute, dachte Björn. Bei der EF hätten Gefangene nicht so lange quatschen dürfen, ohne bestraft zu werden.