GEFANGEN
Tabea hatte nicht annähernd so viel Angst wie bei ihrem ersten Ausflug in die Wüste, denn sie wusste ja, es gab Wasser und Nahrung, sie wurde von einem Kamel getragen, und sie war von Bewaffneten umgeben, die sie zwar als Verräterin ansahen, aber immerhin gegen Angriffe von außen schützen würden. Hoffte sie jedenfalls. Die schaukelnden Bewegungen versetzten sie in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Deshalb hielt sie das Motorengeräusch zunächst auch für eine Täuschung. Aber dann wurde es zu aufdringlich, um noch länger ignoriert werden zu können. Sie hob den Kopf und suchte nach seiner Quelle. Ein schwarzer Punkt über dem flimmernden Horizont, der schnell größer wurde. Niemand in der Karawane schien beunruhigt, unbeirrt setzten sie ihren Weg fort. Der brummende schwarze Punkt entpuppte sich als Motorgleiter, sie konnte deutlich die Tragflächen und sogar den Piloten sehen, während das winzige Flugzeug über der Karawane seine Kreise zog. Sie verstand, warum sich niemand Sorgen machte: so ein Fliegenschiss kam nicht von der EF, das war schon mal klar. Plötzlich klatschte etwas schmerzhaft auf ihre rechte Schulter. »Nicht nach oben sehen!«
Der Typ, der hinter ihr auf dem Kamel saß, hatte sie geschlagen! Wahrscheinlich mit demselben Stecken, mit dem er das Kamel antrieb! »Aber…«, protestierte sie schwach. »Schnauze!«, fuhr er sie an. Na fabelhaft!, dachte sie, und massierte sich die schmerzende Schulter. Noch so einer von der ganz umgänglichen Sorte. Sein Name fiel ihr wieder ein. Jamal hieß er.
Kurze Zeit später kamen dann die Trikes, dreirädrige Vehikel mit dicken, wüstengeeigneten Reifen. Es waren sechs oder sieben, jeweils mit zwei Mann Besatzung, einer fuhr, der zweite saß auf dem Rücksitz. Die Typen hatten veraltete Schnellfeuergewehre dabei, wie Tabea sie schon bei den Schmugglern in El Dschaem gesehen hatte. Sie hielten lässig Schritt mit der Karawane und musterten dabei genau Kamele, Ladung und Reiter. Ab und zu kamen sie bis auf wenige Meter heran. Als Jamal von hinten flüsterte: »Banditen«, war Tabea auch schon aufgegangen, mit wem sie es hier zu tun hatten. Nachdem die Trikes vielleicht eine Viertelstunde neben der Karawane hergefahren waren, entschlossen sich die Kerle offenbar zum Handeln. Sie sammelten sich an der Spitze der Karawane, fuhren dann einige Meter voraus und stellten sich plötzlich quer. Die Schützen knieten sich in einem Halbkreis hin und legten ihre Gewehre an. So wie sie positioniert waren, konnten sie alle Teile des Zuges unter Feuer nehmen. Auch der Motorgleiter war wieder aufgetaucht, der Pilot zog enge Kreise über der Szenerie. Die Karawane hielt mühsam an; nur weil sie nicht so lang war, kam sie rechtzeitig zum Stehen. Tabea verstand nicht viel von den Verhandlungen zwischen Karawanenführer und Banditenchef, sie sprachen arabisch und waren ohnehin zu weit weg. Aber der Inhalt der Diskussion wurde von Reiter zu Reiter weitergegeben, und schließlich flüsterte ihr Jamal zu: »Sie wollen die Ladung. Und dich auch.«
»Was?«, flüsterte sie zurück. An der Spitze des Zuges wurde weiter palavert. »Steig ab«, befahl Jamal. »Geh zu den Banditen.« Als sie zögerte, stieß er sie in den Rücken. Tabea rutschte ab und fiel in den Sand.
»Los!«, sagte Jamal. »Wir haben nicht ewig Zeit!« Tabea taumelte vorwärts. Von einigen Kamelen wurden schon Säcke abgeladen. Ich hasse euch alle, dachte sie. Als sie vielleicht noch zehn Meter von den Banditen entfernt war, gab es einen Knall am Himmel. Tabea und die Banditen spähten nach oben. Der Motorgleiter stürzte ab, eine Rauchfahne hinter sich herziehend. Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, brach um sie her das Chaos aus. Schreie, Befehle, Schüsse. Instinktiv ließ Tabea sich auf den Boden fallen. Mitrailleusen pfiffen, Maschinengewehre knatterten. Etwas Schweres fiel neben ihr zu Boden und rollte in ihre Nähe. Dann brüllten nur noch die Kamele heiser in die Stille. Tabea hatte Sand im Mund. Sie drehte den Kopf und blickte in die Augen eines Mannes, der direkt neben ihr lag, heftig aus dem Mund blutete und dabei Worte zu formen versuchte. Er schien um Hilfe zu bitten. Entsetzt sprang sie auf und entdeckte, dass sein Körper völlig von Geschossen zerfetzt war, er hatte so viel Blut verloren, ihr Umhang war damit getränkt. Übelkeit stieg in ihr auf, sie wandte sich ab. Keiner der Banditen stand noch, die Toten waren im Umkreis verstreut, ihre Fahrzeuge sahen aus, als seien sie in eine Schrottpresse geraten. Tabea wankte ein paar Schritte zurück, dann wurde ihr schwindelig, sie musste sich hinknien. Jemand brachte ihr einen Wasserschlauch. Sie lehnte ab. Sie blieb auf den Knien, bis sie gepackt und weggeschleift wurde. Ihre Gegenwehr war zu schwach, um irgendetwas auszurichten. Schließlich wurde sie wie ein Sack zu Jamal auf das Kamel geworfen, und die Karawane setzte sich wieder in Bewegung. Sie schloss fest die Augen, damit sie die Gesichter der Toten nicht mehr sehen musste.
Später, als sie wieder im Sattel saß, sagte Jamal: »Wärst du lieber bei denen geblieben?«
Tabea hätte sich eher erschießen lassen, als darauf eine Antwort zu geben. Jamal verstand und lachte.
Umm al Biijara, »Die Mutter der Zisternen«, hieß der Ort, an dem sich die neue Basis befand, aber es gab dort keine Zisternen, sondern nur genau solche Felsen, wie sie Tabea von der alten Basis und aus der kleinen Oase kannte, in der sie auf ihrer Ausreißertour Zuflucht gesucht hatte. Die Basis selbst war fast ein identisches Abbild derjenigen, die sie gerade verlassen hatten. Dieselben Mannschaftsquartiere, dieselbe Kombination aus Werkstatt und Stall, derselbe schweflig-steinige Geruch. Kaum waren sie angekommen, kaum hatte sie Björn wiedergefunden im Chaos des Auspackens, da tauchte Nina auf. »Hallo Tabea«, sagte sie. Sie klang matt und wich Tabeas Blicken aus. »Nasrid sagt, ich soll dir was ausrichten. Du hast eine neue Aufgabe. Du musst die Gefangenen im Keller versorgen. Nasrid sagt, das ist die Strafe dafür, dass du abgehauen bist und die Basis in Gefahr gebracht hast. Vorher sollst du noch zu Madjid. Jetzt gleich.«
Dann ging sie, und ließ die beiden allein zurück. Tabea sah Björn an, aber der hatte damit begonnen, seine Mitrailleuse auseinander zu bauen und zu reinigen. Er schien keine sonderlich große Lust auf Diskussionen zu haben. »Björn!«, rief sie wütend. »Die Gefangenen versorgen!« Björn polierte gerade die sechs Läufe seiner Waffe. Er ließ sich Zeit, bevor er antwortete.
»Einer muss das doch machen, oder? Und du hättest nicht abhauen sollen. So sehe ich das.«
Er legte das gesäuberte Laufbündel wieder ins Gehäuse ein und drückte es nach hinten. Ein Klicken und die Waffe war fast wieder einsatzbereit, wenn auch noch nicht geladen. »Ich kann ja mit Nasrid reden«, beschwichtigte Björn.
»Danke nein«, entgegnete Tabea gekränkt. »Auf derart begeisterte Unterstützung kann ich verzichten.« Wütend zog sie mit ihrem Kram los.
Madjid war unsicher, das merkte sie gleich. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er blinzelte öfter als nötig. Hier wurde ihm weniger Raum zugestanden als in der alten Basis, er hatte sich noch nicht ganz eingerichtet – überall lagen weiße Plastikflaschen, Medikamentenpackungen und medizinische Instrumente herum.
»Was wir machen, ist Folgendes«, sagte er und leckte sich die Unterlippe. »Wir deaktivieren die Neuroports 4 und 5 an deiner Wirbelsäule, kurz über dem Becken. Dazu benutzen wir Informationen, die Seif und Abdul bei Björns Untersuchung gewonnen haben.«
Angst stieg in ihr auf. »Warum macht ihr das?« Madjid wandte sich ab und kramte in dem Zeug auf seinem Labortisch herum. Er setzte ein Gerät zusammen. »Nasrid sagt, es ist notwendig. Vermutlich soll es dich daran hindern, dass du je wieder Kontakt zum Euronet aufnimmst.«
»Das Euronet ist mir egal«, hielt sie ihm entgegen. Sie hatte einen Kloß im Hals. »Aber ihr macht aus mir doch keinen Zombie, oder?«
Madjid drehte sich um. Sie konnte die Schweißperlen an seinem grauen Haaransatz genau sehen. »Nein«, sagte er mit einem gekünstelten Lachen, »wie kommst du denn darauf?« Er hielt jetzt ein Ding in der Hand, das wie eine absurde, zu klein geratene Maurerkelle aussah, die an der Spitze intensiv blau leuchtete. Er kam auf sie zu. Alles in ihr warnte sie vor diesem blauen Leuchten. »Ich gehe«, sagte sie und stand auf. Madjid blieb stehen und streckte beschwörend seine Hand aus.
»Tu das nicht«, sagte er. »Draußen stehen zwei Tuareg. Sie haben den Befehl, auf dich zu schießen, wenn du zu fliehen versuchst.« Er sah sie bittend an. »Nur ein paar Sekunden, dann ist alles vorbei.«
»Du lügst«, zischte sie und drehte sich um. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Du bist auch nur so ein Lügner.«
»Nein«, entgegnete er unsicher, »nein. Du musst dich jetzt umdrehen. Und zieh bitte dein Hemd ein wenig hoch.« Sie drehte sich um, tat aber sonst nichts. An der Wand, genau vor ihrer Nase, hing ein Plakat, das sie schon in verschiedenen Arztpraxen gesehen hatte: Es stellte den Muskel- und Sehnenapparat des menschlichen Körpers dar. Obwohl das Papier alt und vergilbt war, leuchteten die Muskeln in einem kräftigen Rot. Wie sie sich schon als Kind vor diesem Plakat gefürchtet hatte! »Also gut«, sagte Madjid und schob ihr das Hemd ein wenig nach oben und setzte das Gerät an.
Plötzlich saß sie auf dem Fußboden. Sie versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. Sie konnte ihre Beine nicht bewegen. »Du hast mich gelähmt«, sagte sie tonlos, wie jemand, der gerade niedergeschlagen worden ist und es noch nicht fassen kann. »Du Schwein hast mich gelähmt.« Sie versuchte, sich mit ihren Armen hochzustemmen. Das ging immerhin noch. »Nein«, sagte er, und begann hektisch in seinem kleinen Behandlungszimmer hin- und herzulaufen. »Nein, nein, nein! Nicht bewegen!« Dann hielt er einen Injektor in der Hand, wie sie ihn von ihrer ersten Begegnung schon kannte. Sie schäumte vor Wut. »Willst du mich jetzt ganz umbringen, du Scheißkerl?« Mit ihren Armen wollte sie sich von ihm wegschieben, aber es war hoffnungslos. Er brauchte sich nur hinzuknien und ihr den Schuss in die Schulter zu verpassen. Etwa fünf Minuten lang passierte nichts. Dann begann es in ihren Schenkeln zu kribbeln, und Stück für Stück kehrte die Kontrolle über ihre Beine zurück. Sobald sie das Gefühl hatte, sie könne stehen, rappelte sie sich hoch. Um nicht zu stürzen, musste sie sich an einem Arbeitstisch festhalten. Madjid stand mit dem Rücken zu ihr und ordnete Reagenzgläser in einen Schrank ein. »Da kannst du ja richtig stolz auf dich sein«, keuchte sie. »Ich kann meine Beine wieder bewegen. Gratulation.« Madjid drehte sich um und verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Jetzt hör mir mal gut zu. Die ganze Zeit tust du so, als wärst du moralisch so was von überlegen. Ich darf dich daran erinnern, dass du uns alle hier durch deine Flucht in Gefahr gebracht hast. Wir können froh sein, dass wir noch leben, du übrigens auch. Meinst du, die EF würde noch große Unterschiede zwischen dir und uns machen? Meinst du vielleicht, die würden dich befreien? Was weißt du schon vom Krieg und von der EF! Vielleicht hast du ein paar Träume gesehen und Dubb hat dir vielleicht ein bisschen was erzählt, aber du hast noch nie auf einem Marktplatz gestanden, der nur so übersät ist von Leichen, weil kurz vorher die EF da aufgeräumt hat. Du hast keine Ahnung, wie das aussieht, wenn zwei oder drei Kugelblitze ein ganzes Dorf vernichten, in Sekundenschnelle, sodass man nur noch verkohlte Überreste findet, von denen man nicht weiß, ob sie von einem Gegenstand, einem Tier oder einem Menschen stammen. Ich könnte dir Bilder zeigen, da würdest du nur noch kotzen. So was hab ich als Dorfarzt jede Woche gesehen, bevor ich mich dem Widerstand angeschlossen habe, und ich kann dir sagen, dagegen ist die Deaktivierung von zwei Neuroports ein Kinkerlitzchen. Du hast Scheiße gebaut und jetzt musst du die Konsequenzen tragen, das ist alles.« Madjids Wut verunsicherte sie. Aber auch sie war wütend. Hatte dieser Kerl ihr doch kaum zehn Minuten vorher die Beine weggehauen, und jetzt stand er da und wollte ihr erklären, wie ungezogen sie gewesen war!
»Erstens«, sagte sie und ihre Stimme bebte, »habe ich vor ein paar Stunden gesehen, was deine Freunde hier mit den Banditen angestellt haben. Und zweitens hat mich nie einer gefragt, ob ich bei eurer beschissenen Revolution mitmachen will. Wegen mir könnt ihr alle zur Hölle fahren. Ihr seid kein bisschen besser als die ER.«
Dann drehte sie sich um und wankte zur Tür hinaus. Draußen standen tatsächlich zwei Tuareg und nahmen sie sofort in die Mitte. Dass sie immer wieder auf ihren wackeligen Beinen einzuknicken drohte, fanden sie offenbar komisch.
In den Zellentrakt wurde sie eher hineingeschoben als eingelassen, und als sich die eiserne Tür hinter ihr schloss, war es so dunkel, dass sie zunächst nur Umrisse erkennen konnte. Dafür roch es umso stärker nach Urin, Stroh und Moder. Und es war erstaunlich kalt. Genau so hatte sie sich immer ein Burgverlies vorgestellt. Stück für Stück gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie stand auf der obersten Stufe einer kurzen, aber steilen Treppe. Hinter ihr befand sich eine geschlossene Eisentür, dahinter zwei Wachen mit Mitrailleusen. Der einzige Weg ging nach unten. Ihre Beine waren immer noch schwach, deswegen musste sie vorsichtig sein. Zögerlich stieg sie die Treppe hinab.
»Wer ist da?«, sagte eine raue Stimme.
Am Fuß der Treppe sah sie in eine offene, leere Zelle mit Bett, Tisch und Stuhl. Sie ging hinein und schaltete als Erstes die kleine Lampe auf dem Tisch ein. Die Funzel war erbärmlich, aber immerhin spendete sie ein wenig Licht. Sie roch an dem zerwühlten Bettzeug. Es war offenbar lange nicht gewaschen worden.
»Wer ist da?«, fragte dieselbe Stimme noch einmal. Was sollte sie tun? Niemand hatte ihr verboten, mit den Gefangenen zu sprechen. Sie würde diesen Männern täglich ihr Essen bringen und ihre Nachttöpfe ausleeren. Also konnte es nicht schaden, sie kennen zu lernen.
In der Nachbarzelle standen drei Gefangene am Gitter, die Hände um die Stäbe gekrallt. Ihre Uniformen waren schmutzig und zerrissen. In ihrer Zelle gab es keine Betten, keinen Tisch, keinen Stuhl, nur ein wenig Stroh auf dem Boden und drei Eimer. Der Gestank war überwältigend. Die Insassen glotzten Tabea an. Sie hielt sich so weit wie möglich vom Gitter entfernt, um nicht in ihre Reichweite zu gelangen.
Einer von ihnen sagte: »Eine Frau. Sie haben uns endlich eine Frau geschickt.«
Tabea wäre am liebsten mit der Wand verschmolzen. »Halt die Schnauze, Franz«, sagte ein anderer. Franz zuckte zusammen, dann ließ er das Gitter los und verzog sich in die hinterste Ecke der Zelle. Er setzte sich auf seinen Eimer und drehte sich zur Wand.
»Ich bin Kolja, das ist Jason«, sagte der Mann, der Franz zurechtgewiesen hatte. Er zeigte mit dem Daumen auf die Jammergestalt, die neben ihm stand. »Und wie heißt du?«
»Ich bin…«, fing sie an, hielt jedoch sofort inne. Diese Kerle brauchten ihren Namen nicht zu kennen. »Das ist nicht wichtig. Ich sag euch eins«, ihr Herz schlug bis zum Hals, »wenn ihr Mist baut, hole ich die Wachen. Klar?« Dann wandte sie sich ab und ging in ihre Zelle.
»Starker Spruch!«, rief Kolja ihr hinterher und lachte. Es klang hässlich. Wenigstens hatte sie eine Tür an ihrer Zelle, wenigstens hatte sie ein kleines Licht. Es ging ihr besser als den ehemaligen EF-Soldaten. Aber eine Gefangene war sie auch. Im Gefängnis gab es feste Rituale: Zuerst musste der Gefangene seinen Eimer und sein Essgeschirr in eine Schleuse stellen, die von innen zu schließen war. Dann zog sie beides nacheinander zu sich her, mit einem langen Stab, an dessen Ende ein Haken befestigt war. Sie musste vorsichtig ziehen, weil sonst der Eimer umkippte und die Fäkalien über den Boden verteilte. Dann musste sie alles die Treppe hinauftragen, mit dem Ellenbogen klopfte sie an die Eisentür. Während die eine Wache die Tür öffnete, zielte die andere mit ihrer Mitrailleuse auf Tabeas Kopf. Die Fäkalieneimer brachte sie zu den Konvertern. Eimer und Essgeschirre wusch sie notdürftig, mit so wenig Wasser wie nur irgend möglich. Dann holte sie sich ihr eigenes Essen. Eine halbe Stunde durfte sie bei den anderen sitzen. Nina steckte ihr an der Ausgabe immer etwas zu, das sie in den Zellentrakt hineinschmuggeln konnte, um abends auch noch was zum Kauen zu haben.
Das Essen der Gefangenen war eigentlich Schweinefraß, den man genauso gut gleich in die Konverter hätte werfen können. Es ging auf dem gleichen Weg in die Zelle der Gefangenen hinein, auf dem die Fäkalien herauskamen. Alles sehr mühsam. Ansonsten war die Langeweile das Schlimmste. Sie hatte nichts zu lesen. Selbst wenn man ihr Träume erlaubt hätte, hätte sie nichts damit anfangen können, denn ihre Neuroports waren kaputt. Ihre einzige Gesellschaft waren die Gefangenen, und mit denen wollte sie so wenig wie möglich zu tun haben, obwohl Kolja manchmal ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen versuchte. Zweimal fiel ihr ein Scheiße-Eimer um, als sie ihn mit dem Stock aus der Zellenschleuse zog. Sie musste Lappen und Wasser organisieren und eine von den Wachen bitten, die Gefangenen in Schach zu halten, während sie den Boden säuberte.
Manchmal stand Franz am Gitter und brabbelte unverständliches Zeug. Einmal schrie er so lange: »Die kommen uns holen!«, bis die anderen beiden ihn zusammenschlugen. Tabea hämmerte an die Eisentür. Einer der Wachmänner kam und schockte die Gefangenen durch die Gitterstäbe hindurch zusammen; als sie zuckend am Boden lagen, ging er sofort wieder nach oben. Tabea würgte es, als die Eisentür wieder ins Schloss fiel. Einmal fragte sie, ob sie duschen dürfe, und wurde ausgelacht. Sie kam ernsthaft auf die Idee, sich für einen Kampfeinsatz zu melden, nur um dieses Dreckloch verlassen zu können. Nach drei Tagen war sie reif für die Anstalt. Dann kam zum Glück Etienne.
Sie setzten sich an den Tisch in Tabeas Zelle. Etienne hatte ein blaues Auge.
»Was haben sie denn mit dir gemacht?«, fragte sie. »Das Gleiche könnte ich dich fragen.«
»Lenk nicht ab.«
»Kleiner Streit unter Kollegen. Erinnerst du dich an Maud? Der Typ, der mir neulich verbieten wollte, mit dir zu reden? Wir können uns immer noch nicht leiden.«
»Na fabelhaft. Hoffentlich hast du wenigstens gewonnen.«
»Wie man’s nimmt. Gab keinen klaren Sieger.« Etienne grinste. Zusammen mit seinem blauen Auge sah das ziemlich komisch aus. Aber Tabea war nicht nach Lachen zumute.
»Meinst du, ich kann mich zu einem Kampfeinsatz melden?«
»Was?«
»Ob ich mich zu einem Kampfeinsatz melden kann. Ich will hier raus.«
Etienne kam näher, bis er in ihr Ohr flüstern konnte. »Die nehmen dich gar nicht. Und das ist dein Glück. Demnächst gibt es eine große Aktion. Weiß selber nicht genau, was. Maud und seine Hardcore-Muslime freuen sich schon drauf, dass die ungläubigen europäischen Hunde endlich bestraft werden. Es wird mächtig knallen. Rate mal, wer die Aktion anführen soll?« Tabea wusste es sofort. »Björn«, flüsterte sie zurück.
»Ganz genau, Dubb. Einige Leute sind damit unzufrieden, aber Nasrid will es angeblich so.«
»Was macht ihr beiden da?«, schrie es plötzlich aus der Nachbarzelle. »Ficken, oder was?« Das klang nach Franz. »Halt’s Maul!«, schrie Kolja.
»Ihr fickt doch!« Dann hörte man die Geräusche einer kurzen, aber heftigen Schlägerei, danach war es wieder still. »Was geschieht mit den Gefangenen?«, flüsterte Tabea. »Nichts Schönes«, sagte Etienne.
Tabea konnte von ihrem Platz aus sehen, wie sich die Eisentür öffnete und einer der Wachsoldaten hineinsah. Er gab einen kurzen Befehl auf Arabisch und Etienne antwortete ebenso knapp. Er drückte ihr die Hand. »Besuchszeit ist um«, sagte er und stand auf. Etienne hatte eine Rosenseife benutzt, sie schnupperte an seinem Handrücken. Sie war fasziniert, weil es ein so sauberer Geruch war, und er kam von Etienne.
Am nächsten Morgen holten sie den ersten Gefangenen. Es war Franz. Er schrie und tobte, als sie ihn aus der Zelle schleiften, aber dann schockten sie ihn zusammen und zogen ihn an den Füßen die Treppe hinauf. Tabea, die sich zum Schluss abwendete, war sich sicher, dass sie ihn nie Wiedersehen würde. Das Spiel wiederholte sich gleich darauf mit Jason. Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür wieder, sie glaubte schon, jetzt würde auch Kolja abgeholt, aber zu ihrer Überraschung kam Björn die Treppe herunter. Er sah anders aus als noch vor ein paar Tagen. Seine Uniform war makellos, sie wirkte in diesem Dreckloch so fehl am Platz wie ein gestärktes Bettleinen in der Kanalisation. Sein Bart war jetzt voller, er hielt sich kerzengerade und wirkte nicht mehr wie ein einfacher Soldat, sondern eher wie ein Anführer. Er sah gut aus.
Tabea fand ihn widerlich. Wahrscheinlich gehört er jetzt wie Aslal zu den großen Nummern um Nasrid, dachte sie. »Was ist mit den Gefangenen?«, fragte sie ihn ohne Begrüßung. »Sprich bitte leiser«, flüsterte er und setzte sich an den Tisch. »Also, was jetzt?«, flüsterte sie, ihm zuliebe. »Was macht ihr mit ihnen?«
»Sie werden befragt«, sagte er langsam. »Du meinst wohl gefoltert«, gab sie bissig zurück. »Sie haben Informationen, die für eine geplante Aktion wichtig sind. Wenn sie uns nicht freiwillig sagen, was wir wissen wollen, müssen wir sie zwingen, weil wir diese Informationen brauchen. Ohne sie könnten mehr von uns bei der Aktion sterben als nötig oder sie wird ganz unmöglich.« Er leugnet es nicht einmal!, dachte sie. Ich behaupte, dass er mit Folterknechten befreundet ist, und er bestätigt es mir sogar! »Und wenn ihr mit ihnen fertig seid, was passiert dann? Knallt ihr sie ab? Schmeißt ihr die Leichen in die Konverter?« Björn schwieg.
»Und was ist mit mir? Werde ich später auch befragt? Ich könnte ja über wichtige Informationen verfügen, Björn! Vielleicht haben die Gefangenen ja mir Sachen erzählt, die sie euch nicht verraten wollen. Was meinst du, Björn?«
»Ich würde nie zulassen, dass man dir wehtut«, sagte Björn. »Ich bin deine Vaterfigur.«
Tabea war außer sich vor Wut. »Nein, Björn«, sagte sie. »Du bist nichts weiter als ein Zombie. Diesmal einer für Nasrid.« Björn stand rasch auf und warf dabei den Stuhl um, auf dem er gesessen hatte. Tabea war sich sicher, dass er sie schlagen würde. Aber in diesem Augenblick wurde er von hinten umgestoßen. Ein Schatten sprang über ihn weg, packte Tabea, zog ihren Kopf an den Haaren zurück und setzte ihr etwas Scharfes an den Hals. Björn rappelte sich mühsam auf. Erst als Tabea die Stimme hörte, wusste sie, wer sie umklammert hielt. »Björn und Tabea heißt ihr?«, fragte Kolja. »Schöne Namen. Ich hab jetzt also Tabea hier, die sich in den letzten Tagen so aufopfernd um uns gekümmert hat. Wenn du nicht machst, was ich sage, wenn ihr mich nicht freilasst, dann schneid ich ihr die Kehle durch. Kapiert?«
Tabea war in Panik, sie wusste nicht, was los war, wollte nur weg von dem stinkenden Mann, der sie eisern umklammert hielt. Björn stand vor ihnen, er strich langsam seine Uniform glatt. »Kapiert«, sagte er langsam. »Okay.«
»Also.« Kolja atmete schnell. »Du sagst deinen Kumpels vor der Tür jetzt Bescheid, dass sie uns rauslassen sollen. Keine Tricks, ich spreche auch Arabisch. Mach schon.« Björn verließ langsam die Zelle und ging die Treppe hinauf. Er hämmerte an die Tür und rief: »Ich bin’s, Dubb. Der Gefangene Kolja hat Tabea als Geisel genommen. Macht die Tür auf. Nicht schießen! Nicht schießen!«
Es dauerte eine Weile, dann öffnete sich die Tür. Die Silhouetten der Wachen zeichneten sich in dem hellen Rechteck oberhalb der Treppe ab, einer von ihnen zielte auf Björn, der andere sofort auf Tabea und Kolja.
»Nicht schießen!«, rief Björn noch einmal. »Wir verhandeln!«
»Einen Scheißdreck tut ihr!«, schrie Kolja. Tabeas Ohr wurde von seiner Spucke nass. »Ihr macht, was ich sage, oder dem Mädel geht’s dreckig. Jetzt gehst du zuerst raus, mein lieber Björn. Oben entfernst du dich von der Tür, mindestens fünf Meter. Und dann komme ich die Treppe hoch.« Björn gehorchte. Langsam stieg Kolja mit Tabea die Treppe hoch, das war nicht einfach, denn sie mussten sich im Gleichschritt bewegen. Auf der obersten Stufe, geblendet vom hellen Licht, in schrecklicher Angst vor Kolja, rutschte sie aus, und fiel nach vorne. Kolja musste seinen Griff lockern, um nicht mitgerissen zu werden, im selben Moment hörte Tabea ihn aufschreien, zwei Arme griffen nach ihr, zogen sie aus der Tür heraus, warfen sie in die grünliche Helle der Oberwelt. Sie drehte sich um, stützte sich auf den Armen auf: Kolja war nicht mit aus der Tür gekommen, jemand schrie: »Die Schocker, benutzt die Schocker!«, dann wehte schon der Ozongeruch durch den Raum, der mit dem Gebrauch der Schockpistolen einherging. Tabea wollte aufstehen, aber ihre Beine versagten. Sie konnte sich nur hinknien. Wenige Augenblicke später stiegen die Türwächter in den Zellentrakt hinunter und kamen mit Kolja wieder zurück.
»Legt ihn hierher«, sagte Björn.
Bei Tageslicht sah Kolja noch erbärmlicher aus als unten im Zellentrakt. Er war bewusstlos. Seine rechte Hand blutete, sie war durchbohrt von einem Stab oder einem kleinen Messer, Tabea konnte den Gegenstand nicht richtig erkennen. Björn zog das Ding aus der Hand des Gefangenen, wischte es ab und verstaute es wieder unter seinem Uniformkragen, wo man es nicht sehen konnte. »Bringt ihn zu den anderen«, befahl er.
War es möglich, dass ihre Sehkraft in dem Kellerloch gelitten hatte? Immerhin brauchte sie einen ganzen Tag, um sich wieder an die Helligkeit in der Basis zu gewöhnen. Am zweiten Tag nach ihrer Befreiung aus dem Zellentrakt sah sie wieder normal. Bald bemerkte sie, dass unter den Fenneks etwas vorging. Zwar war es ihr immer noch verboten, die Werkstatt und den Kamelstall zu betreten, aber sie sah doch überall, wo sie vorbeikam, Anzeichen gesteigerter Geschäftigkeit. Viele Kämpfer besserten ihre Uniformen aus, überprüften ihre Ausrüstung und wienerten ihre Stiefel, die Waffen wurden mit größter Aufmerksamkeit geputzt.
Und es wurde viel gebetet. Immer wieder beobachtete sie Muslime auf ihren Gebetsmatten, einzeln oder in Gruppen. Auch Fenneks, die anderen Religionen angehörten, nahmen auf einmal ihre religiösen Pflichten ernst; einmal sah sie eine Gruppe von fünf oder sechs Christen in einer kleinen Höhle knien und im Schein flackernder Kerzen beten. Alles Vorbereitungen für den großen Schlag, von dem Etienne gesprochen hatte, Tabea war sich sicher.
Meistens ließ man Tabea auf ihren Streifzügen in Ruhe. Zuweilen gab es doch böse Blicke oder eine giftige Bemerkung. Beim Waschen an den Konvertern wurde sie einmal beschimpft und sogar mit einem Gewehr bedroht. All das machte ihr nichts aus. Sie war nur froh, dem Zellentrakt entkommen zu sein, gegen die Finsternis da unten waren ein paar Drohungen Kinderkram. Ihre Erleichterung verdrängte sogar jeden Gedanken an die Gefangenen, an Koljas Geruch und seine blutende Hand. Sie durfte inzwischen auch wieder mit den anderen zusammen essen und hätte sich gewünscht, dabei Etienne zu sehen, aber wenn sie kam, war er nie da. Im Vorbeigehen hörte sie öfter den Namen »Dubb«, mit Hochachtung, ja sogar Verehrung ausgesprochen. Aber das beeindruckte sie nicht. Sie war voller Hass auf Björn. Sie teilte jetzt mit Nina eine kleine Schlafhöhle. Nina schnarchte in der Nacht ziemlich laut.