HAND IN HAND GEHEN ZWEI EINE STRASSE HINUNTER:

Eine große dunkle Gestalt, die eine kleine helle führt. Die große ist ein Dschin in langer schwarzbrauner Kutte. Sein kupfernes, grünspanüberzogenes Gesicht blickt schwermütig unter der Kapuze hervor wie das eines uralten Affen. Seine Hand ist schwarz und schuppig, die klauenartigen Finger sind nach allen Seiten verkrümmt, dennoch halten sie behutsam eine andere Hand, eine kleine, die weich ist und weiß, die Hand eines Kindes, eines zartgliedrigen Knaben in weißem Matrosenanzug mit knielangen Hosen und schwarzen Schnürstiefelchen. Die runde Mütze mit den Bändern sitzt auf dem Hinterkopf und umrahmt das Kindergesicht wie ein Heiligenschein.

Die Straße, auf der sich die beiden ohne Eile fortbewegen, erstreckt sich schnurgerade und immer abfallend bis zum Horizont. Die ganze Fläche der Erde ist schräg gestellt. Die Häuserzeilen zur Linken und zur Rechten zeigen ehemals prächtige, balustraden- und figurengeschmückte Fassaden, die schon seit langem verfallen, von Mauerschwamm zersetzt und von Schimmelflecken überwuchert sind. Geruch von Fäulnis, Kot und Miasma steht in glasiger Luft. In der Stille klingt nur der Widerhall von den Schritten des Kindes. Der Dschin macht kein Geräusch, er gleitet neben dem Knaben her wie eine hohe Säule aus wirbelnden Insekten.

Der Knabe bleibt stehen und sagt: «Kehren wir um! Ich habe keine Lust mehr.»

Der Dschin nickt traurig. «Ja, es ist nicht lustig hier. Aber wir sind nicht zu deinem Vergnügen gekommen. Du mußt jetzt zur Schule gehen - und dies ist deine erste Unterrichtsstunde.»

«Ich mag aber nicht!» ruft das Kind trotzig. «Ich will fort von hier.»

Auf der wulstigen Stirn des Dschin schwillt eine Ader an. «Wir bleiben!» sagt er mit bronzener Stimme. Dann, nach einer Weile, fügt er sanfter hinzu: «Für diesmal wird es nicht lang sein.»

Erstaunt hebt der Knabe seine Augenbrauen, so daß sie wie ein fliegender Vogel aussehen, und mustert das Gesicht seines riesenhaften Begleiters. «Du willst mir nicht gehorchen?» fragt er ungläubig. «Du weißt, wer ich bin. Hast du keine Angst vor mir?»

«Hätte ich Angst, dann hätte ich Hoffnung», murmelt der Dschin, und nun hört man den Sprung im Metall der Stimme. «Nein, ich habe keine Angst vor dir, Kleiner. Vor dem. der du jetzt bist, noch nicht. Und vor dem, der du sein wirst, nicht mehr. Der nämlich wird mir recht geben.»

«Wann wird das sein?» will das Kind wissen. «Wenn ich groß bin?»

Auf dem trostlosen Affengesicht erscheint fast so etwas wie ein Lächeln. «Das ist noch ein Weilchen hin, Kleiner. Noch viele Leben und Tode. Bis du wirklich groß bist.»

Er zieht weiter wie eine Rauchschwade. und der Knabe trottet gedankenverloren neben ihm her. Nach langer Stille fragt die Kinderstimme: «Und du wirst immer böse bleiben, bis dahin?»

Der Dschin verdoppelt sich, seine Konturen zerfließen für einen Augenblick, dann sammelt er seine Gestalt von neuem, steht vor dem Knaben wie ein Stück undurchdringliche Finsternis.

«Böse?» fragt er mit schweren Lippen. «Böse? Was ist das? Vielleicht wirst du es auch mich einmal lehren. Aber erst mußt du es ganz in dich aufnehmen, um es ganz zu verwandeln. Das ist ein schweres und langes Studium, Kleiner, das dir bevorsteht. Das ist kein Kinderspiel.»

«Für dich vielleicht», meint der Knabe munter, «für mich ist es leicht. Es ist nichts, es ist nur ein Fehler, den man verbessern muß. Alles wäre in Ordnung ohne das Böse.»

Der Dschin hebt langsam seine wolkigen Schultern, als müsse er eine gewaltige Last hochstemmen. «Vieles ist notwendig!» summt es zornig aus dem Insektenschwarm. «Wer weiß wie vieles?»

«Also gut», sagt der Knabe einlenkend, «gehen wir weiter!»

«Nein», erwidert der Dschin, «wir sind angelangt.»

Der Knabe blickt neugierig umher. «Warten wir auf jemand?»

«Ja», murmelt der Dschin, «wir warten auf jemand.»

«Sollen wir jemand helfen?» fragt der Knabe eifrig und verbessert sich sogleich: «Soll ich jemand helfen?»

Der Dschin betrachtet ihn unter jahrtausendschweren Augenlidern hervor. «So einfach ist es nicht, wie du denkst.»

«Nein», sagt das Kind ein wenig verlegen, «ich weiß gut, daß es nicht einfach ist zu helfen.»

Der Dschin schüttelt den Kopf, langsam wie ein Baum im Wind. «Du bist es», rauscht seine Stimme, «du bist es, Kleiner, dem geholfen wird.»

Der Knabe errötet heftig. «Ich fühle mich kein bißchen hilfsbedürftig», sagt er rasch und blitzt den Riesen stolz an.

Der Dschin seufzt, als ob flüssiges Magma Blasen werfe. «Da siehst du nun, Kleiner, wie wenig du noch verstehst.»

«Wer soll mir denn helfen?» will der Knabe wissen. «Und warum?»

«Alle», antwortet der Dschin, «alle, denen du später helfen wirst. Denn ihnen allen wirst du verdanken, daß du es kannst.» «Dir auch?» «Vielleicht, ja, ich denke, mir auch.»

Der Knabe macht sich steif. «Dir will ich nicht dankbar sein müssen. Ich will nicht, hörst du?»

Aus dem Inneren des schwarzen Rauchs kommt ein Lachen, als ob lebendes Holz im Feuer knackt und winselt. «Du willst. Kleiner, du willst! Würde ich dich sonst führen können?»

Jetzt wird der Knabe ernstlich ungeduldig. «Auf wen warten wir also noch? Willst du mich zum Narren halten? Du bist doch schon hier! Auf wen soll ich noch warten?»

Der Dschin streicht sich müde mit der Klauenhand über das Kupfergesicht. Es klingt, als ob Glas zertreten wird. «Gib Ruhe, kleiner Herr, gib Ruhe! Ich bin nicht hier. Oder glaubst du, ich könnte dich sonst an der Hand führen, ohne daß dein warmes Herzchen zu Eis erstarrte? Aber nun frage nicht fortwährend. Gib nur acht auf alles, was geschehen wird. Mehr ist für diesmal nicht deine Pflicht.»

Und der Dschin zieht tief die Kapuze über sein Gesicht und sieht nun aus wie eine von schwarzem Schnee bedeckte Tanne.

Plötzlich ist ein rauhes, bellendes Heulen zu hören, das langsam und qualvoll erstirbt wie die Stimme eines großen Hundes, der den Tod seines Herrn beklagt. Der Knabe erschauert und blickt suchend umher. Es scheint ihm, sie ist aus einem der Häuser nahebei gekommen, doch kann er eines seltsamen Echos wegen, das hin- und herfliegt, nicht feststellen, aus welchem. Als er sich langsam umwendet, erblickt er hinter sich eine graue, gebückte Gestalt, deren Kommen er nicht bemerkt hat. Erleichtert atmet er auf, denn allem Anschein nach handelt es sich nur um einen alten Straßenkehrer, der darauf seinen Besen gestützt steht und der Unterhaltung der beiden Besucher gelauscht hat. Als der Blick des Knaben dem seinen begegnet, lächelt er, nickt und tippt mit dem Finger an den Rand seiner Mütze.

«Guten Morgen!» sagt er heiser. Und da der Junge nicht antwortet, sondern ihn prüfend anblickt, fährt er fort: «Nicht wahr, es ist doch ein guter Morgen, da du gekommen bist?»

Der Knabe erwidert noch immer nichts, sondern blickt sich nach dem Dschin um, doch der steht nur riesenhaft und leise schwankend wie ein Wirbel aus Dunkelheit.

«Allerdings», läßt sich nun wieder die raschelnde Stimme des kleinen grauen Mannes vernehmen, «war hier immer ein Morgen wie dieser, solang ich auch zurückdenke. Und es ist auch jetzt der gleiche Morgen. Hier gibt es nur eine einzige Stunde, die Stunde vor Tagesanbruch. Niemals Mittag, niemals Abend, niemals Nacht. Diese Tageszeiten sind hier noch nicht erfunden. Es ist die längste von allen Stunden, ein Stück Ewigkeit, daher kommt das.» Er lacht ein wenig, oder vielleicht hustet er auch. Er mustert das ungleiche Paar mit Augen, die schmal sind und tausend-fältig.

«Das Kind da», fragt er plötzlich barsch den Dschin, «warum hast du's hier hergeschleppt in unsere Hurenstraße?»

Aber der Dschin steht stumm wie ein Turm aus steinerner Trauer.

«Was geht's dich an?» ruft der Knabe hochfahrend. «Meinst du vielleicht, ich weiß nicht, was Huren sind? Das weiß ich schon lang!»

«Ach ja?» Der Straßenkehrer senkt den Kopf und stützt sich schwer auf den Besen. «Dann laß hören, was du weißt?»

«Frauen», erklärt der Knabe, «die Liebe für Geld verkaufen. Und das ist etwas sehr Schlimmes.»

Der Straßenkehrer nickt ein wenig. «Schau, schau!» Dann fährt er mit einem kleinen betrübten Lächeln fort: «Aber das wäre vielleicht noch nicht so sehr schlimm, mein Kind. Nur, siehst du, hier gibt es kein Geld - und keine Liebe. Die Trösterinnen in unserer Straße verkaufen etwas anderes und bekommen etwas anderes dafür, das ist es.» Und wieder hustet er oder lacht leise.

Der Knabe ist verwundert und nähert sich dem Straßenkehrer zwei, drei vorsichtige Schritte.

«Was denn?»

Der graue Alte überlegt eine Weile, wie er es dem Kind erklären soll. Schließlich hat er es gefunden und fragt: «Gewiß kennst du eine Menge Märchen, mein Junge?»

«Ich kenne alle», sagt der Knabe stolz, «alle, die es gibt. Ich habe jemand, der sie mir erzählt und der jedes Märchen der Welt weiß.»

«Das ist schön. Und du weißt sicher auch, daß sie wahr sind.» «Freilich!»

Der Straßenkehrer nickt wieder. «Ganz recht. Ich sage nicht, daß sie nicht wahr sind. Wenn einer sie richtig zu erzählen versteht, sind sie alle wahr. Aber siehst du, es sind immer nur die Geschichten der Sieger, sie gehen gut aus, so oder so. Aber die Geschichten der Verlierer sind auch wahr, nur werden sie bald vergessen. Vielleicht weil die Verlierer sie selbst vergessen. Daher kommt das.» «Verlierer?» fragt der Knabe und kommt noch ein wenig näher. «Davon habe ich nie gehört! Gibt es sie wirklich?»

Der Alte streckt die Hand aus, um die Wange des Knaben zu streicheln, aber der weicht mit einer brüsken Bewegung zurück. Der Straßenkehrer lächelt um Entschuldigung bittend.

«Mir scheint trotz allem», sagt er heiser, «du kennst in Wahrheit nur eine einzige Geschichte, mein Kind, nur die Geschichte des hundertsten Prinzen, der das Rätsel zu lösen vermag, aber nicht die der neunundneunzig vor ihm, die zugrunde gehen, weil es ihnen nicht glückt. Und fast alle ihre Geschichten enden hierin dieser Straße.» Der Alte wendet den Kopf und blickt in die Ferne, dorthin wo die Häuserzeilen in einem Punkt zusammenlaufen. «Ich habe jedenfalls noch keinen gesehen von allen, die hierherkamen, der das andere Ende erreicht hätte, denn die Straße wächst unter ihren Schritten und wird um so länger, je mehr Weg sie schon zurückgelegt haben. Deshalb bleibt jeder schließlich, wo er gerade ist, in diesem Haus oder in dem dort, und richtet sich ein und lebt mit den Trösterinnen -solang er eben noch lebt.» «Du auch?» fragt der Knabe erschrocken. Der Straßenkehrer gibt keine Antwort. Er lacht oder hustet nur kurz, als ob etwas zerrisse, und sagt nach einer Weile: «Aber in Wirklichkeit ist diese Straße sehr kurz. Höchstens ein Leben lang. Ich muß das schließlich wissen.»

In diesem Augenblick fühlt der Knabe schattenschwer die Klaue des Dschin auf seiner Schulter. Er will sich nach ihm umwenden, aber der Dschin hält seinen Kopf und dreht sein Gesicht in die Richtung, aus der sie beide gekommen sind. Dort zeigt sich, sehr fern noch, eine Gestalt. Wie eine von ungeübten Händen geführte Marionette torkelt sie die Straße herunter, knickt in den Knieen ein, fängt sich wieder und taumelt weiter. Bisweilen stützt sie sich vornübergebeugt mit der Hand gegen die Wand eines Hauses und verharrt so, wie um zu Atem zu kommen. Obgleich ihr Weg abwärts geht, scheint jeder Schritt sie große Anstrengung zu kosten. «Schau, schau!» raunt die heisere Stimme, «wieder einer.»

Und nun wird es plötzlich lebendig auf der Straße und in den Häusern. Die Türen öffnen sich und da und dort auch eines der Fenster.

Überall zeigen sich Weiber, die dem Ankömmling nach- oder entgegenstarren. Sie alle gleichen einander so völlig, daß es scheint, als seien sie nur eine einzige Frau, deren Bild in einer endlosen Reihe von Spiegeln auftaucht. Diese eine, die sie alle sind, trägt ein Kleid aus grauem, von Moder zerfressenem Stoff, das ihren sehr mageren Gliedern eng anliegt und schlaffe, winzige Brüste mit tierhaft langen Zitzen frei läßt. Fahlgraues Haar umgibt Kopf und Schultern wie Rauch, und im kalkweißen Gesicht steht der Mund wie eine große schwarze Wunde.

Die taumelnde Gestalt ist herangekommen, und nun zeigt sich, daß es ein Mann in der unförmigen, silberglänzenden Montur eines Weltraumpiloten ist. Nur den Helm hat er offenbar fortgeworfen oder verloren. Sein farbloses, schütteres Haar steht ihm wirr um den Kopf. Seine wimpernlosen Augen sind gerötet, und sein Gesicht ist von einem idotischen Lächeln wie gedunsen. Ais er die Gruppe der drei Wartenden mitten auf der Straße bemerkt, bleibt er unschlüssig stehen. Er hebt eine Hand, dann fällt er zu Boden und bleibt liegen, das Gesicht nach unten.

Der Knabe will zu ihm laufen, aber da fühlt er nachtmahrkalt die Klaue des Dschin, die ihn festhält.

«Jetzt nicht!» rauscht die baumhafte Stimme. «Schweig und gibt acht!»

Eines der Weiber geht zu dem Gestürzten, dreht ihn auf den Rücken und betrachtet sein vom Straßenkot besudeltes Gesicht, in dem noch immer das wesenlose Lächeln steht. Langsam schiebt sich aus ihrem Mund eine dünne schwarze Zunge, sie leckt sich die Lippen, die wie geronnenes Blut aussehen. Der Mann erblickt über sich das Gesicht, und ohne daß das Grinsen seiner Lippen verschwindet, tritt in seine Augen langsam der Ausdruck des Entsetzens. «Wer bist du?» fragt er.

Das Weib lächelt, ihre Augen glänzen lüstern. Sie hockt sich zu ihm und bettet seinen Kopf auf ihren Schoß. Fingernägel aus schwarzem Silber gleiten zärtlich und grausam durch sein Haar. Der Mann stöhnt: «Bist du stumm? Was machst du da?

Laß mich!» «Ja», flüstert sie und fährt fort, ihn zu lausen, «ich bin stumm.» Der Mann läßt es geschehen, unfähig sich zu wehren. Auf seiner Stirn steht Schweiß. «Und ich», murmelt er, «bin blind.» «Man sieht es dir nicht an.» «Nein, nicht so. Nicht die Augen.» «Bei mir ist es auch nicht der Mund, der stumm ist.»

Der Mann macht Anstrengung, sich aufzurichten. «Was tust du mit mir? Laß mich los! Ich will fort.» Aber sie drückt ihn nieder, und er gibt, halb schon aus eigenem Willen, nach.

«Du bist angelangt», raunt sie ihm ins Ohr, «du bist endlich angelangt. Du kannst es daran merken, daß der Schmerz nachläßt.»

Der Mann schließt die Augen und atmet tief und stoßweise, es klingt wie ein ungeborenes Schluchzen. «Du betrügst mich. Aber es ist mir schon gleich worum. Alles ist ein großer Betrug.» «Das sagen alle, die hier herkommen», flüstert das Weib. «Du bist das erste Mal hier, nicht wahr? Aber auch du bist wie alle. Du hast dich selbst betrogen, und deshalb meinst du nun, daß auch ich dich betrüge. Aber ich werde dir die Wahrheit sagen. Glaubst du, es macht einen Unterschied, ob du dich noch einen Tag, noch ein Jahr, noch hundert Lichtjahre weiterschleppst? Nichts wird sich mehr ändern. Weiter kommst du nicht mehr, so weit du auch gehst. Wozu willst du also fort? Bleib bei mir, ich werde dir wohltun, du wirst sehen.»

Der Astronaut starrt sie an, ohne sie zu sehen. «Ich kenne dich nicht. Wer bist du?»

«Da du wie alle bist, bin ich wie jeda», antwortet sie, und ihr leises Lachen klingt wie ferne Schreie. «Und darum wirst du dir von mir helfen lassen.»

Eine Zeitlang wirft der Mann seinen Kopf hin und her wie ein Fieberkranker. Unter dem Spiel ihrer kundigen Finger in seinem Haar wird er langsam ruhiger. Sein Gesicht, noch immer von diesem idiotischen Lächeln verquollen, ist fast so weiß geworden wie das ihre. Wenn er nicht hin und wieder krampfhaft atmete, könnte man ihn für tot halten.

Den Knaben fröstelt. «Was tut sie? Wird sie ihm wirklich helfen?» Er blickt zum Dschin hinauf, doch an dessen Stelle antwortet der Straßenkehrer: «Ja, auf ihre Art, Junge. Sie ist eine Trösterin. Achte auf ihre Finger! Sie nimmt ihm den Schmerz! Er wird nicht mehr daran leiden, und sie wird davon satt. Für kurze Zeit jedenfalls. Am Ende wird er niemand sein.»

Der Mann liegt ganz still. Seine Augen suchen die des Kindes. Seine lächelnden Lippen bleiben fest geschlossen, dennoch hört der Knabe des Mannes Stimme: «Ich habe das Paradies gesucht.» Danach entsteht eine lange Stille, und der Knabe hört nichts mehr als das Pochen seines eigenen Herzens. Schließlich flüstert die Hure: «Du hast es natürlich nicht gefunden, weil es nicht existiert. Und nun hast du alle Hoffnung verloren, ist es nicht so?»

Der Mann hält den Blick des Kindes mit dem seinen fest. Seine Stimme klingt fast gelassen vor Unglück. «Hätte ich es nicht gefunden, so hätte ich die Hoffnung niemals verloren.»

Die schwarzsilbernen Fingernägel kämmen und kämmen durch sein Haar. «Sprich nur! Erzähle mir alles!» Und der Knabe, immer noch eingeschlossen in den Blick des Mannes wie in eine Falle, hört dessen Stimme sagen: «Ich hätte weiter gesucht bis ans Ende meines Lebens. Und ich wäre glücklich gestorben, ohne je daran zu zweifeln, daß es irgendwo einen Ort gibt, wo alles schön und alles vollkommen ist. Und ich hätte es gut geheißen, daß niemand ihn finden kann.»

Die Stimme der Trösterin ist sanft wie der Biß eines Blutegels. «Warum hast du ihn dann gesucht?»

Als hätte dieser gefragt, antwortet der Mann dem Knaben: «Es war das Heimweh, und es war so groß, daß mir keine Wahl blieb, etwas anderes zu tun. Mir war nicht wichtig, hineinzugelangen. Nur einen einzigen Blick in die vollkommene Schönheit wollte ich werfen. Die Gewißheit, daß es sie gibt, wäre mir genug gewesen für alle Ewigkeit.»

«Aber nun hast du es doch gefunden, das Paradies», raunt die Hure und fährt immer fort, sein Haar zu durchsuchen. «Sie haben dich eingelassen, nicht wahr?»

Der Mann fährt so jäh empor, daß das graue Weib erschrocken zurückweicht, aber seine Stimme ist immer noch kalt und gleichgültig. «Mitten im Weltall», sagt er in den großen Blick des Kindes hinein, «gibt es eine Ringmauer aus undurchdringlicher Schwere. Über der Pforte stehen eingemeißelt die Worte: Der Garten Eden. Ich berührte die Gitterstäbe des verschlossenen Tores, und sie zerfielen mir unter den Händen zu Rost und Moder. Ich trat durch das Tor und sah vor mir eine endlose Landschaft aus Asche und Schlacke und in der Mitte einen riesenhaften versteinerten Baum, der seine Äste in den schwarzen Himmel krallte. Und während ich noch stand und schaute, regte sich etwas neben mir, und aus einem schwarzen Loch im Boden kroch wie eine Riesenspinne ein Wesen hervor. Ich konnte nur erkennen, daß es entsetzlich ausgetrocknet und entsetzlich alt war und riesige Flügel hinter sich herschleifte. Und das Wesen wälzte sich heran und schrie in einem fort: Kommt wieder! Kommt wieder, Menschenkinder! Und es raufte sich Fäuste voll Federn aus und warf sie nach mir. Ich wich vor ihm zurück, da begann es zu kreischen und zu lachen und schrie immer weiter: Ist doch niemand mehr da außer mir! Ich bin allein, allein, allein! -Da bin ich geflohen, ich weiß nicht wie und wohin, ob es nur eine Stunde war oder tausend Jahre.»

Der Mann bleibt reglos sitzen, die Beine grade ausgestreckt vor sich, immer noch das gleiche böse Lächeln auf dem Gesicht, aber nun schaut er vor sich nieder und entläßt den Knaben aus seinem Blick. Und wieder tritt eine Stille ein, so endgültig, als sei aller Klang aus der Welt verschwunden. Aber dann, als der Knabe schon meint, nicht mehr atmen zu können, sagt die Trösterin: «Komm! Ich kann machen, daß du deine Sehnsucht für immer vergißt. Dann wirst du aufhören zu leiden.»

Der Mann steht auf, sie nimmt ihn an der Hand und geht mit ihm auf eine Tür zu. Da reißt sich der Knabe aus dem Griff des Dschin und stellt sich den beiden in den Weg. «Das darfst du nicht!» ruft er zornig. «Du darfst dein Heimweh nicht vergessen. Sie nimmt dir alles! Sie nimmt dir dich selbst weg!»

Plötzlich fühlt das Kind die harte Hand des Mannes auf seiner Wange und taumelt zurück. Er hat es geschlagen.

«Laß gut sein», sagt das graue Weib, «das Kind weiß es nicht besser. Noch nicht.»

Und sie zieht den Mann hinter sich her ins Haus.

«Er darf es nicht vergessen», stammelt der Knabe, «sonst ist doch das Paradies für immer verloren…», und nun kommen ihm doch die Tränen.

Der Straßenkehrer scheint etwas im Rinnstein gefunden zu haben. Es ist ein goldener Reif, groß wie eine Krone. Er hebt ihn auf, und während er ihn zwischen den Händen dreht, sagt er: «Ja, Kleiner, es ist deine erste Unterrichtsstunde. Und alles Böse beginnt mit dem Vergessen einer Sehnsucht.»

«Aber warum hat er mich geschlagen?»

Der Alte antwortet nicht. Er dreht und dreht den Reif.

«He, Straßenkehrer!» ruft eines der anderen grauen Weiber, «was hast du da?»

«Es scheint eine Krone zu sein», murmelt der Alte. «Irgendein armer Teufel hat sie wohl verloren oder weggeworfen. Hier werden alle unkenntlich.»

Das Weib streckt die Hand aus, ohne jedoch näher zu kommen.

«Gib sie mir! Gib sie mir!» bettelt sie.

Der kleine Alte schüttelt den Kopf. «Das darf ich nicht. Und du weißt es auch gut genug.»

«Und du? Was wirst du mit ihr anfangen?»

«Ich werde sie wohl meiner Frau mitbringen.»

«Ach! Sogar du hast eine Frau? Was du nicht sagst! Ist sie schön?»

Die anderen Weiber kichern, es klingt wie das Pfeifen von Ratten. Der graue Alte läßt sich nicht beeindrucken. «Mit der Krone schon, denke ich», sagt er heiser.

«Hast du keine Angst?» fragt eine andere Trösterin. «Unsere Königin hat befohlen, alle verlorenen Dinge ihr zu bringen. Sie läßt nicht mit sich spaßen, Alter.»

Der Straßenkehrer macht seine Augen schmal und hustet oder lacht ein wenig verlegen. «Wenn du mir versprichst, mich nicht zu verraten, will ich dir ein Geheimnis anvertrauen, meine Schöne.»

«Gut, ich verspreche es.»

«Eure Königin», sagt der Straßenkehrer langsam, «ist meine Frau.»

Plötzlich ist die Straße so leer von Trösterinnen, wie sie es zu Anfang war. Alle Türen und Fenster sind geschlossen. Der graue Alte hängt die Krone über seinen Besen, den er schultert. Er nickt dem Knaben zu, tippt mit dem Finger an den Rand seiner Mütze, und sein Grau verschwindet im Grau der Hauswände.

Der Knabe blickt fragend zu dem Dschin auf. «War es denn das wirkliche Paradies, das der Mann gefunden hat?»

«Was weiß ich», antwortet die bronzene Stimme, «was fragst du mich danach!»

Aus dem Haus, in dem der Astronaut mit der Trösterin verschwunden ist. klingt das lange, rauhe Hundegeheul und vergeht trostlos und qualvoll in der glasigen Luft. Der Knabe lauscht mit blassem Gesicht, nur auf seiner Wange leuchtet noch rot der Abdruck der Hand.

Die schuppige Klaue des Dschin ergreift wieder behutsam die Kinderhand. «Komm, Kleiner. Deine erste Unterrichtsstunde ist vorüber.»

Als sie schon ein gutes Stück die Straße hinauf sind, bleibt das Kind noch einmal stehen und schaut zurück. «Ist es wahr, was der Straßenkehrer gesagt hat? Daß alles Böse mit dem Vergessen einer Sehnsucht beginnt?»

«Es beginnt früher», antwortet der Dschin, «es beginnt immer mit einer verlorenen Hoffnung.» Und später, viel später, als der Knabe schon an die Spiele denkt, die er bald spielen wird, murmelt der Dschin, längst wieder allein und eingeschlossen in seinem Turm aus Eis, noch einmal vor sich hin: «Niemand vermag zu ermessen, wohin es mit einem kommen kann, der die Hoffnung verloren hat…»