DIE BAHNHOFSKATHEDRALE STAND AUF EINER GROSSEN SCHOLLE…

… aus schiefergrauem Gestein, die durch den leeren, dämmernden Raum dahinschwebte.

Es gab noch andere solche Inseln, größere oder kleinere, die in verschieden großem Abstand hinzogen, manche so fern, daß man nicht mehr erkennen konnte, was auf ihnen vorging, andere gerade nahe genug, daß es möglich war, sich Zeichen zu geben. Manche hatten dieselbe Geschwindigkeit, blieben also immer gleich weit voneinander entfernt, andere fuhren langsamer oder schneller dahin, so daß sie vorauseilten oder zurückblieben, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Die meisten schienen unbewohnt oder waren jedenfalls dunkel, nur wenige waren illuminiert wie die^ auf der die Bahnhofskathedrale stand, ein babylonisches Bauwerk von verwirrenden Ausmaßen, noch lange nicht fertig, wie die vielen Gerüste erkennen ließen. Aus den filigranartig durchbrochenen Mauern strahlte und glitzerte Licht. Orgelmusik ertönte aus dem Inneren.

Eine Lautsprecherstimme dröhnte: «Achtung, Achtung! Anschlußreisende! Der Ersatzzug aus Richtung d sigma hoch zwo wird fahrplanmäßig zum Zeitpunkt / plus dt auf Gleis et einlaufen…»

In der Bahnsteighalle wogten graue Menschenmassen hin und her, drängten sich in Strömen aneinander vorbei, schleppten Lasten, schrieen, gestikulierten und verkeilten sich ineinander. Da und dort hockten Gruppen auf dem Boden oder auf Bergen von notdürftig zusammengeschnürtem Gepäck, Schachteln, Kisten und Bündeln. Alle diese Leute waren in schmutzige Fetzen gekleidet, Lumpengesindel, Bettelvolk, verlaust, triefäugig, schorfig, verkommen. Aber die Körbe, Koffer und Säcke, die sie bei sich hatten, quollen über von Geldscheinen. Gepäckkarren, die mühsam zwischen ihnen durchgeschoben wurden, waren hoch mit Stapeln gebündelter Banknoten beladen.

Am äußersten Rande eines Bahnsteigs, dort wo die Halle sich nach außen öffnete und etwa ein Dutzend Gleise in den leeren Raum hinausragte, stand ein Feuerwehrmann und blickte mit ratlosen Augen auf das Treiben. Er trug eine dunkelblaue Uniform mit blankgeputzten Messingknöpfen, den Helm mit dem ledernen Nackenschutz auf dem Kopf, das blinkende, vernickelte Beil im Halfter am Gürtel. Ein dicker schwarzer Schnauzbart zierte seine Oberlippe.

Ganz in seiner Nähe mühte sich ein schmächtiges junges Weib mit einer großen Reisetasche ab, die es kaum zu schleppen vermochte. Es war in eine Art Büßergewand, eine Mönchskutte aus schwerem, schwarzem Stoff gekleidet, die völlig zerschlissen war. Die Kapuze umrahmte ein bleiches, asketisch mageres Gesicht mit brennenden Augen.

Der Feuerwehrmann näherte sich der jungen Frau.

«Gestatten Sie?» fragte er, «kann ich Ihnen behilflich sein?»

Sie ließ es verwundert zu, daß er ihr die Tasche aus der Hand nahm und sich auf die Schulter lud. «Wohin?»

«Hören Sie die Orgel?» sagte sie. «Bald bin ich an der Reihe. Ich muß in die Schalterhalle.»

Er ging voraus, stieg über einige am Boden schlafende Elendsgestalten weg, die mit den Köpfen auf Bündeln von Geldscheinen lagen.

«Was ist das hier eigentlich?» rief er zurück, «ich meine, wie heißt die Station?»

«Zwischenstation», antwortete sie.

«Ah?» machte er und warf ihr einen Blick von der Seite zu, denn er war nicht sicher, ob er im Lärm richtig verstanden hatte. «Für Sie auch? Ich bin nämlich nur auf der Durchreise hier, Gott sei Dank! Ich steige hier nur um.»

«Das glauben alle», erwiderte sie, «ich habe es auch geglaubt. Aber die Zwischenstation ist die Endstation -jedenfalls solange der Zauber hier nicht aufhört. Und er hört nicht auf. Er hört nicht auf.»

Der Lautsprecher dröhnte: «Dreizehntausendsiebenhundertelf … dreizehntausendsiebenhundertzehn…»

Eine Gruppe von vogelscheuchenartigen Figuren drängte sich zwischen sie und trennte sie. Als die junge Frau sich wieder zu ihm durchgekämpft hatte, sagte sie hastig: «Wir werden niemals ankommen. Keiner hier. Das wissen Sie so gut wie ich, nicht wahr?»

«Was soll ich wissen?» fragte er und hob die schwere Reisetasche auf die andere Schulter, «ich weiß gar nichts.»

«Daß keine Züge ankommen und keine abfahren. Alles Lüge!»

«Unsinn!» gab er zurück, «ich bin vor kurzem erst angekommen und habe nicht die Absicht, hier zu bleiben. Ich habe hier nichts zu suchen.»

Sie ließ ein kleines, unfrohes Lachen hören. «Wirklich? Das wird sich zeigen. Wohin wollen Sie denn reisen?»

«Zu einem Fest…» sagte er unsicher, «einer Parade oder sowas… ich soll eine Auszeichnung bekommen… glaube ich.» Ein wenig ärgerlich schloß er: «Verzeihen Sie, aber das geht Sie eigentlich nichts an.»

Beide wurden sie von Bettelvolk hin und her gestoßen, und die junge Frau klammerte sich an seinem Arm fest.

«Niemand wird ankommen!» schrie sie ihm ins Ohr, «niemand! Niemand!»

Sie mußten einem eisernen Karren mit quietschenden Rädern ausweichen, den ein riesiger Lumpenkerl mit kahlem, pustelbedecktem Kopf auf sie zu schob. Auf dem Karren lag ein himmelblauer Kindersarg. Der Deckel stand halb offen, der Sarg quoll von Geldscheinen über. Der Feuerwehrmann starrte darauf hin und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn, der ihm plötzlich ausbrach. Er ging hastig weiter und drängte nun seinerseits eine Gruppe von Hungerleidern grob auseinander.

Er und die junge Frau hatten jetzt fast den großen Torbogen erreicht, der den Eingang in die Schalterhalle bildete. Die Orgelmusik war hier so mächtig, daß die Verständigung schwierig wurde. Als sie einen Moment abbrach, sagte er: «Wissen Sie was? Ich höre den Wecker in Ihrer Reisetasche ticken.»

Sie wurde noch eine Spur bleicher.

«Das ist kein Wecker», antwortete sie mit spröder Stimme.

«Zwölftausendneunhundertdrei…», dröhnte der Lautsprecher, «zwölftausendneunhundertzwei … zwölftausendneunhunderteins…»

Als sie sich gegen einen Menschenstrom in die große Schalterhalle durchgewühlt hatten, setzte er die Reisetasche ab. Sie standen gegen einen Pfeiler des Torbogens gedrängt nebeneinander.

Die Schalterhalle war riesig und verlor sich nach oben in der Dunkelheit. Auf der linken Seite lag eine Art Apsis, rechts war auf halber Höhe ein Zwischengeschoß eingezogen, auf dem groß wie ein Gebirge die Orgel aufragte. Hoch in der Apsis befand sich anstelle der Rosette eine große Uhr, deren Zifferblatt von hinten erleuchtet war, doch fehlten die Zeiger. Darunter, auf erhöhter Ebene, stand der Altar, in dessen Mitte sich das Tabernakel erhob. Es hatte die Gestalt eines mächtigen Tresors mit fünf Nummernschlössern auf der Tür, die als umgekehrtes Pentagramm angeordnet waren. Nicht nur der Altar und das Tabernakel, sondern jeder Vorsprung, jede Balustrade, jede Stelle, die es nur irgend zuließ, war mit flackernden Kerzen beklebt. Überall hatte das rinnende Wachs erstarrte Kaskaden, Tropfenbärte und Zapfen gebildet. Hunderte von verschieden hohen Leitern lehnten rings an den Wänden. Das Gedränge der Elenden war in dieser Halle eher noch fürchterlicher als draußen bei den Gleisen. Die Massen bildeten regelrechte Strudel und Ströme, die gegeneinander brandeten. Die Luft war heiß wie in einem Backofen, Rauch- und Staubschwaden zogen umher, es roch nach Schweiß und Müll.

Vor dem Altar hopsten wie in einem Tanzritual beständig einige arme Schlucker in knöchellangen, schmutziggrauen Kitteln herum, groteske Gestalten mit Traubennasen, Kröpfen, Buckeln, Hängebäuchen, beulenbedeckten Nacken, zahnlosen Mündern und verkrüppelten Gliedern. Sie hantierten mit allerlei Gerät oder machten mit den Fingern Zeichen über die Köpfe der Menge weg wie Börsenmakler. Von Zeit zu Zeit wurde der Tresor geöffnet, dann fiel eine Ladung gebündelter Geldscheine heraus. Einer der Schlemihle nahm ein solches Bündel, hielt es feierlich mit beiden Händen hoch und zeigte es der Menge. Diese sank auf die Knie, die Orgel brauste gewaltig, und ein tausendstimmiger Chor schrie: «Wunder und Geheimnis!» Die Bündel wurden an die vorderen Reihen der Elendsgestalten verteilt und der Tresor geschlossen. Das Ritual begann unverzüglich wieder von neuem. Die Empfänger schlugen sich durch die Menge, um ihren Gewinn in Sicherheit zu bringen, und die Nachdrängenden nahmen ihre Plätze ein. Auf den Leitern turnten fortwährend behende Handlanger auf und ab und deponierten die Geldscheinbündel irgendwo hoch droben an den Wänden.

Erst jetzt bemerkte der Feuerwehrmann, daß sämtliche Mauern, sämtliche Säulen und Pfeiler, auch der des Torbogens, gegen den er gedrängt stand, aus solchen aufgetürmten Geldscheinbündeln bestanden. Die ganze Kathedrale war aus Papiergeldziegeln errichtet. Und weiter und weiter wurde an ihr gebaut, denn jedes Öffnen des Tabernakels spie neue Mengen aus. Die tausend und abertausend Kerzenflammen tanzten und wehten, und das Wachs rann und tropfte.

«Gott im Himmel!» murmelte er, «das ist gegen jede Sicherheitsvorschrift! Das ist hellichter Wahnsinn!»

Er nahm seinen Helm ab und wischte mit dem Taschentuch das Innenleder trocken. Seine Jacke hatte er aufgeknöpft. Die Orgel verstummte.

«Würden Sie mir einen Gefallen tun?» fragte die junge Frau, die ihn schweigend beobachtet hatte, «ich muß rasch auf die Empore. Es wird nicht lang dauern. Könnten Sie inzwischen auf meine Tasche achtgeben?»

Er nickte abwesend, ohne seinen Blick von den endlosen Reihen der Kerzenflammen lösen zu können, und sagte: «Das kann nicht gutgehen.»

Ein schlitzohrig aussehender Kerl mit einem Bauchladen stand plötzlich vor ihm. Er hatte einen runden, steifen Hut auf, und seine Wangen waren so ausgehöhlt, daß sie nahezu wie Löcher erschienen. In dem Bauchladen befanden sich etliche Stapel geschlossener Couverts.

«Das Glück läuft Ihnen nach, Herr Feuerwehrhauptmann!» sagte der Kerl mit schiefem Lächeln, «weisen Sie es nicht von sich! Lassen Sie sich die einmalige Gelegenheit nicht entgehen, sie kommt nicht wieder! Ergreifen Sie Ihre Chance!»

«Das Glück?» fragte der Feuerwehrmann, «was meinen Sie damit?»

Der Kerl sah ihn aus fischigen Augen an, seine Hände fuhren nervös über die Couverts. «Es kostet Sie nichts. Es ist alles umsonst. Greifen Sie zu!»

«Umsonst?» Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf. «Hören Sie, ich fürchte, ich bin nicht reich genug, um mir etwas leisten zu können, das nichts kostet.»

Der Ganove kicherte. «Richtig, die Geheimnisse des wahren Profits erscheinen oft paradox. Aber vertrauen Sie mir, Herr, und greifen Sie zu! Ich verspreche Ihnen, Sie werden bald so viel Geld haben, daß Sie sich's leisten können, akzeptiert zu haben!»

«Was haben Sie denn da?»

Der Halunke verzog sein Gesicht von neuem zu einem Lächeln. «Mein Herr, ich biete Ihnen hier die letzten Aktien der Bahnhofskathedrale an. Wenn Sie sie nehmen -unentgeltlich, wie gesagt-, haben auch Sie Ihren sicheren Anteil an der Wunderbaren Geldvermehrung.»

«Nein, danke», antwortete der Feuerwehrmann, «ich möchte keinen Anteil daran haben. Ich bin nur auf der Durchreise hier. Ich möchte sobald wie möglich Weiterreisen.»

«Das wollten alle», sagte der Kerl, «aber dann haben sie sich's anders überlegt. Sie sehen ja, wieviele es sind, die ihren Vorteil wahrzunehmen verstehen, und es werden immer noch mehr. So viele gescheite Leute können sich doch wohl nicht irren - oder halten Sie sich selbst für so viel klüger?»

«Außerdem», fuhr der Feuerwehrmann unbeirrt fort, «wird das hier sowieso nicht lang dauern. Es wird bald ein schlimmes Ende nehmen.»

«Da irren Sie sich!» rief der andere, «die Wunderbare Geldvermehrung wird immer weitergehen. Sie hört niemals auf. Und solang sie nicht aufhört, will niemand abreisen. Und solang niemand abreisen will, gehen keine Züge. Alles wird bleiben, wie es ist! Wollen Sie nicht doch ein paar Aktien? Wenigstens zwei oder drei?»

«Nein!» schrie ihn der Feuerwehrmann an.

«Schon gut, schon gut!» Der Ganove hob beschwichtigend die Hände. «Aber beschweren Sie sich später nicht bei mir! Ich habe es Ihnen gesagt.»

Er lüpfte den Hut und verschwand eilig im Gedränge.

«Zehntausendsiebenhundertneun…», brüllte der Lautsprecher «zehntausendsiebenhundertacht … zehntausendsiebenhundertundsieben…»

Die Orgelmusik setzte wieder ein, diesmal gedämpft. Die Melodie klang nach einem alten Choral, doch war nur eine einzige Frauenstimme zu hören. Sie schwebte warm und stark durch den riesigen Raum. Niemand achtete darauf, nur der Feuerwehrmann blickte erstaunt zu der Empore hinauf, wo sie herkam. Er erkannte die junge Frau im schwarzen Mönchsgewand, die dort oben am Geländer stand und sang.

«Eine Künstlerin!» flüsterte er, «eine wahre Künstlerin! Das hätte ich nie gedacht.»

Er war so von der Schönheit der Stimme gefangen, daß er zunächst nicht auf die Worte des Liedes achtete. Ein eigentümliches Beben in ihr berührte ihn beinahe körperlich im tiefsten Inneren. Besonders wenn sie von der Höhe in die Tiefe umschlug, war es ein kleiner hysterischer Bruch, der ihn regelrecht in die Herzgrube traf. Er lauschte hingerissen, und nun drangen auch die Worte in sein Bewußtsein:

«Wanderer im Weltgetriebe, ziellos in der Zeit sind wir. Nur durch selbstlos reine Liebe kommst du an im Jetzt und Hier. Seele, mache dich bereit: Jetzt und Hier ist Ewigkeit!»

Danach trat sie zurück und war seinen Blicken entschwunden. Die Orgel brauste von neuem und variierte das Thema. Auf der anderen Seite, am Altar, wurde wieder das Tabernakel geöffnet, und Stöße von Geldbündeln fielen heraus.

«Zehntausendfünfhundertachtzehn…», dröhnte der Lautsprecher, «zehntausendfünfhundertsiebzehn…»

Ein Bettelweib mit einer Kiepe voller Geldscheine stellte im Vorüberdrängen die Spitze einer ihrer Krücken auf den Fuß des Feuerwehrmannes und weckte ihn aus seiner Verzauberung. Er schaute sich nach der Reisetasche der Sängerin um, die sie ihm in Obhut gegeben hatte, und mußte zu seinem Schrecken feststellen, daß sie verschwunden war. Er drängte sich durch die Menge des Lumpengesindels, suchte und spähte umher, konnte sie aber nirgends entdecken. Offensichtlich war sie gestohlen worden, während er dem Gesang gelauscht hatte, vielleicht auch schon früher, als er von dem Bauchladenmann ins Gespräch verwickelt worden war. Er verfluchte sich wegen seiner Unaufmerksamkeit. Jedenfalls mußte er der jungen Frau sofort Bescheid geben.

Er warf sich in die schreiende Masse des Gelichters, wurde1 von einem Mahlstrom erfaßt und mitgerissen und landete schließlich, rudernd und um sich stoßend, am Fuß der Treppe, die zur Empore führte. Als er versuchte hinaufzusteigen, wurde er von ein paar verschlagen aussehenden Burschen überwältigt, die ihm, ehe er noch recht begriffen hatte, was geschah, die Arme auf den Rücken drehten.

«Bist du Aktionär?» fragte einer.

Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf.

«Was willst du dann hier?»

«Ich muß der Sängerin etwas sagen. Es ist dringend. Lassen Sie mich gefälligst los!»

Die Burschen wechselten Blicke, dann schoben sie ihn vor sich her die Treppe hinauf. Auch hier waren wie überall Kerzen aufgestellt, sogar auf dem Geländer und auf den Stufen.

Oben am Orgeltisch saß ein mächtiger Mann mit nacktem, schweißnassem Oberkörper vor der Tastatur. Sein langes, graues Haar und sein Bart waren ein verfilztes, fettiges Gestrüpp, sogar auf den Schultern und dem Rücken wuchs ihm ein borstiges Fell. Rittlings auf seinem Schoß, die Arme um seinen Nacken geklammert, saß die junge Frau. Ihre schwarze Kutte war bis zur Hüfte hochgerafft, darunter war sie nackt. Ihr Gesicht war von Schweiß und Tränen überströmt. Sie hielt die Augen geschlossen, den Mund wie zu einem unhörbaren Schrei aufgerissen, während er mit weitausholenden Bewegungen seiner Arme und Beine das Instrument bearbeitete. Die Töne ließen die ganze Empore vibrieren.

Die Kerle stießen den Feuerwehrmann weiter, so nahe an das Paar heran, daß sein Gesicht fast das ihre berührte. Jetzt hörte er, daß die beiden schreiend miteinander sprachen.

«Ist es schon dunkel?»

«Noch nicht, Liebster.»

«Sobald es dunkel ist, hauen wir ab.»

«Ja, Liebster.»

«Mach dir keine Sorgen, Kleine. Wir kommen hier 'raus, ich hab dir's versprochen. Ich bin bis jetzt noch überall 'rausgekommen. Jedenfalls der größte Teil von mir. Im Dunkeln bin ich im Vorteil.»

«Es wird nie dunkel werden!» schrie sie, «das wird nie aufhören! Wir werden nie ankommen!»

«Entschuldigung!» rief der Feuerwehrmann,

«ich… ich möchte nicht stören, tut mir leid. Es ist nur wegen Ihrer Tasche. Sie ist leider gestohlen worden.»

«Na und?» antwortete die junge Frau, ohne die Augen zu öffnen, «ich wäre nur froh, wenn ich sie los wäre. Deswegen habe ich sie Ihnen ja in Obhut gegeben. Aber es wird mir nichts helfen. Sie kehrt immer wieder zu mir zurück. Ich habe schon alles versucht.»

Der Mann brach das Orgelspiel ab. Langsam wendete er den Kopf und fragte: «Mit wem redest du, Kleine? Wer ist da?»

«Ich weiß nicht», antwortete sie, noch immer mit geschlossenen Augen, «irgendwer.»

Der Feuerwehrmann sah das Gesicht des Organisten und erschrak. Beide Augenhöhlen waren leer, das Nasenbein eingeschlagen. Die Narbe einer fürchterlichen Wunde teilte das Gesicht quer in zwei Hälften.

«Sag ihm, er soll verschwinden», sagte der Mann, «und zwar sofort.»

«Ja, natürlich», stammelte der Feuerwehrmann verwirrt, «ich dachte nur… wegen der Tasche… vielleicht müßte man eine Anzeige … sicherlich ist doch allerhand drin… ich meine, wertvolle Dinge.»

Die Frau sprach weiterhin mit geschlossenen Augen. «Sie haben's doch ticken gehört, nicht wahr?»

«Ja ja», antwortete er, «den Wecker.»

Sie schüttelte langsam den Kopf. «Eine Bombe. Was Sie da für mich herumgeschleppt haben, ist eine Bombe mit Zeitzünder. Sonst ist nichts in der Tasche.»

Der Feuerwehrmann schluckte ein paar Mal, ehe er die Sprache wiederfand.

«Aber … aber sowas trägt man doch nicht stundenlang mit sich herum!»

«Stundenlang?» wiederholte sie, und der Blinde lachte tonlos. «Sie sind wirklich ein echter Feuerwehrmann! Ich habe Ihnen doch gesagt: Sie kehrt immer zu mir zurück. Seit Jahren! Ich kann machen, was ich will. Manchmal war ich schon so erschöpft, daß ich…»

«Aber um Gottes willen!» Die Stimme des Feuerwehrmannes überschlug sich. «Die Bombe kann doch jeden Augenblick explodieren!» «Richtig», sagte sie.

«Und all diese Leute hier! Man muß das Ding sofort entschärfen!»

«Versuchen Sie's», sagte sie. «Um die Bombe zu entschärfen, muß man die Tasche öffnen. Und wenn man sie öffnet, explodiert sie.» «Dann muß man sie eben wegschaffen!» «Suchen Sie sie nur!» antwortete die Frau. «Sie werden sehen, es hilft nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Man kann nur warten, bis es soweit ist.»

Jetzt öffnete sie zum ersten Mal die Augen, die vom Weinen verschwollen waren.

«Übrigens«, setzte sie leise hinzu, «sie war nicht für hier bestimmt, nicht für die Zwischenstation.»

Noch während sie das sagte, ließ sich der Mann mit ihr von der Bank fallen, und beide wälzten sich auf dem Boden hin und her. Sie umklammerte seine Hüften mit ihren Beinen und schrie mit verdrehten Augen: «Ich will ankommen! Verstehen Sie denn nicht, ich will endlich ankommen! Sonst will ich nichts, nur ankommen!»

In ihrer Raserei stießen sie einige Leuchter um, die Kerzen rollten über den wachsbespritzten Papiergeldboden, der sofort an mehreren Stellen zu brennen begann. Der Feuerwehrmann riß sich die Jacke vom Leib und schlug damit auf die Flammen ein, doch dadurch tränkte sich auch die Jacke mit flüssigem Wachs und fing ebenfalls Feuer. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, den Brand zu ersticken. Als er sich aufatmend umsah, fand er sich allein auf der Empore. Mißmutig betrachtete er seine Jacke, die ruiniert und an mehreren Stellen angekohlt war. «Eigentlich», brummte er, «wollte ich hier ja nur umsteigen.»

«Achttausendneunhundertsiebenundzwanzig…» dröhnte der Lautsprecher, «achttausendneunhundertsechsundzwanzig … achttausendneunhundertfünfundzwanzig …

Auf der anderen Seite, am Altar, war die Wunderbare Geldvermehrung inzwischen unbeeinträchtigt weitergegangen. Niemand aus der Menge des Bettelvolks hatte den Vorgängen auf der Empore Beachtung geschenkt. Auf einer Kanzel zur Linken des Altars stand jetzt ein ausgemergelter Greis. Eine ungeheure Hakennase in seinem Gesicht gab ihm das Aussehen eines Geiers. Er hatte sich eine Art Mitra aus Papier auf den Kopf gesetzt und predigte mit weitausholenden Armbewegungen.

«Mysterium aller Mysterien - und selig ist, wer daran teil hat! Geld ist Wahrheit und die einzige Wahrheit. Alle müssen daran glauben! Und euer Glaube sei unverbrüchlich und blindlings! Erst euer Glaube macht es zu dem, was es ist! Denn auch das Wahre ist eine Ware und untersteht dem ewigen Gesetz von Angebot und Nachfrage. Darum ist unser Gott ein eifersüchtiger Gott und duldet keine anderen Götter neben sich. Und doch hat er sich in unsere Hände gegeben und sich zur Ware gemacht, auf daß wir ihn besitzen können und seinen Segen empfangen…»

Die Stimme des Predigers war hoch und schrill und im allgemeinen Lärm kaum zu hören. Der Feuerwehrmann kämpfte sich durch die Menge nach vorn. Überall, wo er brennende Kerzen in seiner Reichweite fand, löschte er sie aus. Erstaunte, verstörte und wütende Blicke trafen ihn. Er kümmerte sich nicht darum. Er fuhr in seinem Tun fort, obgleich er wußte, daß es sinnlos war, denn kaum war er vorüber, wurden die Kerzen wieder entzündet. Mehr und mehr bemächtigte sich seiner ein dumpfer Zorn.

«Das Geld vermag alles!» rief der Prediger, «es verbindet die Menschen miteinander durch Geben und Nehmen, es kann alles in alles verwandeln, Geist in Stoff und Stoff in Geist, Steine macht es zu Brot und schafft Werte aus dem Nichts, es zeugt sich selbst in Ewigkeit, es ist allmächtig, es ist die Gestalt, in der Gott unter uns weilt, es ist Gott! Wo alle sich an allen bereichern, da werden am Ende alle reich! Und wo alle auf Kosten aller reich werden, da zahlt keiner die Kosten! Wunder aller Wunder! Und wenn ihr fragt, liebe Gläubige, woher kommt all dieser Reichtum? Dann sage ich euch: Er kommt aus dem zukünftigen Profit seiner selbst! Sein eigener zukünftiger Nutzen ist es, den wir jetzt schon genießen! Je mehr jetzt da ist, desto größer ist der zukünftige Profit, und je größer der zukünftige Profit, desto mehr ist wiederum jetzt da. So sind wir unsere eigenen Gläubiger und unsere eigenen Schuldner in Ewigkeit, und wir vergeben uns unsere Schulden,' Amen!»

«Aufhören!» schrie der Feuerwehrmann und klomm die Treppe der Kanzel hinauf. «Schluß! Aus! Hört sofort auf! Das alles ist völlig unverantwortlich, was hier los ist. Ich untersage die Fortsetzung der Veranstaltung! Alle Anwesenden werden dringend aufgefordert, das Gebäude zu räumen. Es besteht höchste Lebensgefahr…»

Es war plötzlich totenstill in der riesigen Schalterhalle.

«Ein Ungläubiger!» rief einer der Halunken am Altar. «Wie kommt hier ein Ungläubiger herein?»

«Haben Sie Aktien?» schrie ihn der Prediger an.

«Das ist jetzt vollkommen gleichgültig!» brüllte der Feuerwehrmann zurück, «nehmen Sie doch Vernunft an - in Ihrem eigenen Interesse!»

«Ein Ungläubiger!» heulte die Menge los, «ein Lästerer! Schlagt ihn tot!»

Ein ungeheurer Tumult brach los. Humpelnde Elendsgestalten kamen die Treppe der Kanzel herauf, Hände griffen nach dem Feuerwehrmann, würgten ihn, schlugen auf ihn ein, stießen ihn über die Kanzelbrüstung, er fiel und schlug hart auf den Boden darunter auf, Hiebe von Krücken und Stöcken hagelten auf ihn nieder, Füße traten nach ihm und stampften auf ihm herum, bis er sich nicht mehr regte.

«Sechstausenddreihundertvierzehn…».dröhnte der Lautsprecher, «sechstausenddreihundertdreizehn … sechstausenddreihundertzwölf…»

Es verging eine Weile, ehe der Feuerwehrmann wieder zu sich kam und sich aufsetzen konnte. Sein Kopf schmerzte, sein linkes Auge war zugeschwollen, er blutete aus Mund und Nase. Er bemerkte, daß ihm der Helm abhanden gekommen war. Jacke und Hose waren in Fetzen gerissen. Jetzt sah er selber aus wie eine der Elendsgestalten, die wieder um ihn her drängten, aber sich nicht mehr um ihn kümmerten. Er versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder auf alle viere nieder. Alles drehte sich um ihn her, und ihm wurde sterbensübel. Er erbrach sich.

Etwas später kroch er zwischen den Füßen der Menge herum und entdeckte schließlich an einer der Wände einen Beichtstuhl, der durch das herabrinnende Wachs zu einer Art Tropfsteingrotte geworden war. Mit großer Anstrengung zog er sich hinein, schloß die Tür, lehnte sich in die Ecke und verlor von neuem das Bewußtsein.

Er wußte nicht, wieviel Zeit er so gesessen hatte, als ein leises Geräusch nahe seinem Ohr ihn erwachen ließ. Der Lärm und das Geschrei draußen in der Halle war heftig wie zuvor, aber dieses Geräusch kam durch das kleine Gitter der Zwischenwand, die den Beichtstuhl in zwei Zellen teilte, und es klang wie das verzweifelte, leise Schluchzen eines Kindes. Das überraschte den Feuerwehrmann, denn Kinder hatte er bisher in der ganzen Bahnhofskathedrale nicht bemerkt. Er versuchte durch die Löcher des Gitters zu spähen, konnte aber nichts sehen. Statt dessen vernahm er aus dem Schluchzen halb geflüsterte Worte:

«Lieber Gott, wo bist du…? Und wo ist die Welt geblieben …? Ich kann sie nicht finden … Sie ist nicht mehr da … ich bin schon tot … und bin überhaupt noch nicht zur Welt gekommen…»

«Du, wer bist du?» fragte der Feuerwehrmann, «ich wollte nicht zuhören, aber ich war die ganze Zeit hier. Entschuldige bitte! Ich möchte dir nur sagen: Das hier ist nur eine Zwischenstation, es gibt nämlich … Hallo, du da drüben! Hörst du? Willst du nicht mit mir reden?»

Aber auf der anderen Seite blieb es still. Er öffnete die Tür des Beichtstuhls, um auf der anderen Seite nachzusehen, aber da war niemand. Auf dem Platz stand nur die große, schwere Reisetasche.

Das einzige, was dem Feuerwehrmann von seiner Ausrüstung noch verblieben war, war das blinkende Beil an seiner Seite. Er nahm es aus dem Halfter.

«Jetzt und hier!» sagte er laut. «Jetzt und hier!»

Mit der spitzen Rückseite des Beils zerbrach er das Schloß der Reisetasche, dann öffnete er sie langsam und mit größter Behutsamkeit. Sie war leer.

Er richtete sich auf. Kalter Schweiß rann ihm von den Schläfen über die Wangen.

«Siebenhundertachtundsechzig…», dröhnte der Lautsprecher, «siebenhundertsiebenundsechzig … siebenhundertsechsundsechzig…»

Und leise, aber deutlich und unverwechselbar, war nun hinter der teilnahmslosen Stimme, die die Zahlen aufsagte, das Ticken zu hören. Es wurde immer lauter und bedrohlicher.

Der Feuerwehrmann kämpfte sich aus der Kathedralenhalle hinaus. Ein paar Mal wurde er wieder zurückgedrängt, aber nach einiger Zeit gelang es ihm doch, die Bahnsteige zu erreichen. Die Lautsprecherstimme zählte jetzt ununterbrochen, das Ticken hämmerte.

«Hundertdreiundfünfzig … hundertzweiundfünfzig … hunderteinundfünfzig … hundertfünfzig … hundertneunundvierzig…»

Als er schließlich die Stelle wieder erreichte, wo die Gleise in den leeren Raum hinausragten, fand er dort das Büßergewand liegen, das die junge Frau getragen hatte. Er hob es auf und setzte sich am äußersten Rand des Bahnsteigs nieder.

In weiter Ferne sah er, wie Abendwolken andere Inseln durch den dämmernden Raum ziehen, manche dunkel, manche erleuchtet wie die, auf der die Bahnhofskathedrale stand.

«Vielleicht ist doch ein Zug abgefahren», sagte der Feuerwehrmann in die Leere hinaus, «ich weiß nicht, wohin sie wollte, aber vielleicht ist sie inzwischen angekommen…»

Und während seine Hände über den schweren, schwarzen Stoff des zerschlissenen Kleides strichen, hörte er zu, wie das Ticken im Lautsprecher unerträglich laut wurde und die teilnahmslose Stimme die letzten Zahlen herunterzählte:

«Sieben … sechs … fünf … vier … drei … zwo … eins … null…»