IM KORRIDOR DER SCHAUSPIELER TRAFEN WIR EINIGE HUNDERT WARTENDE…
… an. Sie saßen und standen an den Wänden entlang, reglos und geduldig.
Viele hatten entblößte Oberkörper, manche waren gänzlich nackend. Auch Frauen und Kinder waren darunter. Die Körper der meisten zeugten von großen und schon lang erduldeten Entbehrungen. Sie waren mager und bis zur Hinfälligkeit geschwächt.
Keiner von ihnen blickte auf, als wir durch ihre Reihen gingen. Einige hielten die Augen geschlossen und bewegten die Lippen, als memorierten sie den Text ihrer Rollen, andere starrten leer ins Weite oder auf den Boden.
Vor einem Alten, der in eine grobe Pferdedecke gehüllt auf einem Schemel saß, blieben wir stehen und fragten ihn, aus welchem Grunde er hier sei.
«Ich muß auf mein Kostüm warten», antwortete er mit verlegenem Lächeln, «es wird noch immer daran genäht. Sobald es fertig ist, werde ich auftreten. Es kann nicht mehr lange dauern, denn ich warte schon am längsten von allen hier.»
Wir wollten wissen, um was für eine Art von Kostüm es sich handle.
«Eine Königsrobe», sagte er. «Die Hauptsache ist natürlich die Krone, zuerst eine wirkliche aus Gold, später dann eine papierene. Für den letzten Akt benötige ich außerdem einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Und Krücken - ja, Krücken werde ich wohl auch bekommen, denn ich werde ja einbeinig sein, wie ihr wohl wißt.»
Wir erklärten ihm, daß wir so gut wie nichts davon wüßten, daß uns jedoch so sei, als ob wir dieses Kostüm schon einmal irgendwo gesehen hätten.
«Nein, nein», sagte der Alte und schüttelte den Kopf wie ein eigensinniges Kind, «das ist ganz ausgeschlossen. Es ist ja noch nicht fertig, sonst hätte ich es doch schon an. Es ist doch mein Kostüm!»
Wir baten ihn, uns doch von seiner Rolle zu erzählen.
«Sie ist sehr schön», begann er, «und die wichtigste, das versteht sich. Ich spiele den Glücklichen Herrscher.»
Wir vermuteten, daß es sich um ein historisches Stück handle, aber der Alte schüttelte wieder den Kopf.
«Nein, keineswegs. Für dergleichen würde ich meine Darstellungskunst nicht zur Verfügung stellen. Es handelt sich vielmehr um wirkliches Theater, also um ein Märchen, oder - wenn ihr die Bezeichnung vorzieht - um ein Mysterienspiel. Zu Beginn sitzt der Glückliche Herrscher als König auf einem gewaltigen steinernen Thron, einem Thron wie ein Berg. Ich, also der König, herrsche über ein grenzenloses Reich - aber ich bin nicht frei. Mein linker Fuß ist an dem steinernen Thron festgeschmiedet. Nun entsteht ein Aufruhr, angezettelt vom Schreiber des Königs. Dieser und einige andere Diener wollen mich stürzen, um sich selbst auf den Thron zu setzen. Doch zeigt es sich, daß ich - also der König - nicht abzusetzen bin, da ich ja eben an den Thron festgeschmiedet bin und die Kette unzerreißbar ist.»
Der Alte verstummte und blickte erwartungsvoll drei Männern entgegen, die den Korridor herunter kamen. Sie trugen behutsam ein königliches Gewand und zwar dergestalt, daß zwei von ihnen je einen der langen Ärmel ausgespannt hielten, der dritte aber die Schleppe trug, so daß das Kleid selbst fast wie eine Person erschien, die zwischen ihnen schwebte. Es war ohne Zweifel ein Frauengewand.
Nachdem die drei Männer es sorgsam auf den Schoß des Alten gelegt hatten, gingen sie schweigend davon. Dieser strich mit der Hand gedankenverloren über die kostbare Goldstickerei, doch schien er dem Kleid weiter keine Beachtung zu schenken.
«Da die Kette unzerreißbar ist», fuhr er in seiner Erzählung fort, «schlagen die Aufrührer das Bein des Königs ab und zerren ihn von seinem Thron herunter. Wie er so hilflos am Boden Hegt, ein Bündel Blut und Schmerz, nehmen sie ihm noch die goldene Krone und setzen ihm eine papierene aufs Haupt. Sie halten ihn für tot. Es ist Nacht, der Sturmwind heult. Sie schleppen ihn vor die Stadt hinaus und werfen ihn in eine Müllgrube.»
Der alte Schauspieler hielt bewegt inne.
«Lumpensammler finden den reglosen Körper, entdecken noch ein Fünkchen Leben in ihm, nehmen ihn mit in ihre Wohnlöcher und pflegen ihn im Verborgenen, bis seine schreckliche Wunde verheilt ist. Darüber geht viel Zeit hin. Die Häscher des neuen Herrschers, des Schreibers, sind überall und haben tausend Augen und Ohren. Darum bitten die Lumpensammler den König zu fliehen in die Wildnis der Berge, wo niemand ihn finden kann. Sie geben ihm alte Fetzen zum Anziehen und Krücken, auf denen er sich fortbewegen kann.»
Wieder hielt der Alte inne und richtete sich gespannt auf. Den Korridor herunter kamen zwei Frauen, die zwischen sich einen aus allerlei Flicken zusammengenähten kleinen Anzug trugen, dessen eines Bein in Höhe des Knies abgeschnitten und zusammengezogen war. Es handelte sich, nach der Größe zu schließen, um ein Kleidungsstück für ein etwa sechsjähriges Kind. Die beiden Frauen warfen dem Alten das Lumpenkleidchen vor die Füße, nahmen das königliche Frauengewand von seinen Knien und verschwanden damit den Korridor hinunter.
Nach einem kleinen entschuldigenden Lächeln fuhr der Alte in seinem Bericht fort: «Damit er nicht ganz schutzlos sei und sich ernähren könne, geben sie dem König außerdem noch einen Bogen und einen Köcher voller guter Pfeile mit. So irrt der einbeinige Mann mit seiner Papierkrone auf dem Haupt nun lange Zeit durch die Schluchten und Wildnisse eines Landes, das er nicht kannte und über welches er doch herrschte. Er ist ein guter Schütze und ein erfahrener Jäger, niemals fehlt sein Pfeil, wenn er ein Wild schießt - und doch werden die Pfeile in seinem Köcher durch ein geheimnisvolles Verhängnis weniger und weniger. Schließlich sind es nur noch sieben. Da packt den Einsamen wilder Zorn gegen die Mächte des Schicksals. In einer Nacht, die noch finsterer und sturmzerwühlter ist als jene andere, schleppt er sich auf den Gipfel des höchsten Berges. Auf der kahlen, eisigen Felsschroffe hockt er sich nieder. Seine Krücken schleudert er mit lautem Hohngelächter in den Abgrund, dann schießt er, ungeheuerliche Flüche und Verwünschungen heulend, alle Pfeile, die ihm noch verblieben sind, hinauf in den wolkenwälzenden Himmel. Erhobenen Hauptes wartet er auf den Blitzstrahl, der ihn für seinen Frevel zerschmettern wird. Doch nichts geschieht.» Zum dritten Mal unterbrach der Alte seine Erzählung. Den Korridor herunter kam ein einzelnes Kind, das sich mit einem großen Haufen Stoff auf seinen Armen abschleppte. Als es seine Last vor dem Alten niederlegte, war zu sehen, daß es sich um einen ledernen Pilotenanzug handelte, samt Brille, Stulpenhandschuhen und pelzgefütterten Stiefeln. Das Kind nahm schweigend die Lumpen auf und verschwand in der gleichen Richtung wie die Vorigen.
Der alte Schauspieler hatte auch diesmal dem Vorgang keine sonderliche Beachtung geschenkt. Nun stand er auf und warf sich die Pferdedecke nach Art einer Toga um den ausgezehrten Leib. Mit leuchtenden Augen und großer Gebärde fuhr er in seiner unterbrochenen Rede fort:
«Noch immer sitzt der König auf der Felsschroffe, sein Bart, sein Haar, die Fetzen seines Kleides wehen im Sturm. Da hört er das Wiehern von Rossen. Sieben Reiter kommen durch die Wolken auf ihn zu. Sie tragen leuchtend weiße Gewänder, sie sitzen aufleuchtend weißen Pferden. Während sie langsam herankommen, erkennt der König, daß jedem der Reiter ein Pfeil mitten im Herzen steckt. Also doch, denkt er, nun endlich kommt die Vergeltung, die göttliche Rache! Die Reiter sind heran, sie steigen von ihren Pferden, sie treten vor ihn hin - und verneigen sich ehrerbietig. Dann ziehen sie die Pfeile aus ihrer Brust und legen sie, einer nach dem anderen, vor ihm nieder. Der König vermag nicht zu sprechen. Seine Hände tasten über die Pfeile, die zu leuchtendem Gold geworden sind. Er blickt auf, schaut in die Augen der weißen Reiter - und erkennt sie…» Hier unterbrach der Alte noch einmal seinen Bericht, denn wieder kam eine Gruppe von Menschen durch den Korridor heran, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung. Es war einer der drei Männer, eine der beiden Frauen und ein Kind, aber ein anderes als jenes, das die Pilotenkleidung gebracht hatte. Sie nahmen diese vom Boden auf und gingen, ohne etwas anderes dafür zu hinterlassen, in der Richtung davon, aus welcher die Gruppen zuvor gekommen waren. Der alte Schauspieler setzte sich auf seinen Schemel nieder, zog die Pferdedecke fröstelnd um seinen Leib und schien auf einmal sehr erschöpft.
Wir drangen in ihn, uns doch zu Ende zu erzählen und uns zu verraten, wer die wunderbaren Reiter seien, die der König erkannt habe. Aber der Alte schüttelte nur wieder eigensinnig den Kopf und sagte: «Wie soll ich das wissen?»
Ob er es uns denn nicht mitteilen dürfe, ob es ein Geheimnis sei?
Er antwortete müde: «Wenn ich meine Rolle gespielt haben werde, dann werde ich es wissen -und ihr auch. Wozu wäre sonst das ganze Spiel notwendig?»
Plötzlich nahm sein Gesicht einen leidvollen, ja gequälten Ausdruck an, und er fragte hastig: «Oder haltet ihr für möglich, daß inzwischen jemand anders meine Rolle gespielt haben könnten warte schon so lang. Glaubt ihr, daß es das gibt?»