DIE MANSARDENKAMMER IST HIMMELBLAU,…
… die Wände, die Decke, der Boden, die paar Möbel. Der Student sitzt am Tisch und hält seinen Kopf mit beiden Händen. Seine Haare sind verwirrt, seine Ohren glühen, seine Hände sind kalt und feucht. Kalt und feucht ist der ganze kleine Raum. Und nun ist auch noch das elektrische Licht ausgefallen.
Er zieht das Buch näher zu sich heran und beginnt noch einmal von vorn. Er muß, er muß das Pensum noch schaffen. Nächste Woche ist das Examen.
«… Die spezielle Relativitätstheorie gründet sich auf Konstanz der Lichtgeschwindigkeit… P ist ein Punkt im Vakuum… P' ein um die Strecke dsigma entfernter unendlich benachbarter… ein unendlich benachbarter… in F gehe zur Zeit / ein Lichtimpuls aus und gelange nach P' zur Zeit t* dt…»
Der Student fühlt, daß seine Augen hart und trocken sind wie Hornknöpfe. Er reibt sie eine Weile mit den Fingern, bis sie zu tränen beginnen. Sich zurücklehnend blickt er in der Mansarde umher, ein Verschlag aus Spanplatten, den er sich vor zwei Jahren selbst gebaut hat - in einer Ecke des großen Speichers. Damals mochte er himmelblau, jetzt mag er es nicht mehr. Aber er hat keine Zeit, noch irgend etwas zu ändern. Er hat schon zu viel versäumt.
Ob sie ihm überhaupt erlauben werden, weiter hier zu wohnen? Er zahlt Miete, natürlich, aber nur sehr wenig. Deswegen hat er sich ja hier eingerichtet. Wer kein Geld hat, kann keine Ansprüche stellen. Aber jetzt, wo der frühere Besitzer des Hauses gestorben ist, werden sie ihm vielleicht die Miete erhöhen. Wo soll er dann hin? Und ausgerechnet jetzt, vor dem Examen. Wie soll sich einer auf die Arbeit konzentrieren, wenn er nicht einmal weiß, wo er morgen bleiben wird! Wenn sich die Erben nur endlich einig würden, damit man wenigstens weiß, woran man ist.
Er schiebt das Buch zurück und steht auf. Er ist blaß und lang, viel zu lang. Er muß den Kopf einziehen, um nicht an die Decke zu stoßen. Er will jetzt endlich Gewißheit haben, jetzt sofort, damit er, von Sorgen nicht mehr beunruhigt, weiterarbeiten kann.
Der riesige Speicher, durch den er geht, ist vollgestopft mit allen nur denkbaren Gegenständen, Möbeln, Riesenvasen, präparierten Tieren, lebensgroßen Puppen, unverständlichen Maschinen und Räderwerken. Er steigt die breite Treppe hinunter, dann läuft er durch die lange Galerie, in der tausende von blinden Spiegeln hängen, große und kleine, glatte und gekrümmte, die sein Bild tausendfach, aber verschwommen zurückwerfen.
Endlich kommt er in einen der großen Säle. Hier sieht es aus wie in einem Völkerkundemuseum nach einer Plünderung. Die Glasvitrinen sind teilweise zertrümmert, Schmuck und Kostbarkeiten, die in ihnen zur Schau gestellt waren, sind herausgerissen. Mumienschreine hat man aufgebrochen, Gefäße liegen in Scherben auf Haufen geworfen, Rüstungen hängen schief in den Gestellen, und aztekische Festgewänder aus Kolibrifedern lösen sich in Fetzen auf und werden von Motten gefressen.
Der Student bleibt stehen und schaut erstaunt umher. Wie kann das alles so verkommen sein, seit er das letzte Mal hier war?
Aber wann war er denn das letzte Mal hier? Lebte der frühere Besitzer noch? Ja, wahrscheinlich. Eigentlich hat er ihn selbst nie zu Gesicht bekommen. Nur dessen alten Diener, einen Mann mit strengem Gesicht und feierlicher Würde.
Während der Student noch nachdenkt, betritt eben jener Diener den Saal. Er hat einen großen Staubwedel unter dem Arm. seine Livree ist besudelt und zerrissen, die weißen Haare stehen wirr um seinen Kopf, und - ja. tatsächlich! - er schwankt ein wenig beim Gehen und macht fahrige Bewegungen mit den Händen, während er vor sich hinmurmelt.
«Guten Tag!» sagt der Student höflich, «könnten Sie mir bitte sagen…»
Aber der alte Diener geht gestikulierend an ihm vorüber und scheint ihn nicht wahrzunehmen. Der Student folgt ihm.
«Sinnlos!» murmelt der Diener mit einer definitiven Geste, «es ist absolut sinnlos, daß man überhaupt anfängt. Gott zum Gruß, mein lieber junger Mensch.»
Der Student ist einigermaßen verwirrt. «Was meinen Sie damit?»
«Ganz gleich was!» schreit ihn der Diener an. «Ein Anfang, das ist immer eine ungeheuerliche Sinnlosigkeit. Warum? Es gibt ihn nicht! Kennt die Natur vielleicht einen Anfang? Nein! Also ist es widernatürlich anzufangen! Und in meinem Fall? Ebenso sinnlos. Beweis: Zum Beispiel jetzt.»
Er zieht eine Flasche aus der Rocktasche, kippt einen Schluck in seine Gurgel, schüttelt sich, rülpst, steckt die Flasche sorgfältig wieder weg. Der Student will gerade seine Frage vorbringen, aber der Alte fährt schon fort:
«Denken muß man», er tippt sich mehrmals gegen die Stirn, «objektiv denken, das muß man! Verstanden, junger Mensch? Wenn ich also objektiv denke, dann muß ich mir sagen, es besteht nicht die geringste Aussicht, daß ich, ein einzelner, schwacher Mensch, an der Lage der Dinge irgend etwas ändern werde. Wer bin ich denn, daß ich mich dessen unterfangen dürfte? Ein von lebenslänglicher Anstrengung zu denken entnervter Greis, das bin ich. Keine Widerrede!»
Wieder zieht er die Flasche heraus, trinkt, wischt sich mit dem Ärmel den Mund.
«Man muß aus dem Geist leben, verstanden, junger Mensch? Aus der Erkenntnis muß man leben! Aber das ist gar nicht so einfach. Besonders im alltäglichen Leben. Angenommen, ich stürze mich in den aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht all dieses schlummernden Staubes - was werde ich ausrichten? Nichts, gar nichts, das sagt mir meine logische Vernunft. Außer vielleicht eine Verschlimmerung der sowieso schon verzweifelten Verhältnisse. Ein Beispiel: Ich werde jetzt diesen Vorhang aufziehen, worauf der sofort abreißen wird.»
Er zieht einen schweren Vorhang am Fenster auf, und dieser reißt sofort ab und sinkt in einer Staubwolke zu Boden.
«Ein weiteres Beispiel», fährt der Alte unbeirrt fort, «ich werde versuchen, dieses Fenster zu öffnen, worauf es mir sofort entgegenfallen wird.»
Er versucht das Fenster zu öffnen, und es fällt ihm sofort entgegen. Die Scheiben zerklirren am Boden.
Der Diener blickt den Studenten triumphierend an.
«Wie gesagt, das beweist alles. Das Chaos wächst nur mit jedem Versuch, es zu bezwingen.
Das Beste wäre, sich still zu halten und gar nichts mehr zu tun.»
Er nimmt noch einen Schluck.
«Ach so», sagt der Student und blickt zerstreut umher, «Sie wollen hier Ordnung machen?»
«Abstauben!» verbessert ihn der alte Diener, «abstauben, wie ich es ein Leben lang getan habe. Aber da sehen Sie selbst, was von all unserer Müh' und Plage bleibt: Staub. Oder vielmehr sieht es so aus, als bliebe als Letztes Asche. Staub am Anfang und am Ende Asche. Das bleibt sich gleich. Jedenfalls ist es, als sei man nie gewesen. Spurenlos geht man hinweg, das ist das Schlimmste.»
«Immerhin», meint der Student freundlich, nur um irgend etwas Ermunterndes zu sagen, «immerhin weht ein bißchen frische Luft herein. Man hört das Pfeifen der einfallenden Bekassinen vom Moor herüber. Das ist doch auch etwas.»
Der Alte kichert und hustet. «Ja ja, die liebe Natur! Die geht einfach ihren Gang. Unsere Schwierigkeiten sind ihr wurst. Sie muß ja auch keine Entscheidungen treffen wie ich. Aber nein, der Mensch ist kein Vogel, denn er hat keine Flügel. Der Mensch muß aus der objektiven Erkenntnis leben, dafür hat er sein Hirn, junger Mensch! Das ist die Moral. Moral, das heißt: Es geht nicht so einfach. Merken Sie sich das, junger Mensch! Ich muß noch einmal von vorne anfangen, das Problem durchzudenken.»
«Ich sehe schon», sagt der Student, «Sie sind nicht leicht zu entmutigen. Aber könnten Sie mir vorher nur eben rasch eine kleine Auskunft geben?»
Der Diener hört ihm nicht zu. Er läuft weiter in den nächsten Saal hinüber und redet vor sich hin. «Das Problem liegt folgendermaßen: Wenn es tatsächlich sinnlos ist anzufangen, dann ist es sinnvoll nicht anzufangen. Ergo: Ich lasse es besser bleiben.»
«Richtig!» sagt der Student, der hinter ihm herläuft, «lassen Sie es bleiben.»
«Ein zwingender Schluß!» Der alte Diener lacht listig. «Aber jetzt passen Sie auf, junger Mensch: Was ist das menschliche Leben?»
Der Student schaut ihn ratlos lächelnd an. «Ja, also ehrlich gesagt, ich möchte mich da nicht festlegen….»
Der Alte tippt ihm mit dem Finger gegen die Brust und bläst ihm seinen Atem ins Gesicht. «Auf verlorenem Posten kämpfen, das ist das Leben!» sagt er und betont jedes Wort einzeln. «Und worin besteht die moralische Größe, der sittliche Appell, der ethische Imperativ? Ich sage es Ihnen, junger Mensch: Auch wenn alles sinnlos ist, man muß dennoch anfangen! Warum? Weil man tun muß, was man kann!»
«Bravo!» sagt der Student und versucht dem Atem auszuweichen.
«Ich gebe offen zu», fährt der Diener fort, «ich habe mich soeben selbst total in die Enge getrieben, unausweichlich! Und das will etwas heißen.»
«Sie sind tatsächlich ein unerbittlicher Denker», wirft der Student rasch ein.
Der Alte zieht tief die Luft ein und breitet die Arme aus. «Hier stehe ich als Hausmeister und Mensch», ruft er durch die Flucht der Säle, «gegen mich die ganze hoffnungslose Übermacht des Chaos, und ich habe einen unwiderruflichen Entschluß gefaßt.»
Plötzlich sinkt er zusammen, packt den Studenten am Arm und klammert sich an ihn.
«Wenn mich jetzt nicht jemand im letzten Augenblick vom Abgrund zurückreißt», flüstert er entsetzt, «dann werde ich unweigerlich Staub zu wischen beginnen. Die Folgen, junger Mensch, sind unabsehbar!»
Aber der Student hat kaum zugehört und schüttelt den Alten ab. Er hat etwas gesehen, das seine Aufmerksamkeit aufs höchste fesselt. In der Mitte des übernächsten Saales, so daß sie durch die geöffneten Türflügel sichtbar sind, sitzen Leute um einen langen Konferenztisch. Sie sind nicht deutlich zu unterscheiden, denn es herrscht Halbdunkel in dem Saal, aber der Student zweifelt nicht, daß es die Erben sind, die dort verhandeln.
«Sagen Sie bitte», flüstert er dem Alten zu und zeigt zu dem Tisch hinüber, «weiß man schon irgendwas Genaueres?»
«Danke», antwortet der Diener ebenso leise, «danke, daß Sie mich ablenken, junger Herr. Leider muß ich Ihnen mitteilen, nein, man weiß noch immer nichts.»
«Ach, das ist doch zu dumm!» meint der Student und geht entschlossen auf den Tisch zu. «Ich muß sie einfach fragen….»
Aber der Alte hat ihn am Ärmel erwischt und versucht, ihn zurückzuhalten. «Um Himmels willen, stören Sie die Herrschaften nicht. Nicht gerade jetzt! Das geht auf gar keinen Fall!»
Der Student bleibt stehen, und ohne die Erben aus dem Auge zu lassen, erklärt er halblaut: «Ich muß jetzt einfach wissen, ob ich bleiben kann oder ob ich mich nach einer neuen Unterkunft umsehen muß, verstehen Sie doch! So was nimmt Zeit in Anspruch, und ich habe im Augenblick keine Zeit zu verlieren. Nächste Woche ist mein Examen, und wenn sie mich morgen oder übermorgen hinauswerfen, dann sitze ich schön da.»
«Ich verstehe schon», sagt der Alte und tätschelt ihm die Wange, «nur noch ein klein wenig Geduld. Ihr jungen Menschen seid so ungeduldig. Wenn Sie darauf bestehen, dann werde ich mich bei passender Gelegenheit für Sie erkundigen.»
«Das haben Sie mir schon vor zwei Wochen versprochen!»
«Gewiß, aber die Herrschaften sind sich leider noch nicht recht einig geworden, wer von ihnen der neue Eigentümer sein wird.»
«Es dauert ziemlich lang, finden Sie nicht?»
«Wie man's nimmt. Solche Dinge brauchen ihre Zeit. Aber die Herrschaften kommen der Einigung von Stunde zu Stunde näher, glauben Sie mir! Sie machen die größten Anstrengungen. Aber es ist eben sehr, sehr schwierig unter diesen ungewöhnlichen Umständen zu einer Lösung zu kommen.»
«Die Herrschaften sind aber ziemlich still, finde ich. Sie reden ja nicht einmal miteinander!»
«Ja, ja, leider ist wieder einmal ein toter Punkt eingetreten. Jetzt denken alle nach, um eine neue Verhandlungsbasis zu finden. Stören Sie nur jetzt nicht, sonst dauert es noch viel länger!»
Aber der Student reißt sich mit Gewalt von dem Diener los und geht entschlossen zu dem Tisch, um den die Leute sitzen. Während er näher kommt, bemerkt er, daß sie steif und reglos sind wie Mumien. Dicker Staub liegt auf ihren Köpfen, ihren Barten, ihren Kleidern, ihren Brillen. Zwischen ihnen hängen Spinnweben, die nun leise im Luftzug wehen. Wortlos zeigt der Student darauf und blickt den alten Diener an.
«Ja», murmelt der verlegen, «wie eine Hängematte, nicht wahr?»
Der Student schaut auch unter den Tisch und die Stühle. Dort ziehen sich überall Spuren von winzigen Füßchen durch den Staub. Es sind wohl Asseln oder Käfer gewesen.
«Wollen Sie mal einen Schluck?» fragt der alte Diener und reicht dem Studenten die Flasche hin.
«Man bekommt Durst bei dem Anblick, finden Sie nicht?»
Der Student riecht an der Flasche und fährt zurück. «Mein Gott, was ist denn da drin?»
«Essig», erklärt der Alte plötzlich ganz in seiner früheren ernsten Würde, «Essig und Galle. Eine berühmte Mischung. Sie macht nüchtern. Das einzige Mittel, um in dieser bewußtseinstrübenden Lage immer wieder zur Vernunft zu kommen. Sie sehen, ich bin ein umgekehrter Trinker. Man gewöhnt sich an alles. Sie werden sich auch noch daran gewöhnen.»
«Das glaube ich kaum», antwortet der Student. «Und ich gewöhne mich auch nicht an diese verdammte Unsicherheit, daß ich nicht weiß, was nun mit mir und meinem Zimmer wird.»
«Oh», macht der Alte und lächelt traurig, «das ist nur der Anfang. Aber offen gestanden, ich habe auch nicht damit gerechnet, daß sich die Dinge so hinziehen würden. Ich hatte tatsächlich geglaubt, das Testament des verstorbenen Herrn würde einfach eröffnet und man wüßte, woran man ist.»
«Was ist denn eigentlich dazwischengekommen?»
Der Alte nimmt einen Schluck. «Dazwischengekommen ist eigentlich gar nichts.» Er korkt die Flasche zu und steckt sie ein.
Der Student geht langsam um den langen Tisch herum und schaut den Erben in die verstaubten Gesichter, einem nach dem anderen. Er bläst einen an, und eine Wolke erhebt sich.
Er seufzt und setzt sich auf ein damastbezogenes Sofa, das jedoch sofort unter ihm zusammenbricht. Er rappelt sich mühsam hoch und klopft sich ab.
«Lang», sagt er, «dürfen die aber nicht mehr weitermachen, wenn überhaupt noch etwas übrigbleiben soll.»
«Ganz meine Meinung», antwortet der Diener und wedelt ihn mit dem Staubwedel ab.
«Wie lang, glauben Sie, wird es noch dauern?»
«Das ist schwer zu sagen. Vielleicht nur noch kurz, vielleicht auch nicht.»
«Aber vorerst kann ich wohl damit rechnen, daß mir meine Mansarde noch ein Weilchen erhalten bleibt, nicht wahr?»
«Darauf würde ich mich lieber nicht verlassen, junger Herr.»
«Ach, Scheiße!» sagt der Student sanft. «Das ist doch wirklich idiotisch, so in der Luft zu hängen.»
Der Alte lacht wieder hustend. «Wir hängen alle in der Luft, Sie, die Erben, ihre Angehörigen, sogar ich.» Er macht eine Geste um seinen Hals, als hinge er an einem Strick. «Und dabei werden einem so leicht die Füße kalt.» Er hustet wieder.
«Die Erben?» fragt der Student. «Wieso die?»
«Nun, die Herrschaften wissen ja auch nicht, wie sie sich gegeneinander verhalten sollen, mit wem sie sich gut stellen müssen und mit wem nicht. Jeder kann für jeden einmal wichtig werden, keiner darf es sich leisten, es ganz mit einem anderen zu verderben. Also hassen sie sich stumm und mustern einander mit Augen wie Revolvermündungen. Das Schlimmste ist jedoch, jeder hat eine Unmenge Angehörige mitgebracht, die sich in allen Räumen des Hauses breitmachen. Aber wir sind nicht eingerichtet für so viele Gäste. So haben sie in den unteren Sälen schon Hütten und Bungalows errichtet, sie haben dazu kostbare alte Möbel demoliert und Bretter aus der Vertäfelung gerissen. Neuerdings richten sie sogar Feuerstellen auf dem Parkett ein, um ihre Mahlzeiten zu kochen. Die elektrischen Leitungen des Hauses reichen bei weitem nicht aus, um all die Heizöfen, Kochplatten, Radioapparate, Fernsehgeräte und was weiß ich noch auszuhalten. Irgendwann werden wir den fürchterlichsten Brand erleben. Ich gehe herum und flehe die Leute an, aber jeder sagt mir: Warum gerade ich? Keiner will sich natürlich einschränken, ohne daß es die anderen zuerst tun. Am Anfang war das alles ja nur als ein Provisorium gedacht, aber inzwischen haben sich die Herrschaften in diesem Provisorium längst häuslich eingerichtet. Es ist zum Weinen.»
Der Alte zieht ein schmutzstarrendes Taschentuch heraus und putzt sich die Nase.
«Von all dem», sagt der Student verwirrt, «habe ich fast nichts bemerkt - außer, daß der Strom oft ausgefallen ist.»
«Und wie ich selbst in der Luft hänge», fährt der Diener mit klagender Stimme fort, «davon können Sie sich kaum eine Vorstellung machen, lieber junger Mensch! Alle Herrschaften betrachten mich als ihren persönlichen Diener: Tun Sie dies! Besorgen Sie mir das! Aber möglichst schnell! Und ich kann mich nicht wehren, weil ja jeder der neue Herr werden kann. Ich bin dieser Anforderung einfach nicht mehr gewachsen! Und denken Sie nur, man benützt mich sogar, um sich gegenseitig zu bespitzeln. Und ich, ich darf es doch mit keinem verderben! Und das einem Mann, der gewohnt ist, aus dem Denken, aus der Vernunft zu leben! Es ist die Hölle!»
Der Alte wischt sich mit dem Taschentuch die Augen. «Aber was wird erst sein, wenn die Verhältnisse einmal geregelt sind? Was wird dann aus mir? Sagen Sie mir das! Werde ich meine Stellung behalten dürfen? Wird man mich für diese übermenschliche Arbeit wenigstens bezahlen? Oder stößt man mich trotz all meiner Anstrengung zuletzt doch auf die Straße, alt und gebrechlich wie ich bin? Dieses Damoklesschwert über meinem Haupt lahmt, wie sie begreifen werden, meinen Arbeitseifer. Und eben dadurch säge ich selbst an dem Haar, an dem dieses Schwert hängt! Die Menschen sind grausam! Junger Mensch, Sie sehen vor sich einen Verzweifelten!»
Schluchzend lehnt sich der Alte an die Brust des Studenten. Dieser streichelt ihn verlegen und murmelt: «Ich sollte zwar eigentlich arbeiten -aber ich habe in den letzten Tagen und Nächten so angestrengt gebüffelt, daß mir ein bißchen Bewegung vielleicht ganz guttut. Wenn ich Ihnen also an die Hand gehen kann, dann…»
Der alte Diener ist sofort getröstet.
«Aber gewiß», sagt er, «körperliche Arbeit ist sehr gesund, fast so gesund wie Schlaf. Hier, nehmen Sie gleich den Staubwedel und fangen Sie an! Aber Vorsicht, bitte schön! Machen Sie nichts kaputt!»
Er geht zur Tür, dreht sich noch einmal um und sagt streng: «Ich komme später vorbei und sehe nach, ob du auch anständig gearbeitet hast. Also gib dir Mühe, Junge, sonst lernst du mich von einer anderen Seite kennen! Hopp, worauf wartest du?»
Er geht hinaus, und der Student schaut ihm erstaunt nach. Dann zuckt er mit einem blassen Lächeln die Achseln und beginnt, mit dem Wedel abzustauben. In einer Wolke von Staub hält er hustend inne und versinkt in Nachdenken.
«Moment», murmelt er vor sich hin, «wie war das noch? Ich muß es aufschreiben…»
Er geht zu dem Tisch, um den die reglosen Erben sitzen, und beginnt mit dem Finger in den Staub zu schreiben.
«d sigma hoch zwo gleich c hoch zwo dt hoch zwo… führt man die imaginäre Zeitkoordinate Wurzel minus eins c t gleich x vier ein, dann heißt das Gesetz von der Konstanz der Lichtausbreitung ds hoch zwo gleich dx eins hoch zwo plus dx zwo hoch zwo plus dx drei hoch zwo plus dx vier hoch zwo gleich Null…»
Er zieht sich einen Stuhl an den langen Tisch, setzt sich zwischen zwei der Erben, stützt den Kopf auf und rechnet weiter.
«Da diese Formel einen realen Sachverhalt ausdrückt, muß auch die Formel ds eine reale Bedeutung haben, auch dann, wenn die benachbarten Punkte des vierdimensionalen raumzeitlichen Kontinuums so liegen, daß ds verschwindet… nein, halt, nicht verschwindet… nicht verschwindet… nicht…»
Sein Kopf sinkt langsam auf die Tischplatte, und mit der Wange auf den Formeln im Staub schläft er ruhig und mit tiefen Atemzügen wie ein Kind.