DIE BRÜCKE, AN DER WIR SCHON SEIT VIELEN JAHRHUNDERTEN BAUEN,…
… wird niemals fertig werden. Wie eine ausgestreckte Hand, die niemand ergreift, ragt sie über die steilen Klippen unserer Landesgrenze hinaus, unter denen der schwarze bodenlose Abgrund sich dehnt. Ihr hochgeschwungener Bogen verschwindet irgendwo weit draußen im dichten Nebel, der beständig aus der Tiefe aufsteigt.
Ein solches Bauwerk kann man nicht vollenden, wenn einem nicht von der gegenüberliegenden Seite entgegengebaut wird. Und wir haben niemals bisher ein Anzeichen dafür entdecken können, daß man auch drüben an einem solchen Projekt arbeitet. Es ist wahrscheinlich, daß man dort noch nicht einmal etwas von unseren Anstrengungen bemerkt hat.
Viele von uns bezweifeln sogar, daß es überhaupt eine gegenüberliegende Seite gibt. Diese Leute haben im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte eine von der alten orthodoxen Lehre abweichende eigene Kirche gegründet, deren Mitglieder mit dem Namen die Einseitigen bezeichnet werden. Ursprünglich handelte es sich dabei um einen Spottnamen, den die Orthodoxen ihnen gaben, später dann übernahmen sie ihn jedoch selbst und tragen ihn seither mit einem gewissen Stolz. Ihre Überzeugung hindert sie übrigens keineswegs daran, sich auch weiterhin mit allen Kräften am Brückenbau zu beteiligen, wie es unsere Ethik vorschreibt. Deshalb werden sie heute auch nicht mehr verfolgt, wie es zu früheren Zeiten bisweilen geschah, sondern gelten als gleichberechtigt, oder doch fast. Man erkennt sie an einem kleinen senkrechten Einschnitt im linken Ohrläppchen, durch den sie ihre Einseitigkeit bekennen. Die anderen dagegen, welche die orthodoxe Mehrheit bilden, nennen sich die Halben. Sie bezweifeln nicht das Vorhandensein einer anderen Seite, wissen aber, daß sie unerreichbar ist.
Obwohl die Brücke niemals über die Hälfte auf unserer Seite hinausgediehen ist, findet doch ein reger Verkehr auf ihr statt. Zu allen Tages- und Nachtzeiten kann man dort Fuhrwerke, Reiter, Fußgänger, Sänften und Lastenträger sehen, die in beiden Richtungen ziehen. Ohne Handelsbeziehungen mit der anderen Seite könnten wir heute nicht mehr existieren, denn alle Medikamente und ein großer Teil unserer Lebensmittel kommen von dort. Wir liefern ihnen dagegen irdene Gefäße aller Art, Ziegel, Metallgeräte und Erdwachs, das wir in unseren Bergwerken fördern.
Fremden ist es oft schwer begreiflich zu machen, daß wir diese Tatsache, die ihnen ein offensichtlicher Widerspruch zu sein scheint, ohne Schwierigkeit hinnehmen und mit ihr leben. Unsere Religion verbietet uns - und darin gibt es keinen Unterschied zwischen Einseitigen und Halben -, daran zu zweifeln, daß nur derjenige Teil der Brücke wirklich vorhanden ist, den wir selbst gebaut haben. Zeloten und Heresiarchen, die es hin und wieder in unserer Geschichte gegeben hat, wurden kurzerhand bis zu der Stelle geführt, wo unsere Brücke zuende ist, und gezwungen weiterzugehen. Natürlich stürzten sie in die Tiefe.
Wer nicht in unserem Land geboren und aufgewachsen ist, mag es schwierig finden einzusehen, daß die Voraussetzung für den Verkehr zwischen uns und der anderen Seite geradezu darin besteht, daß wir ihn aus tiefster Überzeugung für unmöglich halten. Würden wir ernstlich an diesem Fundament unserer Lehre rütteln, so müßte - dessen sind wir sicher, und alle unsere heiligen Bücher beweisen es - unverzüglich der von uns gebaute Teil der Brücke einstürzen und wir wären verloren. Reisende mögen also ihre Zunge im Zaum halten und nicht allzu hartnäckig das Geheimnis unseres Glaubens zu erforschen trachten. Sie laufen sonst Gefahr, dem selben Schicksal anheimzufallen wie jene Ketzer aus unserem eigenen Volk. Sie würden dann am eigenen Leib erfahren, daß unsere Brücke nicht fertig geworden ist und zwischen uns und der anderen Seite noch immer der Abgrund liegt.
Bei einer Eheschließung - deren es übrigens nicht wenige gibt - zwischen einer Tochter oder einem Sohn unseres Landes mit einer Tochter oder einem Sohn von drüben wird deshalb feierlich von der oder dem letzteren bekannt, nicht vorhanden zu sein. Der Unterschied in unseren beiden Konfessionen besteht lediglich darin, daß die Formel bei den Einseitigen lautet: «Ich bin von nirgendwo gekommen, denn den Ort meiner Herkunft gibt es nicht. Darum bin ich niemand, und so nehme ich dich zum Manne (zur Frau)», während es bei den Halben heißt: «Von dort, wo ich herkomme, konnte ich unmöglich kommen, darum bin ich nicht hier, und so nehme ich dich zum Manne (zur Frau).» Mit dieser Zeremonie erwirbt der Betreffende das volle Bürgerrecht in unserem Lande und gilt fortan als reale Person mit allen Rechten und Pflichten eines Ehepartners.