DAS INNERE EINES GESICHTS, MIT GESCHLOSSENEN AUGEN, SONST NICHTS.

Dunkelheit. Leere.

Heimkehren.

Heimkehren wohin?

Ich weiß es nicht mehr.

Wer-ich?

Ich bin krank vor Heimweh.

Erinnere dich!

Dorthin, woher ich einst gekommen bin. Heim.

Hast du eine Heimat? Bist du ihr Sohn?

Wer fragt?

Wer antwortet?

Jetzt sind die Augen geöffnet, aber dennoch ist da nur Dunkelheit und Leere.

Dafür also, denkt jemand, habe ich diese endlose Reise gemacht, diese Reise, die mich alles gekostet hat, was ich mir in all den Jahren erworben, erkämpft, erlitten habe. Alles, außer den Lumpen, die ich auf dem Leib trage. Dafür habe ich mich durch Wüsten und über Gebirge geschleppt, durch Frost und Hitze, habe Hunger, Durst und das Fieber der Sümpfe ertragen. Dafür habe ich mich durch Stacheldraht gewunden und bin über Dächer geflohen wie ein entkommener Sträfling. Was habe ich denn erwartet?

Nach Hause zu kommen. Und nun ist da nur diese Dunkelheit und Leere. Ich hätte es wissen müssen, daß man niemals zurückkehren kann. Ich bin nicht mehr, der ich war, darum ist nichts mehr, wie es war. Jetzt weiß ich es.

Jemand weiß es jetzt, aber er weiß es zu spät, denn nun kann er schon nicht mehr fortgehen. Er wird sich nicht mehr von der Stelle rühren. Er wird an diesem Fleck in der Finsternis verharren wie ein Stein.

Seine Hand tastet nach einer Uhr, die er schon lange nicht mehr hat. Aber wenigstens fühlt er jetzt seine Hände.

Diese Nacht, denkt er, kann doch nicht ewig dauern. Es muß bald auf den Morgen zugehen. Falls es überhaupt noch einmal morgen wird.

Die Kälte nimmt zu. Sie dringt in ihn ein, tiefer und tiefer. Er spürt sie in seinen Knochen. Er wehrt sich nicht gegen sie. Er ist einverstanden. Er überläßt sich ihr. Aber er wird sich nicht niederlegen, er steht aufrecht. Er wartet.

Also doch, denkt er nach langer Zeit, nun tagt es also doch. Und während er es denkt, begreift er, daß er selbst es ist, der die Welt um sich erschaffen muß, damit sie da ist.

Über dem Waldrand jenseits des Flusses entsteht ein heller Streif am Himmel, blaßgrün, darüber langgestreckt eine Wolke, schwer und

dunkel wie ausgelaufene Tinte. Kein Vogelruf, kein noch so fernes Geräusch. Totenstille. Die Landschaft liegt erstarrt. Sogar das Wasser des Flusses steht grau und reglos wie kaltes Blei.

Von ihm also hängt es ab, was da sein wird, was geschehen wird, und doch ist es nicht so, daß er schon begreift, was er wahrnimmt.

Vor dem Waldrand sieht er die Frau, die dort sitzt, groß und grau wie ein Felsblock. Sie strickt und strickt ohne Pause und ohne aufzublicken.

Sein ratloser Blick wandert hinüber zu dem steinernen Brückenbogen, der sich über den noch immer reglosen Fluß krümmt. Und nun erschrickt er und fürchtet sich. Dort stehen zwei Vermummte, ein großer und ein kleinerer, als hätten sie dort schon immer gestanden in ihren langen, graubraunen Mänteln, Köpfe und Gesichter in Tücher gewickelt, die Gewehre an Gurten über die Schultern gehängt. Er weiß nicht, wer diese beiden sind, doch er weiß, sie warten nur darauf, daß seine Frist abgelaufen ist. Dann werden sie über die Brücke kommen und sein Haus niederbrennen. Mein Haus, denkt er, nun endlich muß ich mein Haus sehen.

Er sieht es.

Es steht vor ihm auf dem freien Feld, wenige Schritte entfernt. Aber er erkennt es nicht. Er ist sicher, es nie zuvor gesehen zu haben. Nichts verbindet ihn mit diesem Gebäude, nicht die flüchtigste Erinnerung, nicht das zaghafteste Gefühl, heimgekehrt zu sein. Er findet es weder schön, noch häßlich, nur fremd. Es gleicht einem großen Taubenschlag. Für ihn ist es unbewohnbar. Es geht ihn nichts an.

Er versucht, es auszulöschen, um ein anderes an seine Stelle zu setzen, aber es bleibt, wo es ist. Es gelingt ihm auch nicht, etwas an ihm zu verändern. Statt dessen fühlt er, daß er gerade um dieses Hauses willen zur Verantwortung gezogen wird. Er hat Schuld auf sich geladen, schwere Schuld offenbar. Er zweifelt nicht daran, denn er fühlt immer deutlicher ihr Gewicht. Was hat er getan?

Er hat dieses Haus, sein Zuhause, verleugnet und im Stich gelassen. Er hat es verraten, weil er anderswo ein großer Mann geworden ist, ein gefürchteter Töter himmlischer Boten, ein berühmter Engeljäger. Denn auf diese Art Beute verstand er sich wie kein anderer. Wieviele Engel hat er erlegt und ausgewaidet und ihre schimmernden Schwungfedern und kostbaren Bälger an die mächtigen Herren der entzauberten Welt und ihre noch mächtigeren Damen verkauft, die ihre Festgewänder damit geschmückt haben! Er hat Netze ausgelegt und Fallen gestellt, und seine Geschosse haben stets so getroffen, daß das kostbare Federkleid nicht beschädigt wurde. Er ist reich geworden damit. Doch dann kam das Heimweh, und er hat alles zurückgelassen, um nach Hause zurückzukehren. Und nun steht er hier, fremder als in jeder Fremde, und in seiner langen Abwesenheit haben die Ratten von seinem Haus Besitz ergriffen, haben sich darin eingenistet und ausgebreitet wie eine tödliche Seuche. Das ist es, was er verschuldet hat.

Und nun soll er es bis Tagesanbruch reinigen, soll es von der Rattenpest heilen, sonst wird es niedergebrannt, und er selbst wird vernichtet werden.

Ich mache mir nichts vor, denkt er, es gibt keine Hoffnung. Ich hätte niemals zurückkommen dürfen.

Selbst wenn es ihm möglich wäre, ins Innere des Hauses zu dringen, wie soll er es fertigbringen, Hunderte, vielleicht Tausende von Ratten zu töten - und das mit bloßen Händen, denn seine Waffen hatte er nicht mitbringen können. Aber schon ins Innere des Hauses zu kommen, ist ganz unmöglich für ihn. Es gibt zwar Türen genug, ja eigentlich besteht das Haus vom Erdboden bis zum Giebel aus nichts anderem als offenen Türen - doch sind sie alle viel zu klein für ihn. Höchstens ein Marder könnte dort hineinschlüpfen oder eben eine Ratte, ein Mensch jedenfalls nicht.

Ich bin in der Fremde groß geworden, denkt er, nun habe ich keine Ahnung mehr, wie man es anstellt, wieder klein zu werden.

Er betrachtet das Haus. Jedes der Türchen hat eine Konsole, ein kleines Brett oder eine Stange vor seiner Schwelle. Aber nichts regt sich. Es steht da wie ausgestorben.

Er sieht oder hört auch keine der Ratten, aber er weiß, daß sie dort drinnen sind, daß sie sich vor ihm verkrochen haben und sich still halten. Auch sie warten. Sie warten darauf, daß er wieder fortgeht. Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß es mit ihnen aus ist, so oder so. Aber auch mit ihm ist es aus, es gibt keine Hoffnung.

Hat er denn keine Hilfe? Kein lebendiges Wesen, das ihm beisteht? Wird er nichts in sich finden, was er zu seiner Rettung erschaffen kann? Geschöpfe der Wildnis aus der Wildnis seines Herzens?

Da ist ein Wolf, grauschwarz, mächtig und ungestüm. Und ein zierlicher, verspielter Fuchs. Nein, denkt er, ich habe sie niemals gezähmt. Sie sind mir aus freien Stücken gefolgt. Eine seltsame Freundschaft, wahrhaftig, die sie irgendwann in der Wildnis mit mir geschlossen haben. Es dauerte lang, bis die beiden sich auch gegenseitig gelten ließen, aber schließlich haben sie Frieden untereinander gehalten. Sie haben mich überallhin begleitet, auch in den Städten, auch auf den Schiffen, auch auf dieser letzten Reise, die von allen die sinnloseste war. Sie haben mich niemals verlassen, sogar in dieser Nacht haben sie links und rechts von mir getreulich ausgeharrt, reglos wie Wappentiere.

Aber schon bereut er es, sie hervorgerufen zu haben. Was wird nun aus ihnen, denkt er, wenn' das Urteil an mir vollstreckt ist? Wird man sie in Käfige sperren? Wird man sie an Ketten legen? Oder wird man auch sie vernichten? Aber sie haben keinen Teil an meiner schlimmen Sache. Sie sind wild, aber unschuldig. Ich muß sie fortjagen, solange es noch Zeit ist. Also jetzt gleich.

Er legt seine Hände auf ihr Fell, das warm ist. Er beugt sich zu ihnen nieder und flüstert ihnen ins Ohr: Hört zu, meine beiden Tapferen, Schönen! Wir müssen uns trennen. Es ist besser so. Ihr müßt mich jetzt allein lassen. Ich kann euch nicht länger brauchen. Macht, daß ihr wegkommt! Verschwindet!

Aber der Fuchs und der Wolf rühren sich nicht von der Stelle, ganz als wären sie Statuen. Er muß etwas tun, was er noch niemals getan hat. Er tritt nach ihnen mit den Füßen, er schlägt sie mit Fäusten. Sie versuchen, seinen Hieben auszuweichen, aber sie laufen nicht fort.

Weg! keucht er und hat Mühe, ein Schluchzen zu unterdrücken, weg! Weg mit euch!

Sie klagen leise, bei jedem Tritt oder Schlag, der sie trifft, aber sie bleiben. Er beißt die Zähne zusammen und versucht es wieder und wieder. Besser, denkt er, sie sind für den Rest ihres Lebens ohne Vertrauen, aber frei und lebendig.

Endlich scheinen sie verstanden zu haben und hinken wimmernd davon. Aber sie fliehen nicht, sie laufen auf das Haus zu, ihr Nackenfell ist gesträubt. Er hört den Wolf wütend knurren und den Fuchs jilpen. Sie suchen nach einem Eingang, aber keines der Türchen ist groß genug, nicht einmal für den Fuchs. Wie rasend vor Wut kratzt der Wolf mit beiden Tatzen an einer der untersten Öffnungen. Er stößt mit aller Gewalt seinen Kopf hindurch, und nun sitzt er auch schon fest, kann weder vor noch zurück. Er stößt ein Geheul aus, einen langen, rauhen Schrei, und stemmt sich und reißt und drückt, seine Klauen wühlen den Boden auf, die Wand um die Öffnung gibt nach, Stücke bröckeln heraus, und er bekommt den Kopf frei. Schon ist der Fuchs lautlos und blitzgeschwind hineingeschlüpft.

In der plötzlichen Stille hört der heimgekehrte Niemandssohn sein eigenes Herz hämmern. Noch begreift er nicht, was seine Tiere da tun, doch eine törichte Hoffnung steigt in ihm auf, gegen die er nicht kämpfen kann.

Nein, denkt er, die Bedingung ist unerfüllbar. Selbst wenn es dem Fuchs gelingt, ein paar Ratten zu erjagen, was hilft das?

Der Wolf ist herbeigekommen, hat sich seitwärts von ihm niedergelegt und leckt seine blutigen Pfoten. Aus dem Haus ist ein ratloses Winseln zu hören. Für einen Augenblick erscheint die spitze Schnauze des Fuchses hinter einem der obersten Türchen nahe dem Giebel und verschwindet wieder.

Die beiden Vermummten auf der Brücke haben sich nicht geregt. Der Niemandssohn sucht mit seinem Blick ihre Gesichter, aber da ist nichts als Dunkelheit zwischen den Tüchern. Die große steingraue Frau strickt und strickt. Das Wasser des Flusses ist immer noch starr.

Was hat da eben geschrien wie im Todeskampf? War es der Fuchs? Ein unterirdisches Stöhnen kommt jetzt aus dem Inneren des Hauses, ein Schrillen dann, das immer mehr anschwillt, ein Fauchen und Sausen wie von Sturmwind, zuletzt ein vielstimmiges Brüllen, das plötzlich abbricht. Stille. Aus der aufgebrochenen Öffnung schießt der Fuchs wie eine rote Flamme hervor, rast auf seinen Herrn zu, überschlägt sich, jagt weiter aufs freie Feld, wo er wie toll geworden umhertobt.

Langsam nehmen die beiden Vermummten ihre Gewehre von den Schultern, laden durch und legen gelassen an. Sie zielen auf den Fuchs.

Nicht! schreit der Niemandssohn, nicht auf ihn!

Und mit ausgebreiteten Armen läuft er in die Schußlinie und vor die Mündungen. Zögernd lassen die Vermummten die Waffen sinken. Er wendet sich um.

Der Fuchs liegt ganz nah hinter ihm, hechelnd mit weit heraushängender Zunge, und blickt ihm mit schrägem Kopf entgegen. Der Blick seiner grünen Augen hat fast etwas Übermütiges. Mit einem Stoß seiner Schnauze dreht er einen kleinen Kadaver um, der zwischen seinen Pfoten liegt.

Der Niemandssohn nimmt die Beute auf und betrachtet sie. Ein schwarzer, nasser struppiger Balg, leer und schon kalt und fast ohne Gewicht, und doch etwas Entsetzliches, nicht weil es jetzt tot ist, sondern weil es einmal gelebt hat, weil es möglich war: Ein winziges, dreieckiges Gesicht, uralt, voller unbegreiflicher Bosheit selbst jetzt noch, verkrümmte Menschenhändchen mit langen spitzigen Klauen. Wenn dies eine Ratte ist, so hat er nie zuvor eine Ratte gesehen.

Er trägt das Ding auf beiden Händen ausgestreckt vor sich und geht auf die Vermummten zu. Fuchs und Wolf folgen ihm. So bleiben sie zu dritt vor der Brücke stehen.

Nach einer langen Stille hängen die beiden Vermummten ihre Gewehre wieder über die Schultern, und abermals nach einer langen Stille drehen sie sich um und gehen mit schweren, unsicheren Schritten davon.

Der Niemandssohn blickt ihnen nach, und nun quillt unversehens alle Hoffnung, die er nicht mehr zu haben glaubte, in ihm empor wie ein heißer Tränenstrom. Er fühlt Wärme aus seinen Knochen steigen, sie strömt in seine Glieder, in seine Brust, in seine Kehle, in seine Augen. Jetzt weiß er, daß seine Heimkehr erst begonnen hat. Die große steingraue Frau drüben am Waldrand hat aufgehört zu stricken. Ihre Hände liegen reglos im Schoß. Ihr bisher schattendunkles Gesicht ist nun erhellt vom Widerschein der Morgendämmerung, der sie es zugewandt hat. Sie blickt in ruhiger Erwartung zum immer leuchtenderen Himmel hinüber. Von dort her löst sich aus dem Licht, sehr fern noch und fast nur zu ahnen, doch schon in allen Kolibrifarben erglänzend, das erste schlagende Schwingenpaar.