KARAWANSEREI

 

 

 

Sie versteckten sich in der letzten Einheit, warteten, bis die Kräne und die Bedienmannschaften eine Pause machten, bemalten sich die Gesichter schwarz, zogen ihre Rucksäcke auf, spähten vorsichtig umher, dann kletterten sie los. Tabea verließ den Container nur ungern, als sei die Karawane in den letzten Tagen eine Ersatzheimat für sie geworden, eine Schutzhaut gegen die Welt. Große Scheinwerfer erhellten das Terminal, aber die Flüchtenden nutzten die Schatten zwischen den langen Karawanen-Lastzügen als Deckung, während sie von Rad zu Rad hasteten, immer in Gefahr, von patrouillierenden Soldaten oder automatischen Alarmeinrichtungen entdeckt zu werden. In den kurzen Pausen zwischen den Etappen hörte Tabea ihren eigenen Atem, der laut und stoßweise ging. Trotz aller Aufregung registrierte sie, dass Danielle wusste, was er tat. Schon bald nahm sie die Wüste stärker wahr: die trockene Luft, die erfüllt war von steinigen und sandigen Gerüchen, den Gerüchen der Trockenheit. Aus der Ferne hörte sie leise Echos vom Nachtleben der Karawanserei. Am vorderen Ende der Karawane angekommen, konnte Tabea den stacheldrahtbewehrten und in seiner ganzen Länge beleuchteten Zaun des Karawanenterminals sehen.

»Okay«, flüsterte Danielle. »Wir machen jetzt einfach Folgendes: Wir rennen, so schnell wir können, zu dem Zaun. Dann schneiden wir uns durch. Sobald wir damit anfangen, geht der Alarm los. Davon dürfen wir uns nicht beeindrucken lassen.

Wir schneiden uns durch. Wenn wir auf der anderen Seite sind, verteilen wir uns wie üblich in der Karawanserei. Nick, du nimmst Tabea und Björn zum Weißen mit, die anderen gehen zu ihren…«

»Warum zum Weißen?«, zischte Nick. »Du weißt doch, dass…«

»Mach’s einfach«, zischte Danielle zurück. »Nachher wie immer Treffpunkt im Basar. Los.«

Es war viel weiter, als Tabea gedacht hatte, die tänzeln und fliegen und leise sein wollte, sich aber bei jedem Schritt wie ein schwerfälliger Dinosaurier vorkam. Sie hätten es beinahe geschafft. Aber als sie schon am Zaun waren, als sie gerade ihre kleinen, giftig scharfen Fräsen ansetzen wollten, schrie jemand: »Halt!«

Ein EuroForce-Soldat. Er war allein, aber er sah mit seiner Carbonfiber-Rüstung, seinem schwarzen Helm und dem Gewehr beeindruckend genug aus, um sie alle erstarren zu lassen. Björn, dachte Tabea, wo ist Björn?

»Na, was ist das denn?«, sagte der Soldat auf Euro. »Kleine Wüstenratten. Ein ganzer Haufen davon. Hände hoch, aber zackig!«

Alle streckten die Hände hoch. Keine bedeutungsvollen Blicke, keine Fluchtvorbereitungen. Niemand wollte den Soldaten dazu provozieren, den Abzug zu drücken. Er machte einen Schritt auf sie zu, stolperte und fiel der Länge nach hin. Sein Körper wand sich in Zuckungen und aus dem schmalen Stück Hals zwischen seinem Helm und seinem Nacken ragte der Griff eines Messers. Da war Björn, der sich bückte, das Messer aus dem Hals des Soldaten zog, da war Björn, der den immer noch zuckenden Soldaten mit seiner Stiefelspitze umdrehte, der das Gewehr und die beiden Ersatzmagazine an sich nahm, die der Soldat bei sich getragen hatte. Es war alles wie im Traum.

Schließlich sagte Björn ruhig: »Jetzt aber schnell.« Danielle und die Riders reagierten. Sie schnitten den Zaun auf, sofort heulte der Alarm los. Tabea war benommen, Björn musste sie durch das Loch im Zaun ziehen.

 

 

Der Weiße war ein Albino: weiße Haare, weiße Augenbrauen, rötliche Augen. Am Eingang trat er wortlos zur Seite und ließ sie herein. Sofort verschloss er die Tür wieder, die zwar auf den ersten Blick ausgesehen hatte, als sei sie nur aus trockenem Holz, deren klickendes Schließgeräusch aber eine dicke Panzerung verriet. Kaum hatten sie in dem geräumigen Salon Platz genommen – es gab sowohl europäische Stühle als auch orientalische Kissen –, neigte der Weiße den Kopf und schloss die Augen wie beim Empfang eines Intros, öffnete die Augen wieder, nickte und sagte dann abrupt: »Ihr könnt hier nicht bleiben.«

»Warum?«, begehrte Nick auf.

»Es ist etwas geschehen«, erwiderte der Weiße und sah dabei unverwandt Björn an. »Bei einem unerfreulichen Zwischenfall im Karawanenterminal wurde ein EuroForce-Soldat getötet.«

»Draußen ist es gefährlich für uns«, entgegnete Nick. »Hier drinnen ist es noch viel gefährlicher«, sagte der Weiße. »In einer halben Stunde spätestens wird es hier eine Razzia geben, weil die EF nach den Mördern suchen wird. Es ist ja bekannt, dass sie Todesfälle in ihren Reihen besonders ernst nimmt.«

Nick legte ein schmales Päckchen auf den Tisch. »Werd glücklich damit«, sagte er bitter und stand auf. »Ich kann nichts dafür«, entgegnete der Weiße höflich. »Diese Situation hat allein derjenige zu verantworten, der den Soldaten getötet hat. Bitte richte Danielle meinen großen Dank aus.«

Dann klatschte er in die Hände. Zwei Männer, schlank, dunkelhaarig, in europäische Anzüge gekleidet, traten ein. Björn sah sofort, dass sie bewaffnet waren. »Bringt die drei bitte zum Basar. Unauffällig.« Die beiden Männer bewegten sich mit der Sicherheit kaltblütiger Profis, als sie die drei durch ein kleines Labyrinth aus Treppen, Hinterzimmern und Gängen zu einer Tür führten, durch die vielstimmiges Gemurmel hereindrang. »Zieht das hier an.« Einer der beiden Anzugträger verteilte lange Umhänge und weiße Häkelmützen, wie die Muslime sie trugen. Tabea ermahnte er: »Lass dich nicht in Männerkleidern erwischen. Sprich so wenig wie möglich, lass niemanden merken, dass du ein Mädchen bist. Wir sind hier zwar ziemlich liberal, aber so liberal nun auch wieder nicht.« Er öffnete die Tür und das Stimmengewirr wurde sofort lauter. An Björn gewandt sagte er: »Raus jetzt mit euch!«

Die Tür schloss sich hinter ihnen und sie standen zu ihrem Erstaunen schon auf dem Basar der Karawanserei. Nick wollte sich in Taschendiebmanier sofort zwischen den Verkaufsständen, den Tee-, Falafel- und Limonadenbuden verkrümeln, aber Björn hielt ihn zurück. Das war zwar eine gute Strategie für einen Einzelnen, aber nicht für eine Gruppe. Björn wusste, dass seine ehemaligen Kollegen von der EF zuallererst hier suchen würden. Er kannte ihre Taktiken und wusste, dass man mit einem brauchbaren Suchmuster selbst einen Ameisenhaufen wie diesen Basar relativ schnell durchkämmen konnte, vorausgesetzt, er war nicht zu groß. Und hier, zwischen all den Ständen, waren sie zwar durch die Menge geschützt, aber auch in ihr gefangen. Deswegen wollte Björn, dass sie sich eher am Rand aufhielten, von wo aus man schnell in die umliegenden Gassen flüchten konnte. Auch hoffte er, früher oder später auf Danielle und die anderen zu stoßen, er wusste ja, dass auch sie hier irgendwo sein mussten. Die Zeit lief, bald würde die EF ausrücken und ernsthaft mit der Suche nach dem Mörder beginnen. Björn fühlte das Gewicht des Gewehrs unter seinem Umhang. Er war froh, dass es sich um eine Mitrailleuse neuerer Machart handelte, eine furchtbare Waffe, die winzige Geschosse mit unglaublichem Druck in die Gegend schleudern konnte. Pro Sekunde mehrere Hundert davon. Björn war entschlossen, sich zu verteidigen, koste es, was es wolle. Sich selbst und Tabea. Sie umkreisten den Markt gegen den Uhrzeigersinn. Hier und dort besuchten sie einen Stand, versorgten sich mit Proviant, zogen sich aber wieder schnell an den Rand des Geschehens zurück. Björn interessierte sich nicht für die Gerüche, nicht für die Menschen oder die Waren. Er musste den Überblick über das Terrain behalten. Sein rechter Zeigefinger befand sich immer am Abzug der Mitrailleuse.

Als sie sich kurz in eine kleine Seitengasse zurückzogen, um ein wenig zu verschnaufen, sprach Tabea ihn an. Ihre Stimme zitterte. »Du hast ihn umgebracht.«

Er blickte die Gasse hinunter. »Ich habe schon viele Menschen umgebracht«, flüsterte er. »Ich war Soldat.«

»Du hättest ihn doch umhauen können oder so was.«

»Das war zu gefährlich. EF-Soldaten in dieser Rüstung kann man nicht so leicht niederschlagen. Aber es gibt eine Schwachstelle am Nacken, die musste ich ausnutzen. Ich hatte keine andere Wahl.«

»Du hast ihn umgebracht«, wiederholte Tabea, diesmal dem Weinen nahe.

»Was soll das?«, fragte Nick. »Hast du noch Mitleid mit diesem Schwein? Der hätte uns eingebuchtet, für immer.«

»Du hältst die Klappe«, gab Tabea zurück.

»Tabea, du wolltest, dass wir fliehen.« Das brachte sie zum Schweigen.

»Also los«, kommandierte Björn, »zurück zum Markt!« Nach wenigen Schritten wurden sie von einem humpelnden Bettler angesprochen, der sein Gesicht unter einer großen Kapuze verbarg.

»Ein Euro, der Herr«, sagte er zu Björn, und als dieser ihn zur Seite schieben wollte, rief er winselnd: »Ein paar Cent, der Herr, nur ein paar Cent.«

Björn wollte gerade rabiat werden, da trat der Bettler noch näher zu ihm heran und zischte: »Spiel mit.« Da erkannte Björn Danielle und befahl Nick: »Also gut, gib ihm was, damit er sein Maul hält.«

»Danke, der Herr, zu gütig, der Herr«, näselte Danielle, der seine Rolle so gut spielte, dass Nick und Tabea erst jetzt ein Licht aufging.

»Jetzt verzieh dich, sonst mach ich dir Beine!«, knurrte Björn. »Tausend Dank der Herr«, sagte Danielle, »vielen, vielen Dank. Ich sehe, der Herr ist fremd hier in El Dschaem. Brauchen der Herr vielleicht einen Schlafplatz?«

»Schon möglich«, entgegnete Björn, wobei er den Nachdenklichen markierte. Allerdings gehörte die Schauspielerei, das hatte er schon früher gemerkt, nicht zu seinen Stärken. »Dann müsst ihr mitkommen«, rief der Bettler begeistert. »Ich weiß was für euch.«

Und er humpelte weg, ohne sich nach Björn, Nick und Tabea umzusehen.

Jetzt ging es hinein in eine besonders schmale, dunkle Gasse, die nur hier und da von einigen Laternen erleuchtet wurde, zwischen den stummen Häuserwänden aufgespannt wie Lampions. Das Kopfsteinpflaster war schadhaft, sie mussten aufpassen, dass sie nicht stolperten. Björn entdeckte Graffiti in Arabisch und Euro an den Wänden, die wie politische Parolen aussahen, es roch nach Katzenpisse.

»Kommt mit«, rief Danielle von vorne, »folgt mir, meine Freunde!«, aber Björn hatte plötzlich ein komisches Gefühl. Die ganze Situation sah nach Falle aus.

»Bettler«, rief er in die dunkle Gasse. »Wohin bringst du uns?«

»Zu einem Zimmerwirt«, kam es prompt zurück. Eine Taschenlampe blitzte auf und Björn konnte Danielles Umrisse ausmachen, vielleicht fünfzehn Meter entfernt. »Er hat nur noch wenige Betten frei. Ihr müsst euch beeilen.« Danielle humpelte mit der Taschenlampe davon, und Björn, der wusste, dass er keine Wahl hatte, trieb jetzt seinerseits Nick und Tabea zur Eile an.

Treppauf, treppab. Ecken, Durchgänge, schmale Gassen, breite Gassen. Wassergeruch wie von einer Zisterne. Björn war voller Misstrauen und ärgerte sich, dass sie Danielle ausgeliefert waren. Bemüht, auf dem holprigen Untergrund nicht zu stürzen, prüfte er immer wieder mit einem Blick über die Schulter, ob Nick und Tabea hinterherkamen. Björn wusste, dass die Wände Ohren hatten. Als er um eine Hausecke bog, hinter der Danielle gerade verschwunden war, stand dieser plötzlich direkt vor ihm, beinahe hätte er ihn umgerannt. »Nicht so stürmisch«, sagte Danielle und hielt die Tür zu einem Privathaus auf. Ein Lichtstreifen fiel von innen auf die Gasse. »Hier hinein, bitte!«

»Du zuerst«, erwiderte Björn. Danielle lachte und schlüpfte ins Haus, Björn gab Tabea und Nick den Vortritt und ließ die Tür nach einem letzten Blick auf die Gasse ins Schloss fallen. Eine Treppe führte nach unten, in einen engen, nur von einer einzigen Glühbirne beleuchteten Raum, der voller Leute war. Fedor, Ghazwan, der Stumme und natürlich Danielle, der seine Kapuze und seine Bettlermanieren jetzt abgelegt hatte, aber auch zwei Fremde. Björn erschrak, als er die beiden Fremden sah: Sie steckten in tarnfarbenem Drillichzeug und trugen außerdem Körperpanzer der altmodischen Art, über ihren Schultern hingen Sturmgewehre, wie sie von keiner Armee der Welt mehr benutzt wurden. Er stand da, musterte die bärtigen Kämpfer und wusste nicht, was er tun sollte.

Danielle grinste. Neben den Erwachsenen sah er plötzlich wieder wie der Junge aus, der er eigentlich noch war. »Schön, dass ihr alle kommen konntet«, sagte er. »Die Lage ist die: Im Moment durchkämmt die EF gerade den Basar. Alle Zufahrten zur Karawanserei sind gesperrt. Mit einem Wort: Wir müssen abhauen.«

»Falsch«, sagte Björn. »Wir müssen uns flachlegen und dürfen uns so lange nicht erwischen lassen, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Ich weiß, was hier läuft. Ich habe oft genug selber Käffer wie das hier durchsucht.«

Die beiden Bewaffneten musterten ihn etwas aufmerksamer als noch vorhin.

»Björn«, entgegnete Danielle, »deine Erfahrung in allen Ehren. Aber du verkennst die Lage. Der Tote war ein Offizier, ein Leutnant, um genau zu sein. Die werden hier alles auf den Kopf stellen. Überall im Intranet der Karawanserei, in Intros und auf ganz gewöhnlichen Plakaten wird gerade die Höhe der Belohnung bekannt gegeben. Ganz schön viel Geld, kann ich dir sagen. Wir sind vollkommen unschuldig, wissen wir doch, aber wir müssen trotzdem abhauen. Jetzt.«

»Und wie wollen wir das machen, wenn doch alles dicht ist?«

»Durch die Katakomben natürlich«, sagte Danielle und zeigte auf eine ochsenblutrote Falltür, die in den Boden eingelassen war, »in denen sich unsere beiden Freunde hier, nennen wir sie mal A und B«, er zeigte auf die beiden Bewaffneten, »ganz hervorragend auskennen. Genug geschwatzt. Los jetzt.«

 

 

Tabea störten die Totenschädel nicht. Auch, dass es hier unten fünf Grad kälter war als oben und dass ab und zu Ratten zwischen ihren Füßen herumwuselten, war ihr egal. Sie nahm das alles gar nicht richtig wahr, sie fühlte sich wie in Trance. Innerlich befand sie sich noch am Zaun des Karawanenterminals, hing noch an dem Moment, in dem die Riders anfangen wollten, den Zaun aufzusagen. Danach kamen, seltsam unscharf und in Schwarz-Weiß, die Bilder von dem stürzenden EF-Soldaten und von Björn, der ihm das Messer aus dem Nacken zog. Immer und immer wieder. Wie in einem kaputten Intro. Danielle lief direkt vor ihr her. Er keuchte ein wenig, aber um Vorträge zu halten, hatte er offenbar immer noch genug Luft. »Alles verdammt alt hier unten. Manche sagen, es gibt hier Knochen aus der Römerzeit, könnte gut sein. Ist viel von den Römern hier. Hab selbst mal einen Schädel gesehen, mit der Jahreszahl Fünfzehnhundertnochwas eingeritzt…«

 

 

»Ruhe dahinten«, blaffte eine Stimme von vorn. Die gehörte wohl zu einem der Kämpfer. Was waren das überhaupt für Typen? Sie sahen hart und grausam aus, Tabea traute ihnen nicht. Aber sie lief ihnen hinterher. Was blieb ihr schon anderes übrig! Unerwartet stolperte die Gruppe in eine geräumige Kammer. Sie schien vor langer Zeit in den Sandstein gehauen worden zu sein. In ihren Wänden fanden sich überall dunkle Nischen und Löcher, alle leer, wie es schien. Drei Gänge zweigten von dieser großen Kammer ab, und die beiden Typen, die Danielle A und B genannt hatte, schienen nicht zu wissen, welches der Richtige war.

»Warum halten wir an?«, flüsterte Björn. »Ich muss mich konzentrieren«, sagte A und schloss die Augen. »Galileo!«, flüsterte Danielle Tabea über die Schulter zu. Das hatte sie schon mal gehört. Galileo war das satellitengestützte Navigationssystem, mit dessen Hilfe sich vor allem die EF in der Welt orientierte, aber in den Intros und Träumen, die Tabea kannte, hatten die Soldaten immer kleine, daumengroße Geräte benutzt, um mit den Satelliten zu kommunizieren. A jedoch hatte nichts dergleichen in der Hand. Er war direkt mit dem Satelliten verbunden. Er stand da, mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf, als schliefe er im Stehen. Alle atmeten schwer in der muffigen Luft des Grabgewölbes. Björns angespanntes Gesicht wirkte im Schein der Taschenlampen maskenhaft und unheimlich. Schließlich erwachte A aus seiner Trance und kommandierte: »Da lang!«, wobei er mit ausgestrecktem Arm auf einen der drei Ausgänge zeigte. In diesem Gang gab es zwar keine Totenschädel mehr, aber dafür war er noch schmaler, die Ratten schienen hier zahlreicher, man hörte ihr Fiepen und Quieken. Bald hatte Tabea Seitenstiche, die Puste ging ihr aus. Gerade als sie sich beschweren wollte, stoppte die ganze Gruppe abrupt unter einem rot bemalten Rad, das in einer grauen Stahltür eingelassen war. A und B machten sich an dem Rad zu schaffen, aber da sie es nicht öffnen konnten, wurde B sehr wütend.

»Jetzt steht doch nicht so blöd hier rum! Helft uns doch!« Björn schob sich an den Riders vorbei, legte mit Hand an und schließlich konnten sie zu dritt das Rad bewegen. Als die Tür sich öffnete, kam ihnen eine Lawine von Dreck, Sand und anderem Zeug entgegen, alle mussten husten. Das Loch, das sich über ihnen geöffnet hatte, war schmal. Trotz der Steigeisen in der Wand, an denen man hochklettern konnte, dauerte es eine Weile, bis sich alle durchgezwängt hatten. Draußen war der Mond aufgegangen. Hier bemerkte Tabea, dass A und B plötzlich Sonnenbrillen aufhatten, doch sie hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern.

B sagte: »… kein Gequatsche hier draußen und vor allem kein Licht. Wir hauen ab, sobald wir die Flundern gefunden haben.« A und B begannen den Boden um die Schleuse herum abzusuchen, dabei bewegten sie sich zielgerichtet und schnell. Tabea ging auf, dass die »Sonnenbrillen« in Wirklichkeit optische Spezialgeräte waren, die die Suche erleichterten. »Helft uns!«, rief B. Gemeinsam zogen sie zwei Planen weg, die offenbar mit Sand, Steinen und Geröll beschwert worden waren. Das war eine verfluchte Knochenarbeit und trotz der Kälte begann Tabea heftig zu schwitzen.

Unter den Planen kamen zwei riesige, silbergraue Flundern zum Vorschein, die mit großen Augen den Mond anglotzten. A sprang auf eine der beiden, B auf die andere, leise quietschend öffneten sich die Glasaugen, die in Wirklichkeit Führerkanzeln waren, und die beiden Kämpfer ließen sich hineingleiten. Sirrende Geräusche wie von Rotoren ertönten. Die beiden Flundern stiegen aus den flachen Gruben auf, in denen sie auf ihren Einsatz gewartet hatten. Etwa einen halben Meter über dem Boden schwebten sie nebeneinander, im Mondlicht waren die Köpfe der beiden Piloten in den Kanzeln zu erkennen. An den Seiten öffneten sich Einstiege. »Lasst euch nicht erwischen«, sagte Danielle. »Danielle«, begann Björn, »ich hab dich angelogen. Hier ist kein Geld versteckt, nirgendwo.«

»Weiß ich doch. Du hast schon bezahlt. Ohne dich wären wir jetzt alle entweder tot oder im Knast. Du schuldest uns nichts. Eher umgekehrt.«

Tabea schluckte trocken. Abschiede hatten ihr noch nie gelegen. »Danielle«, brach es aus ihr heraus, »wegen Tommi…«

»Vergiss Tommi«, sagte er. Dann gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. »Wir müssen los, kommt schon«, sagte er zu Nick, Ghazwan, Fedor und dem Stummen, dessen Namen sie immer noch nicht kannte. Sie stiegen in die eine Flunder, die sich sofort in Bewegung setzte und im Nu von der Nacht verschluckt wurde.

Björn half Tabea in den zweiten Gleiter. Die Sitze in diesem Ding waren so flach, dass man praktisch darin lag. »Seid ihr angeschnallt?«, fragte der Pilot. Als sie bejahten, beschleunigte er.

Tabea schlief beinahe sofort ein.

Wie erschöpft sie gewesen sein muss, dachte Björn, der sich selbst überhaupt nicht müde fühlte. Wenn er ehrlich war, dann hatte ihm die Flucht nach Afrika besser gefallen als alle anderen Erlebnisse nach seiner Wiedererweckung. Er war zurück. Er war fast wieder ein normaler Mensch. Und er war auch fast wieder Soldat. Für was und für wen spielte keine Rolle, es ging doch nur darum, ein Kämpfer zu sein. Das Gewicht der Mitrailleuse an seiner Hüfte beruhigte ihn. Den EFler umzubringen war für ihn keine Gewissensfrage, sondern ein Job gewesen.

Er beobachtete, wie der Pilot den Gleiter steuerte, hin und wieder mit den Kontrollanzeigen in seinem Cockpit und verschiedenen kleinen Bildschirmen über seinem Kopf befasst, die in der Dunkelheit leuchteten.

»Wo bringst du uns eigentlich hin?«, fragte Björn nach vorne. »In ein Versteck, wo wir darüber nachdenken können, was wir mit euch machen.«

»Wer ist wir?«

Der Pilot schien die Fragerei nicht besonders zu mögen, denn jetzt gab er keine Antwort mehr. Björn sah aus dem kleinen Seitenfenster. Draußen war alles aus Silber, und er stellte sich plötzlich vor, dass dies nicht die Erde war, sondern der Mond, und dass über ihnen die Erde leuchtete, auf der es auch Wüsten gab, in denen man sich vorkam wie auf dem Mond…