ROLLERBIKE
Zu Weihnachten schenkte er ihr ein Rollerbike. Er wusste nicht, ob das richtig war. Im Grünen Buch stand ja, dass eine Vaterfigur ihren Schützling lieben und achten, aber nicht verwöhnen sollte. Vaterfiguren mussten wie echte Väter sein, und echte Väter, sagte das Grüne Buch, verwöhnen ihre Kinder nicht, sondern zeigen ihnen den Weg. Vielleicht, dachte Björn, hätte er das Heilige Kind bei der Audienz fragen sollen, ob er Tabea ein Rollerbike schenken durfte, denn schon zu diesem Zeitpunkt hatte er den Plan gefasst. Aber das Heilige Kind hatte nur wenig Zeit gehabt. Und außerdem: Wer würde das Heilige Kind wegen eines Weihnachtsgeschenks um Rat bitten? Sicher hatte der Traum etwas damit zu tun. In der Nacht vor dem Kauf des Rollerbikes hatte er einen seiner seltenen Schlafträume gehabt, weil er für ein paar Minuten eingenickt war. Er hatte geträumt, dass Tabea nicht sein Schützling, sondern seine wirkliche Tochter war, sogar naturgeboren. Er hatte zusammen mit ihr Eheringe gekauft, per Intro, und dabei gedacht: Sie ist so jung, wie kann sie schon heiraten? Um sie vor Unglück zu bewahren, hatte er ihr die Ehe verboten. Sie hatte gehorcht, sehr zu seinem Erstaunen. »Weil ich doch deine Tochter bin«, hatte sie gesagt, bevor er aufgewacht war. Björn glaubte, dass dieser Traum etwas mit seiner Entscheidung zu tun hatte, Tabea ein Rollerbike zu kaufen. Es war wunderschön, glitzernd, meerblau. Man brauchte sich nur einmal damit abzustoßen, und es fuhr einen, wohin man wollte. Die Energie in den Akkus reichte ewig. Man konnte das Bike ganz klein zusammenfalten, es passte dann in einen Rucksack. Björn wusste, dass dieses Modell etwas taugte, er hatte die Militärversion in den Wüstencamps und den besetzten Städten kennen gelernt. Tabea hatte auch nett sein wollen und Björn einen Traum für den Halluzinationsstab geschenkt. Den ganzen Grönlandfeldzug. Björn halluzinierte nicht gerne, es verursachte ihm Kopfweh und brachte seine ehemaligen Schnittstellen zum Brennen, ein ganz unangenehmes Gefühl. Vielleicht auch eine Unverträglichkeit mit dem Heiligen Netz. Und natürlich interessierte ihn der Grönlandfeldzug als Traum nicht, er war ja dort gewesen. Wahrscheinlich hatte sie den Traum selbst haben wollen und den Umweg über das Weihnachtsgeschenk gewählt. Er war ihr nicht böse, mit vierzehn war man halt so. Er hatte sich bei ihr bedankt und nachher den Traum in die Schublade mit dem restlichen Traumgerät gelegt.
Am Heiligabend gelang es dem Feind, die städtischen Verteidigungsanlagen zu durchbrechen und in einigen südlichen Randzonen der Hauptstadt Pollen abzuwerfen. Björn hörte in einem Intro davon, als er sein Zimmer aufräumte; Tabea schlief bereits. Die Pollen waren schnell neutralisiert worden, aber es gab dann doch ein Dutzend Heufieber-Opfer. Björn fühlte sich nutzlos und wurde von einer Wut geschüttelt, dass er sich beinahe vergessen hätte. Er konnte sich nur beruhigen, indem er sich immer wieder sagte, dass er kein Soldat mehr war und jetzt eine andere Aufgabe hatte.
Kurz nach dem Pollenangriff kamen die Erinnerungen zurück. Ausgelöst durch die kleine Vase auf dem winzigen Tisch im Flur, die Björn eigentlich schon hatte wegwerfen wollen, zusammen mit dem Tisch. Beides war so überflüssig und nahm nur Platz weg in einem Flur, der sowieso schon zu klein war. Es war das Muster der Vase: blaue Blumen auf weißem Grund, ausgeführt als Strichzeichnung. Er wollte die Vase dann wirklich wegwerfen, hielt sie schon in der Hand, um sie in den Müll zu tun, da dachte er plötzlich: Halt, sie ist so hübsch! Genau in diesem Moment erinnerte er sich an alles. Seine Tochter hatte Irina geheißen. Sie war sieben Jahre alt geworden. Die Vase erinnerte ihn an Irina, weil sie als Sechsjährige eine solche Vase gestohlen und seiner Frau zum Geschenk gemacht hatte. Irina war ein schwieriges Kind gewesen. Björn und seine Frau hatten wegen Diebstahls die Jugendkommission im Haus gehabt, die prüfen wollte, ob die Familie in Ordnung war. Björn und Kathrin waren daraufhin ermahnt worden, sie sollten sich besser um die Werteorientierung ihrer Tochter kümmern. Auch die Lehrerin in der ersten Klasse hatte oft von Irinas mangelnder Werteorientierung gesprochen. Irina war ein Problemfall gewesen. Im Alter von sieben Jahren war sie an Heufieber gestorben. Kathrin hatte Björn danach verlassen, ihrer Ansicht nach war er schuld, weil er an jenem verhängnisvollen Tag vergessen hatte, Irina die Medikamente zu geben. Kurz danach war er nach Grönland geschickt worden. Dort hatte er mit seinen Kameraden Thule Airbase vom Feind freigekämpft. Die Vase in der Hand, erinnerte er sich an alles, er erinnerte sich genau, und er war ganz befremdet über sich selbst, weil er auf einmal weinen musste.
Nach dem Vorfall mit dem Papierchen entdeckte Tabea etwas Seltsames an sich selbst. Eigentlich hätte sie sich vor Björn fürchten sollen, und das Gesicht, das er ihr in der Küche gezeigt hatte, wollte sie auch nie wieder sehen. Dennoch stellte sie fest, dass sie sich an Björn gewöhnt hatte. Sie wusste nicht, ob es reines Mitgefühl war, aber sie lernte mehr und mehr seine beschissene Armbinde hassen. Sie ging nicht gern mit ihm nach draußen, wo er sie immer tragen musste. Was sollte sie überhaupt bedeuten? »Hallo, hier kommt ein Wiedererweckter?«, »Vorsicht, Zombie?« Die Armbinde hatte weiße Ränder und war in der Mitte grün. Wahrscheinlich das Grün von diesem Grünen Buch, das sich in seinem Kopf drehte wie ein Kreisel. Klar, in der Schule hatten sie das Thema »Wiedererweckte und ihre Kultur« durchgenommen. Natürlich war es auch um das Buch, das Heilige Kind, die Armbinde und den ganzen anderen Scheiß gegangen. Die Armbinde, so erklärte man ihnen, war angeblich genauso gedacht wie die Dinger, die früher von Blinden getragen worden waren. Blinde gab es nicht mehr, seit man alle Arten von Blindheit heilen konnte. Aber Zombies gab es jede Menge. Und sie trugen die weißgrünen Armbinden angeblich, damit die Leute Rücksicht auf sie nehmen konnten. Wann immer jetzt davon die Rede war, dachte Tabea: Dass ich nicht lache! Die Sache mit der Ambulanz machte sie noch wütender. Es war an einem gewöhnlichen Dienstag. Als sie vom Volleyball nach Hause kam, stand er im Flur. Völlig bewegungslos. Sah aus wie eine Statue. Die Augen standen offen und blinzelten nicht. Tabea wusste nicht, was sie machen sollte. Sie dachte, er sei im Stehen gestorben, nicht seine Art von Tod, die, die er schon kannte, sondern die endgültige. So sah es aus. Trotz ihres Ekels ging sie zu ihm hin und berührte ihn, weil sie wissen wollte, ob er kalt und starr war. Er war starr, aber nicht kalt. Seine offenen Augen machten sie ganz verrückt. Weil sie nicht weiterwusste, rief sie die Ambulanz. So was machte kaum keiner. Meistens kam sie nämlich nicht, und wenn, dann viel zu spät. Tabea versuchte es trotzdem, und schickte der Ambulanz ein Intro. Sie hatte gleich Kontakt, was auch nicht immer klappte. Nach einer halben Stunde waren die Sanitäter da. Laut ihrer Aussage hatte Björn nichts Schlimmes, war nur »im Block«, wie sie sich ausdrückten. Das komme manchmal bei Wiedererweckten vor. Die Sanitäter entblockten Björn dann mit einem Injektor. Tabea hatte gerade noch genug Geld in ihrem Daumen, um die Gebühr zu bezahlen. Später konnte Björn sich an nichts erinnern. Aber Tabea vermochte nicht zu vergessen, wie die beiden Ambulanztypen mit ihm umgesprungen waren. Wie mit einem Stück Holz.
Zur selben Zeit begannen ihr die wöchentlichen Gespräche mit dem Berater auf die Nerven zu gehen. Immer wieder wollte er wissen, wie es um ihre Beziehung zu Björn stand, immer wieder fragte er sie nur nach den negativen Erlebnissen mit Björn, die sie in ihren wöchentlichen Berichten an die Jugendkommission erwähnte. Wie sie sich damit fühle, Schützling eines Wiedererweckten zu sein? Ob ihr Selbstwertgefühl darunter leide? Tabea kam es mehr und mehr so vor, als würde sie verhört und nicht beraten. Das machte ihr Angst, weil sie den Beratern immer vertraut hatte, mit denen sie seit ihrem siebten Lebensjahr zu tun hatte, aber den neuen fand sie einfach nervig. Eines Tages rückte er mit dem Grund für seine hartnäckige Fragerei heraus. »Weißt du, Tabea, wir werden dich in ein Heim einweisen müssen, wenn du deine Vaterfigur weiter ablehnst.« Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Das schockte sie ziemlich. Sie saß zuerst sprachlos vor dem Berater, der es sich wie immer auf dem zweiten Stuhl in ihrem Zimmer gemütlich gemacht hatte. Dann brach es aus ihr heraus: »Aber ich lehne Björn doch gar nicht ab!«
Der Berater sah sie still an und sagte dann: »Das ist interessant.«
»Was ist interessant?«, fragte sie zurück, und: »Wenn ich in ein Heim komme, was passiert dann mit Björn?«
Sie wollte es wissen, die Frage sprudelte einfach aus ihr heraus. Aber das war wahrscheinlich falsch, denn der Berater verschwand sofort, und obwohl sie ihn noch einmal rief, blieb der versteckte Projektor in den Wänden ihres Zimmers abgeschaltet.
Wie ihr das illegale Intro übertragen worden war, fand sie auch später nicht heraus. Möglicherweise war es beim Anstehen vor der Schwimmhalle passiert oder beim Einkaufen, jedenfalls fiel ihr erst in ihrem Lieblingseiscafe auf, dass ein Datentransfer stattgefunden hatte, für den sie nicht um Erlaubnis gefragt worden war. Als sie den Film in ihrem Kopf abspielte – sie löffelte dabei weiter ihr Eis –, wurde ihr sofort mulmig zumute. Ein Mann saß in einem leeren Zimmer und sah sie an. Er trug ein weißes Hemd und eine dunkle Hose, seine Haare waren auffällig kurz. Ohne Begrüßung begann er: »Du bist ein Schützling. Du hast eine Vaterfigur. Björn heißt er, nicht wahr? Hast du dich schon einmal gefragt, was mit Vaterfiguren und Kunstmüttern geschieht, wenn ihre Schützlinge erwachsen sind? Oder wenn die Beziehung zwischen Schützling und Vaterfigur sich so verschlechtert, dass die Jugendkommission keinen Sinn mehr in einer Betreuung sieht? Manchmal ist sie auch der Meinung, die Beziehung sei zu gut, und das scheint bei dir und Björn der Fall zu sein. Weißt du, was Björn droht? Dass er abgeschaltet wird, dass er in den endgültigen Block kommt. So nennen sie es, wenn sie die Vaterfiguren und die Kunstmütter aus dem Verkehr ziehen. Die einzige Lösung ist, Björn wieder so schnell wie früher zu machen und ihn aus Europa fortzuschaffen. Sprich mit ihm darüber. Mach dir keine Sorgen wegen dieses Intros. Es wird sich gleich selbst löschen. Adieu.« Und genau das passierte. Nachdem sie sich von der ersten Überraschung erholt hatte, suchte sie überall in ihrem System nach der Botschaft, aber sie fand sie nicht mehr.
»Alles klar?«, fragte der Kellner, der an ihren Tisch getreten war, ohne dass sie es gemerkt hatte.
»Ja«, stotterte sie, »schon.«
»Kann ich das mitnehmen?« Er zeigte auf den leeren Becher, an dessen Grund noch ein wenig geschmolzenes Vanilleeis schwamm. Dabei lächelte er auf eine Art, als wisse er genau, was sie ein paar Sekunden zuvor erlebt hatte.
»Klar«, sagte sie knapp, und er hielt ihr das Zahlgerät hin. Sie musste zweimal ihren Daumen darauf drücken, bis das System die Übertragung akzeptierte.
In den folgenden Tagen suchte sie nach einem Beweis für die Behauptungen des Mannes aus dem Intro. Ihre einzige Strategie bestand darin, nach der Schule mit ihrem Rollerbike die Stadt zur durchstreifen und ein wenig in der Nähe von Einrichtungen der EuroForce und des Heimatschutzes herumzulungern. Das war nicht viel, aber auf eine zweite Botschaft des Unbekannten zu hoffen brachte sicher noch weniger. Wenn diese Leute von der Polizei verfolgt wurden, dann würden sie es nicht wagen, ihr ein zweites Intro zu übermitteln, schon gar nicht am selben Ort. Ihre Recherchen waren nicht sehr erfolgreich, aber immerhin lernte sie auf ihren Touren, geschickt mit dem Rollerbike umzugehen. Einmal wurde sie von der Polizei angehalten, weil sie eine Einbahnstraße in der falschen Richtung entlangfuhr, aber die Beamten waren faul gewesen und hatten noch nicht einmal ihr ID-Gerät gezückt. Ein anderes Mal öffnete sich plötzlich das Tor eines Rekrutierungsbüros vom Heimatschutz, während Tabea in der Nähe auf einer Steinmauer saß und ihre mitgebrachten Süßigkeiten aß. Zwei Jeeps, die mit Bewaffneten besetzt waren, rasten auf sie zu und schienen mit quietschenden Reifen gleich bei ihr abzubremsen, aber in Wirklichkeit mussten sie nur fünf Meter weiter um eine recht enge Kurve. Noch Minuten, nachdem sie davongebraust waren, ging Tabeas Puls rasend schnell.
Sie war schon bereit, die Botschaft des Fremden für eine besonders fiese illegale Werbestrategie zu halten. Wahrscheinlich, dachte sie, sind das nur üble Typen, die den Zombies Angst einjagen, um ihnen für irgendwelche Wundermittelchen Unsummen abzuknöpfen.
Dann geriet sie bei ihren Recherchen in die »Grube«. So hieß die Gegend, wo früher die Bergarbeiter gewohnt hatten und heute die verfallenden Reste von Zuliefererbetrieben, Lagerhallen und Mietskasernen ihrem Abriss entgegenbröselten. Die Polizei patrouillierte dort entweder zu selten oder kam gleich in Hundertschaftsstärke, manchmal gab es dort Krach mit Illegalen und Außenseitern, die nirgendwo sonst wohnen konnten als dort: Trinker, Verstörte, Aufgegebene, der Rest. Seltsamerweise fühlte sie sich zwischen all den menschlichen und architektonischen Ruinen in der Grube durchaus wohl. Nach dem Vorfall mit dem Polizisten und den Jeeps hielt sie sich für ein wenig schlauer, so leicht wollte sie sich jetzt nicht mehr beeindrucken lassen. Auch als sie im spiegelnden Schaufenster eines der wenigen Geschäfte, die es hier gab, drei Armeelaster in die Hofeinfahrt gegenüber hineinrumpeln sah, war sie zunächst nur neugierig. Das Gebäude, auf dessen Hof sie gekurvt waren, war nicht militärisch gekennzeichnet, es stand nur grau und stumm da wie alle anderen Häuser in der Straße. Zwar sagte eine kaum vernehmliche Stimme in ihrem Hinterkopf: »Hau ab!«, aber Ta-bea schob ihr Rollerbike trotzdem auf die andere Straßenseite. Dann rollte sie vorsichtig an die Toreinfahrt heran und spähte durch das nicht ganz geschlossene Tor. Sie ahnte, dass das verboten war, konnte aber ihre Neugier nicht zügeln. Die Laderampe eines der Laster war sichtbar, daneben zwei EuroForce-Soldaten in ihren Tarnanzügen. Ein Mann wurde von der Rampe heruntergestoßen und fiel zu Boden. Tabea wollte in den Hof laufen, um ihm aufzuhelfen, hielt aber aus Angst still. Der Mann hatte sich noch nicht wieder hochgerappelt – die Soldaten machten keinen Finger krumm, um ihm zu helfen –, da kam schon ein zweiter über die Rampe getorkelt, versuchte vergeblich, sein Gleichgewicht wiederzufinden und stürzte schließlich. Dann kamen zwei weitere Männer, gefolgt von einer Frau. Sie schrie im Fallen, und als sie versuchte, sich wiederaufzurichten, schlug ihr einer der beiden Soldaten den Gewehrkolben in den Bauch, dass sie zusammenklappte wie ein nasser Sack.
»Wer hat denn da das Tor nicht richtig…«, brüllte jemand ganz in Tabeas Nähe, vielleicht zwei oder drei Meter entfernt. Tabea erwachte aus ihrer Starre.
»Hey!«, ertönte ein Schrei in ihrem Rücken, aber sie drehte sich nicht um und raste los. Motoren wurden hinter ihr angelassen, Hunde gingen von der Kette, ein Kugelblitz stieg über dem Hof auf, aber als sie zweimal um die Ecke gebogen und in eine Straße geraten war, so eng, schäbig und dunkel, dass kein Armeelaster hindurchkam, da merkte sie: Niemand folgte ihr, keine Hunde, kein Kugelblitz. Sie war allein. Und als ihr endlich dämmerte, was all die Leute, die von der Lasterrampe gestoßen worden waren, gemeinsam hatten, kotzte sie aus Furcht, Ekel und Erschöpfung in eine Ecke. Die Opfer hatten grünweiße Armbinden getragen. Und die Soldaten hatten sie behandelt wie Schlachtvieh. Es war ein weiter Weg nach Hause, aber sie sah nichts und fühlte nichts. Alles, was sie denken konnte, war: Zwei und zwei gibt vier. Sie hatte die Misshandlung von Zombies beobachtet, der Fremde in dem Intro hatte behauptet, sie würden getötet, es passte zu gut. Zwei plus zwei gleich vier. Tabeas Bike fuhr wie von alleine, sie überließ sich ganz ihrem Elend. Sie stellte sich blutbespritzte Wände vor und Massengräber; so was gab es in Filmen, sie fühlte sich wie in einem Film. Immer wieder sah sie die Kunstmutter vor sich: die dunklen Haare, ihren Sturz, das Geschrei, den Gewehrkolben. Das konnte doch nicht wahr sein! Vielleicht waren die Gefangenen Verbrecher gewesen oder es wurde da gerade ein Intro oder ein Traum gedreht. Das musste es gewesen sein: Intro oder Traum. Als Tabea nach Hause kam, ging sie still in ihr Zimmer und schloss die Tür ab. Björn akzeptierte das mittlerweile als Zeichen, dass sie allein gelassen werden wollte, deshalb stellte er ihr wieder einmal das Abendessen vor die Tür. Tabea beschloss, niemandem etwas von dem zu erzählen, was sie gesehen hatte. Sie hörte auf herumzuschnüffeln und zwei Wochen lang passierte überhaupt nichts. Nur ihre Berichte an die Jugendkommission hielt sie jetzt völlig neutral. Sie wollte nicht, dass jemand auf den Gedanken kam, ihre Beziehung zu Björn sei zu schlecht oder zu gut. Dann wurde Björn wieder einberufen.
Er konnte es zuerst kaum glauben. Aber das Intro fühlte sich so echt an, dass er per Telefon zurückrief. Er fragte, ob dieser Gestellungsbefehl ernst gemeint war. Der Kamerad am Telefon fragte zurück, ob er etwa ein offizielles Schreiben der Armee anzweifeln wolle. Er verneinte das. Dann sei es ja gut, bekam er zur Antwort. Er solle nur dem Befehl Folge leisten. Dann wurde das Gespräch beendet. Björn wusste nicht, wofür ihn die Armee noch gebrauchen konnte. Natürlich nicht für die Käfertruppe, als Zombie wäre er dort ja nur eine Last gewesen. Aber das war ein Problem, über das er sich keine Gedanken machen sollte, genauso wenig wie über die Frage, was aus Tabea werden würde, wenn er in den aktiven Dienst zurückkehrte. Auf beide Fragen würde die Armee eine Antwort haben. Sagen musste er es Tabea so schnell wie möglich, das war klar. Darauf hatte sie als sein Schützling ein Anrecht. Ihre Wege würden sich trennen. Er freute sich so.
Tabea freute sich überhaupt nicht, sondern es lief ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie erzählte ihm von dem Erlebnis mit dem illegalen Intro, sie berichtete ihm von ihren Nachforschungen, von den Soldaten und den Gefangenen im Hinterhof. Er begriff nicht.
»Das ist keine Einberufung«, sagte sie zu ihm. »Die wollen dich umbringen.«
»Umbringen?«, sagte er, noch langsamer als sonst. »Was ist denn das für ein Unsinn? Ich habe dir doch gesagt, dass diese Leute, die uns Zombies angeblich wieder schneller machen wollen, Kriminelle sind. Ich habe bei der Armee angerufen, und es geht um eine ganz normale Reserve-Einberufung. Ich kehre in den aktiven Dienst zurück.«
Sie war so aufgeregt, dass sie die Fäuste ballte. »Du hast doch keine Ahnung! Ich hab doch gesehen, was die da abziehen. Die wollen dich kaltmachen. Aber ich will das nicht!« Er legte den Finger auf den Mund. »Nicht so laut! Was sollen die Nachbarn denken?«
»Die sind mir scheißegal«, schnauzte sie, wenn auch leiser als vorher. »Du verreckst, wenn du da hingehst, glaub’s doch endlich!« Da weinte er. Eine einzige Träne.
Tabea war sprachlos.
»Vielleicht stimmt das ja«, sagte er, wieder gefasst. »Aber wenn es so ist, dann wird es schon richtig sein.«
»Leck mich doch, du Arsch!«, schrie sie.