AUFERSTANDEN

 

 

 

Er wusste nicht genau, wie er gestorben war. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war die Farbe von Getreide. Die Käfer liefen durch ein Kornfeld. Es war ein großes Kornfeld, Quadratkilometer um Quadratkilometer groß. Er lag in der Kanzel unter dem Bauch des Käfers und träumte. Da unten, all das viele Korn. Wenn man bedachte, dass da früher nur Sand gewesen war. Stattdessen diese Fruchtbarkeit. »Kornkammer«, sagten sie immer in den Nachrichten. Und es stimmte genau. Manchmal kamen Funksprüche in seinen Kopf. Sie waren von geringer Wichtigkeit und zupften nur leicht an seinen Nerven. Positionsmeldungen, keine besonderen Vorkommnisse. Die Käfer liefen gemächlich, weil sie nur eine Patrouille waren. Und weil sie keinen allzu großen Schaden anrichten wollten. Sie vertrugen sich sehr viel besser mit der Landwirtschaft als Panzer. Käfer schonten das Getreide und arbeiteten gleichzeitig viel effektiver. »Die Sahara – Kornkammer Europas!«, hieß es immer. Man stampfte nicht wie ein Elefant durch die Kornkammer. Nur die Käfer durften fressen, so viel sie wollten, damit sie bei Kräften blieben.

Der Raum, in dem sie saßen, war kahl, nicht einmal Regale oder Plakate gab es, nur ihn selbst, den Entlassungsoffizier, zwei Stühle und einen Tisch. Das Licht kam von allen Seiten. Der Entlassungsoffizier trug eine EuroForce-Uniform der Heimatfront, mit einem Schildemblem an der Brust, die Schulterklappen zierte ein silberner Stern. Er tippte auf der berührungsempfindlichen Platte des Datentischs herum. Er schien Björns Akte nicht zu finden. Dieser Mann würde ihn aus der Armee entlassen. Ihm konnte er alle Fragen im Zusammenhang mit seiner neuen Aufgabe stellen. Björn formulierte die Frage gut in seinem Kopf vor. Er hatte gelernt, dass das hilfreich sein konnte.

»Was soll ich meinem Schützling über meinen Tod sagen?« Der Entlassungsoffizier blickte auf. »Einen Moment, bin gleich so weit«, sagte er. Dann suchte er wieder nach Björns Akte.

 

 

Natürlich durfte er nicht träumen. In seinem Essen waren Sachen, die ihn am Träumen hindern sollten. Der Wiegeschritt und das wogende Korn lullten ihn trotzdem ein. Der Himmel war bedeckt, der Käfer warf dennoch einen Schatten, verschwommen an den Rändern, dunkler in der Mitte, wo das Korn dunkelbeige war. Alles schien in Ordnung, er fühlte sich sicher.

Dann starb er. Es war wohl eine Mine. Eine, die springt. Er bemerkte nichts von dem Angriff. Nur diesen plötzlichen, weißglühend aufstrahlenden Todesschmerz würde er nie vergessen. Die Explosion hatte ihn sicher nicht zu sehr zerfetzt, denn sonst wäre er nicht wiedererweckt worden. Die Ärzte konnten zwar auch die ganz Zerfetzten wiedererwecken, wenn mindestens 85 % der Körpermasse erhalten blieb. Aber es lohnte sich nicht. Das Verfahren wurde dann zu teuer. Die Wiedererweckung war daher eine Gnade, die nicht allen zuteil wurde.

Das Gesicht des Entlassungsoffiziers hellte sich auf. Offenbar war er fündig geworden. Er tippte mit dem Zeigefinger ein paar Punkte in der Akte an, hackte einen kurzen Text in ein Datenfeld und schloss das Dokument. Der Schirm erlosch, die Tischoberfläche sah jetzt wieder aus, als sei sie aus Holz. »Tja dann«, meinte er lächelnd. »Alles Gute in deinem neuen Leben.« Er stand auf.

Björn musste schnell denken. Er beschloss, seine Frage von vorhin einfach zu wiederholen.

»Aber was sage ich dem Schützling über meinen Tod?«

»Da mach dir mal keine Sorgen. Du sagst einfach gar nichts. Denk dran, du bist die Vaterfigur, du entscheidest, wo es langgeht. Und Anweisungen zu den wichtigsten Themen findest du im Grünen Buch.« Er stand auf und begab sich in Habachtstellung.

Björn fand die Antwort des Offiziers plausibel. Er erhob sich ebenfalls. Dann salutierten sie beide.

Es war wie bei einem Loch im Zahn. Man weiß, man macht es nicht besser, aber man muss immer wieder mit der Zunge hin. So tastete er immer wieder nach den Schnittstellen für die Käferganglien an seinem Hinterkopf. Sie waren inzwischen verheilt. Das kam vom Wiedererweckungsprozess, er heilte alle Wunden, und medizinisch gesehen waren die Schnittstellen Wunden. Björn hatte Phantomschmerzen und Sehnsucht nach den Käferganglien. Er würde nie mehr Kanonier sein. Ein Käfer hätte ihn in seinem Zustand ja gar nicht akzeptiert. Er hätte ihn ganz neu besiedeln müssen, die Schnittstellen an seinem Kopf hätten neu angelegt werden müssen, allein das hätte Monate gedauert. Dann waren da die Abstoßungsreaktionen, die immer drohten, wenn Käfer von Soldaten besiedelt wurden; der Käferorganismus wollte dann die Menschen in seinem Inneren nicht haben, behandelte sie als Fremdkörper und verdaute sie, oder er tötete sie durch Entzündungen und allergische Reaktionen. Wie man früh festgestellt hatte, traten Abstoßungsreaktionen besonders häufig auf, wenn der Soldat ein Wiedererweckter war. Ein Käfer, der auf die Besiedlung so negativ reagierte, war unbrauchbar und musste selbst getötet werden. Das wollte man nicht riskieren. Außerdem waren Wiedererweckte viel zu langsam, beim Sprechen und in ihren Bewegungen. So langsam, dass sie von normalen Menschen »Zombies« genannt wurden. Die Käfer brauchten die Menschen in ihrem Leib zur Leistungssteigerung, nicht zur Verlangsamung. Mit Zombie-Kanonieren konnte eine Käfereinheit nichts anfangen. Deswegen hatte Björn jetzt eine andere Aufgabe. Er würde sich um eine der vielen Kriegswaisen kümmern, ein Mädchen, das in einer besonders schwierigen Phase seiner Entwicklung war, in der Pubertät nämlich. Was Björn dazu wissen musste, wurde ihm in einem einwöchigen Trainingskurs beigebracht, der fast beendet war. Den Kurs empfand Björn als anstrengend. Die Trainer waren nicht sehr freundlich, aber das kannte er aus seiner Militärzeit. Schlimmer war, dass er mit seinem wiedererweckten, verlangsamten Körper eigentlich alles so schnell machen sollte wie ein normaler Mensch. Obwohl er sich große Mühe gab, ließ er manchmal Dinge fallen. Er sprach so schleppend, dass die Ausbilder oft ungeduldig wurden, und das war besonders bitter, weil Björn die Sätze in seinem Kopf meist längst fertig hatte, aber die Sprechmuskulatur kam einfach nicht mit. Das überfordert selbst die Geduldigsten, dachte Björn. Langsam erwachte er aus seinen Grübeleien. Die Mittagspause war vorbei. Er bemerkte, wie feucht seine Hände waren. Wäre er ein normaler Mensch gewesen, hätte sein Herz wild gepocht, aber es war ja wie der Rest seines Körpers verlangsamt. Björn versuchte sich mit den Drei Gewissheiten aus dem Grünen Buch zu beruhigen: »Jedes Problem hat eine Lösung«, »Wer an das Heilige Kind denkt, an den denkt auch das Heilige Kind«, »Geschwindigkeit ist nicht alles«.

Aber es wirkte nicht. Er hatte Angst vor dem Rest des Arbeitstages, denn seine Trainingsgruppe würde heute noch das Einkaufen üben.

»Scheiße!«, fluchte Tabea. Sie war in einer furchtbaren Stimmung. Die geblümte Tapete ihres Zimmers machte sie rasend. Das Hologramm ihres Beraters stand ruhig und gelassen da, wie immer, wenn sie ihn aufrief.

»Mir geht’s gut! Ich komme allein klar! Ich brauche keinen Zombie! Ist es wegen dem WG-Stress mit Günter und Norma? Oder war’s der letzte Gesundheitstest?« Natürlich war es bescheuert gewesen, in der Gesundheitsprüfung aus Langeweile einfach alles anzukreuzen. Vielleicht hatten auch Günter und Norma, ihre Mitbewohner, sie bei ihren Beratern verpetzt, sie als streitsüchtig angeschwärzt, obwohl sie selbst die ganze Zeit Stress gemacht hatten. Deswegen brauchte sie doch noch lange keinen Zombie. Wer einen Zombie abkriegte, der konnte sich vergessen, der war unten durch. Günter und Norma taten jetzt zuckersüß, aber hinter Tabeas Rücken zogen sie Gesichter und machten Witze. Die wollten sie ja schon länger loswerden und jetzt hatten sie ihre Chance gewittert. »Was du natürlich vergisst, Tabea«, sagte der Berater mit ernstem Gesicht, »ist der Diebstahlverdacht, der gegen dich vorliegt.«

»Aber ich hab nichts geklaut!«, rief sie. »Die haben nichts bei mir gefunden!«

»Das ist nicht logisch, Tabea. Die Kaufhausdetektive haben kein Diebesgut bei dir entdeckt, aber das beweist nicht, dass du unschuldig bist. Einer von ihnen schwört, er habe dich was einstecken sehen. Ich habe die Akte hier.«

Tabea stiegen die Tränen in die Augen. »Glaub doch, was du willst. Ich hab nichts geklaut. Und ich brauch keinen verdammten Zombie!«

»Da bin ich anderer Meinung. Du bist jetzt seit acht Jahren Vollwaise. Es klingt vielleicht hart, aber ich halte dich im Moment für labil. Es ist zu deinem eigenen Besten.« Dann löste sich ihr Berater in Luft auf. Tabea ließ ihren Tränen freien Lauf.

Was sie jetzt schon rasend machte, war die Langsamkeit. Wie diese Zombies sich bewegten, wie sie sprachen. Es wurde behauptet, dass sie viel schneller denken konnten, aber dass ihr Körper einfach nicht mitkam. Das wollte sie sich überhaupt nicht vorstellen, mit einem normalen Kopf in einem trägen Körper eingesperrt zu sein, das fand sie einfach nur Scheiße. Und sie waren schon einmal tot gewesen. Erst tot, dann wiedererweckt, für ein paar Jahre Extraleben. Erst neulich hatte sie im Supermarkt eine Zombiegruppe beim Üben gesehen. Das hatte so furchtbar arm ausgesehen. Die ganzen Drecksjobs, die sie machen mussten. Zombies waren eklig. Das Einzige, was sie derzeit ein wenig aufheitern konnte, war die Tatsache, dass Tanjas Vater in Grönland gefallen war. Sein Eiskäfer war vom Feind umzingelt und mit Enzymwaffen zerstört worden. Tanja hatte jetzt seine beiden Orden (nichts Besonderes), seine Hundemarke, ein paar seiner Zähne (mehr war von ihm nicht übrig geblieben) und zwei Bücher, die man in seinem Spind gefunden hatte. Tanja war so blöd gewesen, den Kram in die Schule mitzubringen (bestimmt ein Tipp ihres Beraters, die kamen immer auf solche Ideen). Bleich, gefasst und ehrlich stolz auf ihren Vater hatte sie alles herumgezeigt. Dabei war die Sache mit den Enzymen so furchtbar eklig. Es kam ja nichts darüber in den Nachrichten, aber Tabea hatte gehört, es bliebe nur Schleim, der erst nach Wochen wegtrocknete, weil er irgendwie noch lebte. Manche behaupteten sogar, dass man aus diesem braunen Schleim noch etwas wiedererwecken konnte, es sei bloß zu teuer.

Wie alle anderen hatte Tabea Tanja mit traurigem Gesicht die Hand gegeben und »Für uns gefallen!« gemurmelt. Dabei war sie total schadenfroh gewesen, war es jetzt noch. Tanja hatte immer die Nase so hoch getragen, weil sie als eine der wenigen in der Klasse noch einen lebenden Elternteil gehabt hatte. Die Kuh, die blöde. Würde hart für sie werden. Die musste sich erst noch daran gewöhnen, dass sie jetzt wirklich allein war: keine Briefe von der Front mehr, in denen Daddy versprach, dass er bald wiederkommen würde, keine Geschenke mehr, nichts. Tanja musste das schon lange ertragen, und sie kam damit klar. Sie brauchte keinen Zombie. Sie brauchte ein Rollerbike.