DER PLAN

 

 

 

Mit den Leuten zu reden, die Tabea das Warn-Intro geschickt hatten, lehnte Björn ab. Also dachte sie sich selbst etwas aus. Er fand ihren Plan vollkommen absurd. Sie würden damit niemals durchkommen. Er würde aus dem Verkehr gezogen werden, und sie käme in ein Heim, aber nicht in ein normales, sondern in eine Jugendkolonie, aus der man sie erst entlassen würde, nachdem man ihr alle Flausen ausgetrieben hatte. Eigentlich hätte er all das mit dem Heiligen Kind besprechen sollen. Oder er hätte Tabea anzeigen sollen, weil sie ihn dazu anstachelte, zum Feind überzulaufen. Aber er tat es nicht. Und er hätte auf gar keinen Fall ein zweites Rollerbike kaufen sollen. Aber er tat es. Das war alles völlig unsinnig. Aber je länger er mitmachte, desto mehr fing er Feuer. Er lernte Rollerbike fahren, so gut es ging.

Es war am sinnvollsten, mitten am Tag loszugehen, nicht spät abends oder früh morgens, das hätte gleich Verdacht erregt. Außerdem mussten sie den Weg in die Vorstädte zu Fuß antreten, man sah nie Zombies auf Rollerbikes, und obwohl Björn jetzt halbwegs mit seinem Gefährt umgehen konnte, wirkte er doch nicht wie ein normaler Ewachsener. Selbst außerhalb der Stadt mussten sie immer auf eine Begegnung mit Polizei, Miliz oder EuroForce gefasst sein. Zum Schluss wurde es nervig, fand Tabea. Welche Pullover, welcher Proviant? Sie mussten alles in kleinen Rucksäcken unterbringen, größeres Gepäck hätte ja ihre Absichten auf den ersten Blick verraten, und obwohl sie nicht mehr auf die platzfressenden Textilien früherer Zeiten angewiesen waren, obwohl ihr Zelt und ihr Ersatzzelt zusammengeknüllt jeweils in eine geballte Faust passten, mussten sie harte Entscheidungen treffen. Björn schüttelte den Kopf über die beiden armseligen Säcke, die dann nebeneinander auf dem Boden im Flur standen. Er steckte sein Funktionsmesser ein, das er als einziges Ausrüstungsstück aus seiner Armeezeit aufgehoben hatte. Ein sauberes Stück Ingenieurskunst, das jede Menge Tricks draufhatte. Aber während er es einsteckte, rechnete er damit, in den nächsten 24 Stunden zu sterben, diesmal endgültig. Und er hatte nicht die geringste Lust dazu. Als es dann so weit war, als sie angezogen, vorbereitet und ausgerüstet waren, als sie eigentlich nur noch durch die Tür gehen mussten, um alles zu ändern, standen sie mit aufgeschnallten Rucksäcken im Flur und sahen einander unsicher an. Das Herz klopfte ihnen bis zum Hals, sie spürten jeder die Aufregung des anderen. Björn machte dann die Wohnungstür auf, aber als er hinausgehen wollte, hielt Tabea ihn noch einmal zurück: Er hatte doch tatsächlich seine Zombiearmbinde übergezogen. Tabea streifte sie ihm sofort ab, und er ließ es geschehen. Die Tür fiel ins Schloss. Dieser Februartag war kalt, aber immerhin schien die Sonne. Sie waren verloren.

Das Karawanenterminal stand wie ein schwarzes Trapez vor der untergehenden Sonne. Hier kamen die gigantischen Lastwagenkarawanen vorbei, die den Handel mit dem kolonisierten Nordafrika aufrechterhielten. Von Satelliten gesteuert, so lang wie Güterzüge, rollten sie von Nord nach Süd und zurück, und diese Terminals steuerten sie manchmal an, um zur Kontrolle gewogen zu werden, um zu tanken oder Servicetechniker aufzunehmen. Die wurden gebraucht, wenn es an Bord Probleme gab, mit denen die Maschinen allein nicht fertig wurden. Tabeas ganze Hoffnung konzentrierte sich auf dieses Terminal. Die windige Ebene südlich der Stadt war viel kälter als gedacht; obwohl sie ihre wärmsten Kleider trugen, zitterten sie. Aber nicht die Kälte war ihr größtes Problem. Die Ebene war kahl, man konnte weit sehen, und aus ihrem kümmerlichen Versteck heraus – zwei windzerzauste Büsche, die nicht einmal Tabea völlig verbargen – konnten sie die beiden Kugelblitze erkennen, die bewegungslos über dem Terminal schwebten. Björn machte außerdem einen großen Luftkissengleiter der neuesten Generation aus, die erst nach seinem Tod in Dienst gestellt worden war. Wie hatten sie nur so dumm sein können? Wie hatte vor allem er so dumm sein und alles vergessen können, was ihm als Soldat beigebracht worden war? Natürlich was das Terminal bewacht. Er staunte über die Besatzungsstärke der EuroForce, beinahe fünfzig Mann. Aber das war jetzt auch egal, er hatte sich über die Bewachung eben keine Gedanken gemacht. Das konnte man entweder als Anzeichen dafür nehmen, dass er langsam wirklich verblödete oder dass ihm sowieso alles egal war. Das Ergebnis war das gleiche. »Wir müssen umkehren«, sagte er.

»Nein«, sagte Tabea, »machen wir nicht.« Bei diesen Worten fühlte sie sich seltsam ruhig.

»Wir müssen. Sonst bemerken sie uns. Dann sind wir erledigt.« Kaum hatte er den Satz beendet, stiegen die Kugelblitze über dem Terminal in die Höhe. Der Gleiter hob sich ein wenig höher vom Boden ab und dann flog er zusammen mit den Kugelblitzen direkt auf sie zu. Tabea und Björn erstarrten. Sie dachte: Aha. Das war’s also. Björn wollte rennen, egal wohin, aber es ging nicht. Unwillkürlich griff er nach seinem Messer, weil das die einzige Waffe war, über die er im Moment verfügte. Erst als die Kugelblitze und der Gleiter über sie hinweggefegt waren, begriffen Björn und Tabea, dass nicht sie Ziel des Angriffs waren. Björn drehte sich um und sah die beiden hellen Lichter und den dunklen Gleiterrochen über die Ebene davonziehen. Sie waren schon weit weg, fast an der Stadtgrenze. Oben am Himmel hatten sich Löcher im Blau gebildet. Und etwas kam aus diesen Löchern heraus, rieselte auf die Erde herab wie schwarzer Schnee. Björn wusste genau, was vorging: Der Feind war durchgebrochen, eine klassische Heufieberattacke, Billiarden von Sporen und Pollen segelten herab, und sie beide waren viel zu nahe dran, um diesen Regen ungeschützt zu überleben. »Tabea«, rief Björn und fing an, mit seinen müden Fingern im Rucksack zu kramen. Die Atemfilter, dachte er nur, wo sind die Atemfilter? Gleichzeitig konnte er den Blick nicht von der Schlacht am Himmel wenden. Die Kugelblitze schossen ihre Energiesalven mitten in die Pollen- und Sporenwolken, um möglichst viel von dem Zeug zu verbrennen, bevor es unten ankam. Der Gleiter war auf diese Entfernung nicht mehr zu erkennen.

»Björn!«, hörte er Tabea schreien. »Da!« Zögerlich drehte er sich wieder um, weiter mit der rechten Hand im Rucksack herumtastend. Da, die letzte Sonne am Horizont. Da, das Karawanenterminal, schwarz und still. In seinem Rücken die Blitze des lautlosen Kampfs, wie Wetterleuchten. Und im Westen eine Staubwolke, die direkt auf das Terminal zusteuerte. Tabea war schon wieder auf der Straße, sie fuhr so schnell, wie sie nur konnte. »Tabea!«, brüllte er und setzte sich ohne Atemfilter wieder den Rucksack auf. Sein Rollerbike lag am Boden. Er musste es aufheben. Alles ging so langsam.

Die Staubwolke, dachte sie hysterisch, die Wolke! Sie fand den Fahrtwind zu schwach, ihr Rollerbike zu langsam, obwohl sie mit Höchstgeschwindigkeit dahinsauste. Dann fiel ihr auf einmal wieder ein, dass sie nicht allein unterwegs war. Sie bremste scharf, fiel fast hin. Sie musste wissen, ob Björn ihr hinterherkam. Und tatsächlich: Im Blitzlichtgewitter vor dem dunklen Himmel entdeckt sie seine Gestalt, seine Jacke wehte im Wind, er folgte ihr. Sofort nahm sie die Fahrt wieder auf, etwas langsamer als zuvor. Als er sie kurz vor dem Terminal einholte, schon im Schatten des riesigen Klotzes, der nur von einem schmalen Kranz Straßenlaternen umsäumt war, hatte sie ihr Rollerbike schon zusammengefaltet, und auch er beeilte sich, sein Gefährt zu verstauen. Bebend vor Aufregung wollte sie sofort auf das Terminal zuspringen, aber er hielt sie zurück. »Warte!«, warnte er. »Vielleicht sind noch mehr Soldaten da.«

»Aber die Karawane ist gleich hier! Das ist unsere Chance!«

»Ich weiß.«

Er hielt wieder sein Messer in der Hand, mit weit ausgefahrener Klinge, und sie dachte: Was willst du damit? Sie zog ihn hinter sich her, ließ sich nur schwer abschütteln, merkte kaum, wie grob er seinen Arm von ihr wegriss, denn alles war Aufregung, alles war Chance. Sie liefen die Treppen hinauf, in der seltsamen Stille machten ihre Füße pling-pling-pling auf dem rostigen Stahl und seine pling-plong. Niemand auf der Treppe, niemand im zentralen Dock.

»Vielleicht haben sich alle versteckt, wegen der Pollen«, sagte er und drückte ihr den Atemfilter in die Hand. Als er seinen angezogen hatte, sah er wie ein richtiger Zombie aus, fand sie. Sie standen auf einem langen Streifen von weiß gestrichenem Stahl, dem Bahnsteig der Gleitbahn ähnlich, und vier Meter unter ihnen war der Boden des Karawanendocks. Die ganze Struktur bebte von der näher kommenden Karawane, es rumpelte wie von einem Gewitter. Dann fuhren sie herum, ein Schlag, ein Knarren und Ächzen, ein rumpelndes Rollen: die Tore des Docks öffneten sich für die herannahende Karawane. Und mit einem Mal war sie da. Zusammen mit dem Staub, dem Lärm, den mehrere zehntausend Tonnen Ladung und rollendes Gerät machen, wenn sie über Land bewegt werden. Wie eine Lawine presste sich die Masse in das schwankende, vibrierende Dock hinein. Tabea dachte, starr vor Entsetzen: Sie bremst nicht scharf genug. Sie wird nur gewogen, das geht im Vorbeifahren. Das schaffen wir nie.

»Lauf.«, schrie Björn, und sie lief um ihr Leben. Im Tempo eines Sprinters fuhr die Karawane durch das Dock hindurch, und wer mitwollte, musste aufspringen. Tabeas Herz hämmerte, der Rucksack auf ihrem Rücken schien tonnenschwer, aber sie biss die Zähne zusammen. Dann bekam sie eine Reling an der Karawane zu fassen und sprang mitten hinein in den Staubsturm, ihr Knie knallte schmerzhaft auf, aber sie ließ nicht los; ihre Beine hatten sich so verfangen, dass sie wenigstens nicht wieder abgeschüttelt wurde, und indem sie alles vergaß, die Gefahr, Björn, ja sich selbst, indem sie sich nur auf das Hindernis konzentrierte, auf diese beschissene Reling, die gleichzeitig ihre einziger Halt war, schaffte sie es. Fiel auf einen schmalen Laufsteg. Keuchte mit geschlossenen Augen. Merkte, wie die Karawane aus dem Dock wieder herausglitt und schneller wurde. Der Lärm konnte jetzt nicht mehr von den Wänden des Docks reflektiert werden, aber die noch immer steigende Geschwindigkeit der Karawane machte das mehr als wett. Tabea setzte sich auf und fühlte ihr Herz, das sich gerade hatte beruhigen wollen, wieder loshämmern. Fahrtwind. Staub. Hereinbrechende Nacht. Links neben ihr die äußere Hülle der Karawaneneinheit, rechts die Reling und vier Meter tiefer die Straße.

»Björn!«, schrie sie, der Lärm war jetzt so stark, dass sie sich kaum selber hören konnte. »Björn!« Niemand antwortete. Sie war allein.