DEM JUNGEN ARZT WAR GESTATTET WORDEN,…
… in einer Ecke des Behandlungszimmers Platz zu nehmen und den Vorgang zu beobachten, doch hatte man ihm eingeschärft, auf keinen Fall mit der Patientin zu sprechen oder sich anderweitig störend bemerkbar zu machen. Grübelnd betrachtete er die Maschinerie, deren Sinn er nicht einzusehen vermochte.
Es handelte sich um einen Sessel von der Art, wie sie bei Zahnärzten oder Barbieren Verwendung finden, nur mit dem Unterschied, daß an seiner Rückseite eine vernickelte Stange senkrecht zwischen dem Fußboden und dem Plafond des Behandlungszimmers festgeschraubt war. An dieser Stange glitt der Sessel beständig auf und nieder.
Die Patientin, die daraufsaß, eine ältere Dame, war ungemein dick, ihr stark geschminktes Gesicht mehlweiß. Mit einer Art von unansprechbarer Besessenheit stopfte sie fortwährend allerlei Nahrungsmittel in sich hinein, welche auf einem fahrbaren Instrumententisch vor ihr bereitgestellt worden waren: Torten- und Fleischstücke, Würstchen, Artischocken und kleine Happen panierten Fisches. Bei jedem Bissen, den die Person hinunterschlang, wurde der Sessel wie durch eine Katapultvorrichtung in die Höhe geschossen und fiel mit dem Getöse einer Dampframme wieder zurück. Je größer der Bissen war, desto höher flog der Sessel mit der Dame, ganz so, als würde sie durch die Nahrungsaufnahme nicht schwerer, sondern leichter.
Da außer ihm und der fetten Dame auf dem Sessel niemand im Räume war und es auch nicht wahrscheinlich schien, daß vorerst jemand zur Kontrolle käme, wagte der junge Assistenzarzt schließlich, trotz des strikten Verbotes, die halblaute Frage: «Zu welchem Zweck unterzieht man Sie dieser Behandlung?»
Er mußte seine Frage noch einige Male wiederholen, ehe die Dame ihn hörte und für einen kurzen Augenblick ihre Tätigkeit unterbrach.
«Ich leide», sagte sie und wandte sich ihm, der halb hinter ihr saß, mühsam zu, «an progressiver Gravitation. Nur ständiges Essen erleichtert mich. Wenn ich auch nur einige Sekunden damit aufhöre, so wie jetzt, nimmt sofort mein Gewicht zu. Es ist eine Störung der Erdenschwere, verstehen Sie? Einige Stunden völliger Enthaltsamkeit würden dazu führen, daß mein Knochengerüst unter der Last meines Fleisches zusammenbräche. Es widersteht mir selbst, aber nur ständiges Essen erleichtert mich.» Rasch, als habe sie etwas versäumt, schlang sie einen neuen Bissen hinunter, und das Spiel des auf-und niedertanzenden Sessels begann von neuem.
«Man wird Ihnen hier gewiß helfen», murmelte der junge Arzt, «bald wird es Ihnen schon viel besser gehen, Sie werden sehen.» Es stimmte ihn traurig, daß er, trotz ihres offenkundigen Leidens, kein Mitgefühl für die fette Person aufbringen konnte.
Da sie nicht antwortete, erhob er sich nach einer Weile, um die Apparatur genauer zu studieren. In der Nähe des Bodens, zwischen der Nickelstange und der Rückseite des beweglichen Sessels, befand sich eine Vorrichtung, die seine Aufmerksamkeit in besonderem Maße fesselte. Es war ein ziemlich großer gläserner Zylinder, in welchem wie in einer Luftpumpe ein Kolben im Rhythmus des Sessels auf und nieder ging, vermutlich, um dessen allzu harten Aufprall beim Zurückfallen zu dämpfen. Im Inneren dieser gläsernen Röhre saß ein Tier.
Der junge Arzt war nicht in der Lage, dieses Geschöpf zu klassifizieren, doch war es ohne Zweifel das häßlichste, das er je gesehen hatte. Es glich einer besonders großen Vogelspinne, denn es bestand aus einem kugelförmigen Leib und einer Unmenge schwarzbehaarter, sehr beweglicher Gliedmaßen, doch waren diese nicht nach Insektenart steif und durch Gelenke unterteilt, sondern vollkommen weich wie bei einem Kraken. Bei jedem Schlag, den das Tier durch den herabsausenden Kolben versetzt bekam, ringelten sich seine unzähligen Extremitäten schmerzerfüllt und verknäulten sich. Immerfort versuchte es, wenn auch schon halb betäubt, aus dem schrecklichen Gefängnis zu entrinnen, doch fand es nirgendwo einen Ausweg.
Eine Weile beobachtete der junge Arzt das malträtierte Geschöpf und stellte allerlei Überlegungen darüber an, inwiefern wohl eine Notwendigkeit vorliegen mochte, die Qual der Patientin durch die Qual dieser Kreatur zu lindern. Nicht etwa, daß das Tier um seiner selbst willen Mitleid in ihm erregt hätte - dazu war es viel zu abscheulich -, vielmehr war es seine grundsätzliche Einstellung, ein gewisser sachlicher Respekt gegenüber dem Daseinsrecht eines jeden Lebewesens, wie immer es auch beschaffen sei, welche ihn alle unnötige Tortur verabscheuen ließ. Und da er keinerlei Grund dafür sehen konnte, das Tier einer solchen Folter auszusetzen, fühlte er schließlich doch Erbarmen mit ihm, gerade weil es so unaussprechlich häßlich war.
«Hören Sie auf!» schrie er unvermittelt die fette Dame an, die noch immer Bissen nach Bissen hinunterwürgte. «So hören Sie doch endlich auf!» Aber das Weib schien ihn nicht zu hören, vielleicht wollte es auch einfach nicht, jedenfalls schenkte es seinen Worten nicht die geringste Beachtung, sondern stopfte sich weiterhin wie besessen voll.
Nun packte den jungen Arzt plötzlich Zorn und Empörung. Er ergriff irgendein nickelglänzendes Gerät, das zufällig in seiner Reichweite lag, und zerschmetterte mit mehreren kräftigen Schlägen den gläsernen Zylinder. Sofort blieb der Sessel stehen, was die Dame indessen kaum beachtete. Sie warf dem jungen Mann nur, mit vollen Backen kauend, einen tadelnden Blick aus den Augenwinkeln zu. ließ sich jedoch in ihrer Mahlzeit nicht unterbrechen.
Das spinnenartige Geschöpf war inzwischen zur Tür gelaufen. Der junge Arzt öffnete diese und ließ es hinausschlüpfen. Flüchtig kam ihm in den Sinn, daß er für seine impulsive Tat mit gehörigen Strafen rechnen mußte, doch war es nicht eigentlich dies, was ihn dazu trieb, sich rasch aus dem Zimmer zu entfernen. Vielmehr hatte ihn unversehens eine ihm selbst nicht recht erklärliche Neugier gepackt zu beobachten, wohin das Geschöpf so eilig strebte - nun, da es seinem eigenen Antrieb folgen konnte. Mit erstaunlicher Zielbewußtheit hastete es auf seinen unzähligen Beinen durch die Gänge des Instituts auf die nächtliche Straße hinaus und dort weiter, immer weiter, als wolle es um jeden Preis auf kürzestem Wege zu einer bestimmten Stelle.
In halb gebückter Haltung, um es in der Dunkelheit nicht aus dem Auge zu verlieren, lief der junge Arzt hinter dem Tier her, durch stille Seitengassen und Hinterhöfe, über Brücken und Treppen, unter Torbögen und Hochbahntrassen hindurch, bis das Geschöpf endlich in dem nur schwach erleuchteten Flur eines armselig aussehenden Mietshauses sitzen blieb. Es machte keinerlei Anstalten mehr, sich weiter zu bewegen.
Der junge Arzt blickte suchend umher. Er konnte sich nicht vorstellen, was das Geschöpf wohl an diesen Ort gezogen haben mochte. Aber vielleicht, so sagte er sich, hatte der Eindruck ihn getäuscht, und es war gar nicht diese besondere Stelle, die das Tier angezogen hatte, sondern hier endete ganz einfach seine Flucht, möglichst weit fort von dem schrecklichen gläsernen Gefängnis. Ja, gewiß war es so. Er unternahm nichts, um es neuerlich aufzuscheuchen, verhielt sich vielmehr ganz still und wartete ab, was geschehen würde. Er hatte noch nicht lange so gestanden, als er vom entgegengesetzten Ende des dunklen Ganges her ein zweites Tier herbeieilen sah, etwa von gleicher Größe wie das spinnenartige, doch ganz anders von Gestalt. Es glich eher einem dicken Käfer mit mächtigen Greifzangen. Fast gleichzeitig tauchte noch ein drittes Lebewesen auf, das die beiden vorigen an Größe ein wenig übertraf und entfernte Ähnlichkeit mit einer Heuschrecke zeigte. Reglos saßen die drei Tiere nun beisammen, die Köpfe einander zugewandt, so daß ihre Körper gleichsam einen dreistrahligen Stern auf dem Fliesenboden bildeten. Die Anwesenheit des Beobachters schien sie nicht zu bekümmern.
Lange Zeit geschah nichts weiter, und der junge Arzt begann sich über seine eigene Geduld zu wundern. Er hätte selbst nicht sagen können, was eigentlich seine Erwartung gespannt hielt. Als er sich schließlich, mehr aus Vernunft, entschlossen hatte, nun doch fort zu gehen, horchte er plötzlich auf.
Ein eigentümlicher Klang, kaum wahrnehmbar, lag in der Luft, und der Lauschende wurde sich bewußt, daß er ihn, ohne darauf zu achten, schon seit geraumer Weile vernahm. Nun aber, da er ihm seine Aufmerksamkeit zuwandte, hörte er immer deutlicher und klarer einen ganz unirdisch zarten und reinen Dreiklang von solcher Schönheit, daß ihm Tränen des Entzückens in die Augen traten. War es denn möglich, daß diese drei Kreaturen, die so widerwärtig anzusehen waren, miteinander musizierten? War es möglich, daß sie, die dort in der dunklen und schmutzigen Ecke beisammen saßen, diesen reinsten aller Akkorde hervorbrachten? Mein Gott, dachte der junge Arzt entrückt, mein Gott, was für ein unbeschreibliches Glück!
Als die Morgendämmerung anbrach, entschwand die Musik, obgleich die Tiere reglos sitzen blieben. Der junge Arzt trat, noch immer ein wenig benommen, auf die Straße hinaus. Vor ihm lag im ersten Frühlicht eine kleine Grünanlage mit zertretenem Gras. Auf den Bänken saßen etwa zehn Menschen, jeder in sich versunken, als hätten auch sie die ganze Nacht dem Dreiklang gelauscht. Bäuerliche Gesichter waren es, die jetzt eines nach dem anderen aufblickten und dem jungen Arzt lächelnd, aber irgendwie feierlich zunickten. Die Männer trugen Pelzmützen und Barte, die Frauen Kopftücher, alle waren in weite Kittel aus rohem, ungefärbtem Sackleinen gekleidet. Als der junge Arzt vor sie hintrat, sah er, daß diese Kittel über und über mit Schriftzeichen bedeckt waren, aber es waren Zeichen einer ihm unbekannten Schrift. Er hielt sie für kyrillisch.
«Namen?» fragte er und deutete auf die Buchstaben, «eure Namen?»
Die Angesprochenen nickten lächelnd, aber so, als hätten sie die Frage nicht verstanden, sondern nickten nur aus Freundlichkeit.
«Woher kommt ihr?» fragte der junge Arzt und sprach jedes Wort langsam und deutlich aus.
Ein Alter mit weißem Bart antwortete, aber es war eine fremde Sprache. Plötzlich krähte ein Hahn. Der junge Arzt blickte sich erstaunt um, und die Bauern lachten gutmütig über seine Verwunderung, dabei zeigten sie auf ein Weib, das am Ende ihrer Reihe saß. Der junge Arzt ging zu ihr hin und sah, daß sie ihren Kittel weit geöffnet hatte, so daß ihre mächtigen Brüste entblößt waren. Auf der Haut des Busens war eine Ikone gemalt, kostbar und zum Teil mit Blattgold belegt.
Wieder war der heisere Hahnenschrei zu hören, und die Bauern lachten. Das Weib mit dem offen dargebotenen Busen machte eine abwehrende Handbewegung gegen die Lachenden, dann zog es hinter der Bank einen Sack hervor, öffnete ihn und hielt ihn so dem jungen Arzt hin. Er warf einen Blick hinein und sah, daß der Sack etwa zur Hälfte mit Eisstücken gefüllt war. Auf diesen saß ein vollkommen nackter, gerupfter Hahn, der allerdings durchaus lebendig war und, als er das zu ihm niedergebeugte Gesicht des jungen Arztes erspähte, mit den Flügelstummeln schlug und zum dritten Male krähte.