DER WELTREISENDE BESCHLOSS, SEINE WANDERUNG…
… durch die Gassen dieser Hafenstadt zu beenden. Und damit beendete er zugleich seine Fahrt durch die Slums und Paläste aller anderen Städte, durch Dörfer, Zeltlager und Einsiedeleien, durch alle Wüsten und Urwälder der Erde. Er setzte sich auf die schmutzigen Steinstufen, die zu der Tür eines schmalbrüstigen, hohen Hauses emporführten - einem chinesischen Bordell offenbar, nach der Ampel über der Tür zu schließen -faltete die Hände über dem Griff seines Spazierstocks, stützte das Kinn darauf und starrte, ohne etwas zu sehen, auf die vorübertosenden Automobile und Straßenbahnen. Von einer Sekunde zur anderen war ihm jegliche Neugier, jegliche Lust abhanden gekommen, seine große Reise fortzusetzen. Er versprach sich nicht das mindeste mehr davon.
Er hatte alle Wunder und Geheimnisse der Welt gesehen. Er kannte die schwebende Mondsteinsäule im Tempel von Tiamat und die gläsernen Türme von Manhattan; er hatte vom Blutgeisir auf der Insel Hod getrunken und mit dem blinden Herrn der Bibliothek von Buenos Aires über das Wesen des Schicksals gesprochen; er hatte den Ring der Königin Mrabatan, der Gewalt über das Erinnern der Menschheit verleiht, an seinem Finger getragen und war - wozu kein Fremder je zuvor Zutritt erhalten hatte - über die Flammenstraßen der Stadt Eldis gewandert; man hatte ihn in stählerner Sänfte durch die Maschinenhallen von Detroit getragen, und es war ihm gelungen, in den Irrgängen der Großen Kloake von Rom zu nächtigen, ohne den Verstand zu verlieren über den Erscheinungen der Vergangenheit und der Zukunft, die dort allnächtlich ihre gespenstischen Schlachten schlagen. Unzähliges hatte er gesehen, aber all diese Geheimnisse gingen ihn nichts an. Sein eigenes war nicht darunter gewesen. Und da er das seine nicht gefunden hatte, waren ihm auch alle anderen stumm geblieben.
Hätte er diese Reise nur niemals begonnen, so wäre ihm wenigstens der Traum verblieben, daß es irgendwo auf der Welt das Zeichen gäbe, das ihm galt, das zu ihm redete in einer Sprache, die nur er verstand, das der Schlüssel zum Rätsel seines eigenen Daseins war. Nun aber mußte er sich eingestehen, daß nichts dergleichen existierte. Wenn es der Wahrheit entsprach, daß diese Erde nur die unendlichen Formen und Kräfte des Alls widerspiegelt wie eine blanke Silberkugel, so war es also ein Irrtum zu glauben, daß des Menschen Heimat das Universum sei, da es ja nichts gab, was sein Wesen mit diesem verband. War er aber von Anbeginn und für immer ein Fremdling in ihm, so war das Universum zu klein - viel zu klein!
Der Reisende erschrak ein wenig und blickte hinter sich, weil ein dunkelhäutiges, asiatisches Mädchen in schmucklosem, graublauen Kleid ihn mit leiser, demütiger Stimme fragte, ob es ihr erlaubt sei, den erhabenen Herrn zu bitten, die unzulänglichen Dienste ihrer unwürdigen Person anzunehmen. Dabei wies sie einladend auf ein kleines, flaches Gefährt, welches sie durch die Tür des Hauses bis nahe an den oberen Rand der Steinstufen geschoben hatte. Der Reisende war ein wenig verlegen, auch verärgert wegen des Schreckens, den ihm das Mädchen verursacht hatte, und erklärte barsch, daß der Besuch eines Freudenhauses nicht in seiner Absicht läge.
Das Mädchen, sehr klein und von kindhafter Zartheit, starrte ihn aus Neumondaugen an, schien indessen nicht zu verstehen, sondern verneigte sich tief und verharrte so, wobei sie mit schüchterner Gebärde weiterhin einladend auf die bequemen, schöngestickten Kissen ihres Wägelchens wies. Der Reisende, dem es schon leid tat, das Mädchen möglicherweise gekränkt zu haben, nahm seufzend auf dem Gefährt Platz und ließ sich ins Innere des Hauses schieben.
Sie bewegten sich zunächst durch eine langgestreckte Halle, deren Wände, Böden und Decken mit verschiedenfarbig gemasertem, blankpoliertem Stein verkleidet waren. Die dazu verwendeten Stücke schienen sorgsam nach einem gemeinsamen Merkmal ausgewählt, denn allenthalben lud das feine Geäder die Vorstellungskraft des Betrachters ein, in die zufälligen Formen Gesichter und Fratzen hineinzusehen, Pflanzenornamente, Götter und Dämonen, Stelzentiere, brennende Tänzerinnen, Insektenreiter in langer Prozession, ganze Landschaften aus Leibern, tobende Meere voller Schiffe und Ungeheuer, Eisblumenpaläste und von Riesenmoos überwucherte Ruinenstädte. Aber die Aufmerksamkeit des Reisenden war noch immer durch jene tiefe Unlust gelähmt. Er sah noch nichts.
In den nächsten Sälen indessen wachte sein in sich verschlossener Sinn nach und nach auf und begann zögernd und noch ungläubig, das Alphabet der Zeichen zu entziffern, die er selbst erschuf und doch auch wieder nicht erschuf. Die bisher flächenhaften Gebilde nahmen hier mehr und mehr räumlich-plastische Gestalt an. Bizarre Felsgebilde, Stalagtiten und Stalagmiten, Wurzeln, Baumstrünke, Lavagerinsel und Klumpen geschmolzenen Metalls standen und lagen hier umher, welche die absichtslosen Kräfte der Natur in immer vollkommenerer Weise zu den überraschendsten und zugleich überzeugendsten Gestalten geformt hatten. Es war schwer zu glauben, daß alle diese Dinge allein durch die willkürlichen Spiele des Zufalls entstanden sein sollten, dennoch war es keine andere Kraft, als die im Betrachtenden selbst wirksame, welche aus diesen beliebigen Formen die erstaunlichsten Kunstwerke schuf. Mehr und mehr verwischte sich dem Reisenden die Grenze zwischen seinem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem, was er hinzuerschuf, und dem, was ihm tatsächlich vor Augen lag, bis er schließlich das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden konnte und seinen eigenen Geist als ein Äußeres und die Gegenstände als sein Inneres erlebte. Unversehens war ihm, als sähe er sich selbst, seine eigene Gestalt, wie sie da auf dem Wägelchen kauerte, von innen und außen gleichzeitig, als sei auch sie nichts anderes als eine zufällig entstandene Form, in die sein schaffender Geist ein Wesenhaftes hineinsah. Doch eben dadurch war dieses Wesenhafte erst Wirklichkeit. Er erschrak darüber, doch war es ein lustvolles Erschrecken.
Von diesem Augenblick an, da er endlich zu sehen begonnen hatte, hätte er nicht mehr zu sagen vermocht, ob das, was er schaute, überhaupt noch von dem abhing, was er vor sich hatte. Ihm schien vielmehr, als würden von Saal zu Saal die äußeren Gegenstände immer einfacher und allgemeiner, doch nun, da die geheime Kraft in ihm einmal ihre Schwingen entfaltet hatte, hob sie sich höher und höher und verwandelte den Anblick aller Dinge. Aus einem welken Blatt, einem weißen Ei, einer Vogelfeder traten ihm Welten um Welten entgegen. Und er war mit ihnen allen zutiefst verwandt, er war ihr Schöpfer und ihr Geschöpf zugleich. Er begriff, daß er nun, da er ganz aufgab, was er bisher Wirklichkeit genannt hatte, erst begann, sich der Wirklichkeit zu nähern.
Als seine schweigsame Begleiterin ihn vor eine Wand brachte, die von dunklem, fast schwarzem Lapislazuliblau war, ergab sich ihm folgender Anblick: Durch zahllose, verschieden große Ausschnitte in dieser Wand schaute er räumlich in ebensoviele verschiedene Miniaturlandschaften von unbeschreiblicher Grazie und Zierlichkeit. Da gab es Berge, Seen und Wasserfälle wie blau-taftene Bänder, deren Stürzen und Schäumen er in Bewegung sah. Die winzigen Kaskaden fielen und rieselten über Felsklippen und zwar maß-stabsgetreu, also sehr langsam. Auch schien die Beleuchtung der Szenerien zu wechseln. Mondlicht, das durch ziehende Wolken verdunkelt und wieder erhellt wurde, Morgendämmerungen und violette Abende. Und wo das Sonnenlicht auf den Dunst zerstäubenden Wassers traf, zeigten sich Regenbogenspiele. Und schließlich wurde dem Reisenden bewußt, daß er das silberne Rauschen und Brausen der Wasserstürze sogar hörte, wenn auch freilich sehr zart und fern. Je inniger er in dieses Klingen hineinlauschte, desto deutlicher vernahm er eine Art von gläserner, süßer Musik. «Was ist das?» fragte er und erschrak abermals ein wenig, diesmal über seine eigene Stimme, die ihm laut und roh geklungen hatte.
Das Mädchen lächelte und erwiderte sanft: «Was der erhabene Herr vernimmt, sind zarte Keime seines eigenen zukünftigen Daseins.»
Der Reisende verstand diese Antwort nicht, fühlte indessen kein Bedürfnis, weiter zu fragen, sondern überließ sich wieder den wehenden Klängen. Auf eine ihm selbst ganz neue Weise erfüllte sich dabei sein Herz mit einer fast schmerzenden Zärtlichkeit, ja, mit Wollust.
«Also», flüsterte er, «kann nur ich diese Musik hören?»
«Außer dir, Herr, und mir kein Sterblicher», antwortete das Mädchen, die Lippen dicht an seinem Ohr.
Er blickte sie an. «Wieso auch du?»
«Ich», sagte das Mädchen so leise, daß er es kaum hören konnte, und schlug die Augen nieder, «bin niemand.»
Viel später hielten sie vor einer hellgelben, fast weißen Wand, auf welcher sich vier runde Scheiben befanden, drei davon in einer Reihe nebeneinander, die vierte ein wenig höher.
Die erste dieser Scheiben vermittelte dem Betrachter den Eindruck, als blicke er senkrecht von oben auf eine bewegte Wasserfläche. Ununterbrochen zogen wie weiße unregelmäßige Zeilen silberne Wellenkämme vorüber. Diese wurden quer von einem schwarzen Aal durchschnitten, der sich schlangelnd vorwärts zu bewegen schien und doch immer in der Mitte des Bildes blieb. Staunend beobachtete der Reisende das immer wechselnde und doch immer gleiche Schauspiel. Schließlich wollte er sich der nächsten Scheibe zuwenden, da ertönte von der ersten her eine raunende Stimme, nicht eigentlich menschlich, sondern so als bilde sich aus dem Wellenrauschen etwas wie Worte: «Mich erschuf das Meer.» Diese unerwartete Mitteilung ließ den Reisenden neuerlich ein wenig erschrecken. Er fühlte, daß etwas in seinen Tiefen deren Sinn verstanden hatte, allein, es gelang ihm noch nicht, sich dieses Verständnis zu Bewußtsein zu bringen. Er wandte sich mit fragendem Gesicht seiner Begleiterin zu, doch diese neigte nur lächelnd den Kopf. Er fühlte, daß er auf eine direkte Frage keine Antwort bekommen würde, darum schwieg auch er und richtete seine Aufmerksamkeit auf die zweite Scheibe, die rechts neben der ersten hing.
Zunächst erkannte er darauf etwas wie eine verschneite Bergkuppe, welche nach unten zu in immer dichterem Nebeldunst verschwamm. Erst nach längerer Betrachtung gewahrte er, daß der Berg vielmehr ein ihm zugewandtes menschliches Haupt war, jedoch mit leicht nach unten geneigtem Antlitz. Der obere Teil des Hauptes war ungewöhnlich hoch, und von ihm floß langes schneeweißes Haar zu beiden Seiten hernieder.
Das Antlitz selbst schien allerdings das eines Kindes zu sein, nicht auszumachen, ob Knabe oder Mädchen. Die Stille, die von diesem Gesicht ausging, war so tief, daß der Beschauer sie nicht einmal durch ein Schlagen seiner Wimpern unterbrechen mochte. So verharrte er reglos, bis er schließlich, ganz ohne Stimme, die Worte vernahm:
«Ich bin Greis-Kind.»
Abermals rechts davon und in gleicher Höhe hing die dritte Scheibe. Als der Reisende sich ihr zuwandte, war ihm, als blicke er gleichsam durch eine senkrechte Glaswand in eine golden-dämmernde Unterwasserlandschaft mit hin- und herwallenden Blattpflanzen. Im Vordergrund sah er den Kopf eines Bibers, von links unten nach rechts oben vorstoßend und hin und wieder Luftperlen aus seinen Nasenlöchern sprudelnd, so als sei er eben vor dem Auftauchen. Nachdem der Reisende auch diese Szene lange Zeit versunken betrachtet hatte, vernahm er aus der uralten Golddämmerung die Worte:
«Ich werde den See erschaffen.» Während all der Zeit, die er nun schon in diesem, wie es schien, unendlich großen Hause zugebracht hatte, war eine Veränderung mit dem Reisenden vorgegangen, die er erst jetzt zu bemerken begann. Was er schon mehrfach und nun auch vor diesen Bildscheiben wieder als eine Art zarten Schreckens erfahren hatte, war mittlerweile zu einem bleibenden Zustand, einer leichten Entrücktheit geworden. Diese Empfindung war ganz neu und ungewohnt für ihn, und doch hatte er keine Bedenken, sich ohne Rückhalt auf sie einzulassen, denn ihm war, als würde auf sanfte Weise in ihm etwas zurechtgerückt und ins Gleichgewicht gebracht.
Die vierte Scheibe hing wiederum rechts, jedoch um einen vollen Tafeldurchmesser über den anderen. Auch war der Rand dieser Scheibe nicht rund, sondern ungleichmäßig gewellt und geschwungen, scheinbar regellos wie ein ausgewaschener Stein. Auf der Fläche selbst war nichts zu sehen, sie war leer.
Der Reisende betrachtete sie dennoch mit der gleichen Aufmerksamkeit, die er den drei vorigen gewidmet hatte, doch war das einzige, was er nach geraumer Weile gewahrte, ein nicht näher zu beschreibendes ruhendes Wechseln, etwa so, als steige und falle Rauch in sich selber. Zugleich überkam ihn eine gewisse Bangigkeit, denn er fühlte, daß gerade jene neu in ihm erwachte Kraft von der Leere dieses Bildes eingesaugt wurde, daß sie wie in einen bodenlosen Abgrund wirbelte, ohne irgend etwas zu bewirken. Dennoch hielt er stand und wartete geduldig darauf, daß auch diese Scheibe zu ihm spräche, doch vergeblich. Schließlich griff er nach der Hand des Mädchens, als wolle er sich festhalten, und flüsterte: «Warum schweigt es?»
«Es hat schon gesprochen», antwortete sie. «Warum habe ich es nicht gehört?» «Du hast es wohl gehört, Herr. Aber du wirst es erst in deiner Erinnerung finden.» «Ich wünsche aber, es jetzt zu hören!» «Herr», sagte das Mädchen sehr leise, «wie könnte das geschehen, solange du es wünschst? Nichts wünschen heißt, keine Unterschiede machen. Keine Unterschiede machen heißt, das Unsichtbare schauen und das Schweigende vernehmen. Warum also willst du mich unglücklich machen?» Da schämte sich der Reisende, ohne recht zu wissen, wofür.
«Du weißt viel», sagte er, «woher?» Das Mädchen lächelte. «Weil ich beschämenderweise als die unwürdige Besitzerin dieser Sammlung von Unbesitzbarem gelte.»
Der Reisende schwieg und betrachtete sie lange von der Seite. Sie ließ ihn gewähren oder bemerkte es nicht, da sie die Augen gesenkt hielt. Er bewunderte die ungewöhnlich vornehme Linie ihrer Stirn, ihrer Nase, ihrer Lippen. Erst jetzt ging ihm die rare Schönheit ihrer Züge auf. Nach einer Weile hielt sie sich den Ärmel vors Gesicht und bat, ihm nunmehr ihre eigentlichen Schätze zeigen zu dürfen, denn alles bisherige sei doch der Beachtung des Herrn kaum wert gewesen. Darauf erhob sich der Reisende von dem kleinen Gefährt, verneigte sich, wenn auch ein wenig ungelenk,
ebenso tief vor ihr, wie sie es bisher vor ihm getan, und antwortete, wenn die überaus gütige Herrin der Zeichen und Wunder sich nicht zu gut sei, ihm, dem ungebildeten Barbaren, noch geheimere Kostbarkeiten zu zeigen, so wolle er dies Angebot mit Ehrerbietung und Dankbarkeit annehmen, nur müsse er darauf bestehen, nicht länger von ihr gefahren zu werden, sondern nun, da er wisse, welch vornehmer Dame Gast er sei, erachte er es bereits für die höchste, wenngleich unverdiente Auszeichnung, hinter oder gar neben ihr gehen zu dürfen.
Das Mädchen bestritt dies und verneigte sich, der Reisende verneigte sich und beharrte darauf und behielt schließlich die Oberhand. Das kleine Gefährt blieb stehen; das Mädchen nahm den viel größeren Gast zart, nur mit den Fingerspitzen, bei der Hand, und so schritten sie schweigend nebeneinander den inneren Sälen zu, jungfräulichen Kontinenten und morgendämmernden Ozeanen entgegen.