EIGENTLICH GING ES UM DIE SCHAFE,…

… doch auch wir Menschen mußten uns verborgen halten, denn jeder, der der strikten Anweisung, alle Schafe auszuliefern, nicht Folge leistete, setzte damit sein eigenes Leben aufs Spiel. Es genügte sogar schon zu wissen, wo sich Schafe befanden, und keine Anzeige zu erstatten.

Warum die Auslieferung der Tiere mit derartig rigorosen Maßnahmen erzwungen wurde, war uns allen nicht recht erklärlich, denn es schien durchaus nicht so, daß alle abgeholten Schafe sofort geschlachtet wurden. Ein solcher Bedarf an Fleisch, und nun gar an Schafsfleisch, bestand ja nicht. Höchstens die Hälfte der abgegebenen Tiere wurde sofort geschlachtet, was mit der anderen Hälfte geschah, ob sie zunächst in große Vorratsställe gesperrt oder außer Landes gebracht wurden, wußte niemand von uns. Und da wir die ganze Aktion nicht begriffen, in jenen ersten Tagen jedenfalls, entwickelten wir, was die Einzelheiten betraf, die abenteuerlichsten Vermutungen.

Jedenfalls waren wir alle sehr froh, für unsere Schafe diese leerstehende Halle gefunden zu haben. Hanna, meine Frau, war der Meinung, es müsse sich um eine ehemalige Großgarage oder etwas derartiges handeln. Ich dagegen versteifte mich darauf, daß dieses Gebäude nichts anderes sein könne als eine Markthalle. Im Grunde war beides durch nichts zu beweisen. Die niedrigen Verschlage, die rundum an den Wänden entlang liefen und in welche wir die Schafe getrieben hatten, sprachen weder für das eine noch für das andere.

Nichts, sagt man, sei in solchen Situationen schwerer als das Warten. Ich kann diese Erfahrung nicht bestätigen. Unsere Stimmung war eher aufgekratzt, beinahe albern. Man stand in größeren und kleineren Gruppen herum und plauderte angeregt. Manche spazierten auch, einzeln oder paarweise, in der Halle hin und her. Immer wieder war durch das allgemeine Stimmengewirr Gelächter zu hören. Ja, tatsächlich, wir lachten, wir fanden es erheiternd, daß die Metzger, die scharenweise in ihren blutigen Schürzen die ganze Stadt nach verborgen gehaltenen Schafen durchsuchten, sogar im Nachbarhaus aus und ein gingen und doch nicht auf die Idee kamen, in unserer Halle zu suchen. Manche von uns machten sogar spöttische Bemerkungen über den offenbar verkümmerten Geruchssinn der Burschen.

Schließlich waren wir unserer Sache so sicher, daß wir die Schafe sogar aus den Verschlagen herausließen. Die Tiere standen ratlos und ein wenig verstört zwischen uns herum und ließen sich betrachten. Ab und zu blökte eines. Das allerdings schien uns nun doch ein wenig bedenklich. Und als wir bald darauf beobachteten, wie aus eben dem Nachbarhaus, wo die Metzger ständig aus und ein gingen, eine kleine Herde von vielleicht zehn Schafen getrieben und auf ein wartendes Lastauto verfrachtet wurde, verschwand unsere gute Laune im Handumdrehen. Hastig trieben wir unsere Schützlinge wieder in die Verschlage und schlössen sorgfältig deren Türen. Draußen wendete das Lastauto umständlich und mit viel Getöse und entfernte sich endlich.

Es war nicht mehr als höchstens eine halbe Stunde vergangen, als dasselbe Fahrzeug zurückkam und direkt vor unserer Halle anhielt. Das Tor wurde aufgestoßen, und wir sahen, wie aus dem durch Planen verdeckten Teil des Lastwagens einige Metzger sprangen. Mit Hooo-hupp-Ge-schrei zogen sie gemeinsam riesenhafte, blutige Fleischstücke von der Ladefläche, so gewaltig, daß jeweils zwei bis drei Mann sie gemeinsam auf die Schultern nehmen mußten. Ich weiß nicht, von welchen Tieren diese Stücke stammen mochten, von Elefanten oder Mammuts, von Schafen jedenfalls nicht.

Dennoch, der Anblick entsetzte uns, und das um so mehr, als wir sahen, daß die Metzger sich anschickten, ihre blutigen Lasten geradewegs in unsere Halle zu schleppen. Aus dem regelmäßigen Hooo-hupp war bald eine Art monotonen Singsangs geworden, zwei Zeilen, die immerfort wiederkehrten und in deren Rhythmus sich die Männer bewegten:

Hol' das Opfer! Trag das Opfer! Wer kein Opfer bringt, wird Opfer… Wir alle fielen nach und nach in diesen Singsang ein, wohl in der törichten Hoffnung, den Metzgern auf diese Weise unsere Harmlosigkeit und unser gutes Gewissen zu beweisen, was die Befolgung der allgemeinen Anordnung betraf. Dabei zitterte jeder von uns vor der Möglichkeit, daß eines der in den Verschlagen versteckten Schafe anfangen würde zu blöken. Wir sangen immer lauter, um ein etwaiges verräterisches Geräusch unserer Tiere zu übertönen, aber glücklicherweise hielten diese sich erstaunlich still, ganz als ob sie die Gefährlichkeit der Lage begriffen hätten, was ja freilich nicht sein konnte.

Der Zug der fleischbeladenen Metzger - inzwischen waren es übrigens viel mehr geworden, als überhaupt auf dem Lastwagen gekommen sein konnten - bewegte sich mit langsamen, prozessionsartigen Schritten genau auf die Stelle zu, wo ich mit Hanna, meiner Frau, stand. Ich zog sie beiseite, und während ich mich halb abwandte, bemerkte ich in der Wand hinter uns, zwischen zwei Verschlagen, eine Tür, die offenstand und in einen Keller hinunter zu führen schien. Die Metzger marschierten auf diese Tür zu und verschwanden, einer hinter dem anderen, mit ihren Lasten in der Tiefe.

Merkwürdig war mir, daß keiner zurückkam. Der Zug bewegte sich, allem Anschein nach, nur in einer Richtung, nur vom Lastauto vor der Halle zu der Kellertür. Diese Tatsache faszinierte mich so sehr, daß ich meinen Blick lange Zeit nicht von den vorüberziehenden Gestalten abwenden konnte. Ich sagte mir, daß sie wohl durch eine andere Tür ans Tageslicht zurückkehren müßten, aber sobald ich versuchte, mir eines der Gesichter einzuprägen, um es beim nächsten Gang wiederzuerkennen, machte mir ärgerlicherweise meine Kurzsichtigkeit zu schaffen, und das Gesicht verschwamm, obwohl ich meine Brille aufhatte und die Augen zusammenkniff. Ich konnte mir das nicht recht erklären. Ich war, wie man das bei uns nennt, plötzlich schafssichtig geworden, denn wie man weiß, sehen Schafe ja, vor allem, wenn sie in Angst geraten, undeutlich oder auch doppelt.

Eine unerträgliche Spannung hatte mich ergriffen, und ich drehte mich nach Hanna um, in der Hoffnung, aus ihrer Miene irgendeine Beruhigung oder Aufmunterung herauszulesen. Aber sie war inzwischen fortgegangen, sie hatte wohl den Anblick der Metzger nicht länger ertragen.

Ich zwang mich zu äußerlicher Gelassenheit und schlenderte, laut das Lied der Metzger mitsingend, zwischen unseren Leuten umher. Die Halle hatte eine Art Seitenschiff, und dort drüben sah ich endlich für einen Augenblick die braun-weißen Karos von Hannas Kleid aufleuchten. Ich eilte zu ihr hinüber und sah, daß sie mit meiner alten Mutter sprach, die auf einem kleinen Klappstühlchen vor ihr saß.

«Da bist du ja!» sagte ich etwas atemlos.

Sie blickte kurz auf, nickte mir lächelnd zu, beugte sich wieder zu meiner Mutter herunter und redete halblaut mit ihr.

Ich schaute über die Schulter zurück. Noch immer zogen die Metzger in ununterbrochener Reihe ein, noch immer sangen sie ihr Lied und schleppten ihre fürchterlichen Lasten. Und dort drüben, bei der Tür, neben der ich vorher mit ihr gestanden hatte, stand Hanna, stand dort noch immer! Zwar hatte sie mir den Rücken zugewendet, aber ich erkannte sie an den großen braunweißen Karos ihres Kleides, an dem roten Schimmer ihres Haars, an ihrer Gestalt, ihren Bewegungen. Sie hatte beide Arme wie zum Tanz seitwärts erhoben, schnippte mit den Fingern und wiegte sich leicht im Takt des Singsangs.

Ich fuhr herum. Vor mir stand ebenfalls Hanna, noch immer im Gespräch über meine Mutter gebeugt!

Ich packte sie hart am Arm und riß sie hoch.

«Du tust mir weh!» sagte sie. «Was soll das?»

Ich konnte vor Erregung nicht sprechen. Mit ausgestrecktem Arm zeigte ich zu der anderen Hanna hinüber. Aber die, deren Handgelenk ich umklammert hielt, schien nicht zu begreifen, was mich erschreckte. Sie sah mich an und schüttelte ein wenig irritiert den Kopf. Ihr Gesicht erschien mir wie ein weißer Fleck.

«Ja, tatsächlich!» hörte ich meine Mutter sagen. Also sah auch sie, was ich sah.

Und dann geschah, was ich am meisten gefürchtet hatte: Jene andere Hanna dort drüben drehte sich um und kam, als habe sie mich gesucht, eilig zu uns herüber. Als sie ihre eigene Doppelgängerin, deren Arm ich noch immer umkrallt hielt, neben mir erblickte, blieb sie stehen, streckte beide Hände aus und rief lachend: «Jaina, du?»

Die beiden schüttelten sich die Hände wie alte Freundinnen, die sich nach langer Zeit wiedertreffen, und es war, als blicke jede der beiden in einen Spiegel: zwei vollkommen gleiche weiße Flecke!

Ich wollte schreien: Nein, nein, das ist nicht Jaina! Das bist du selbst! - Statt dessen aber versagten mir die Knie, ich fiel auf alle viere nieder und blökte - blökte!

Die beiden Frauen schauten einander zögernd, halb schon zweifelnd, an. Ihre Hände trennten sich.

Die Metzger hatten ihren Gesang unterbrochen, und ich sah, wie sie, gebückt unter ihren riesigen Fleischlasten, mit gesenkten Stirnen zu uns herüberschielten.