Fenstersturz

Das Geländer der neuen Elbbrücke verschwamm hinter der Scheibe zu einem bizarren Muster. Weit dahinter konnte Sören auf dem Strom die zerfurchte Kiellinie eines flachen Schaufelraddampfers erkennen, der die Elbe mühsam aufwärts schipperte. Im Licht der Nachmittagssonne glänzte der weiße Rumpf fast unwirklich hinter den dunklen Rauchschwaden, die stoßweise aus dem mächtigen Schornstein quollen. Sören versuchte, die Geschehnisse zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Über allem schwebte die Frage, wie Simon Levi es geschafft hatte, die Auswandererstadt zu verlassen, und vor allem: warum. Die Bewohner setzten sich nicht über die gegebenen Verbote hinweg, hatte Völsch gesagt. Sie hatten schlichtweg Angst, dass sich ihre Passage in die Neue Welt dadurch verzögern könnte, wenn sie irgendwelche Schwierigkeiten machten. Warum also sollte Levi dieses Risiko eingegangen sein? Für ein paar Stunden Amüsement, wo er doch über die Silvesterfeierlichkeiten und den Trubel in der Stadt kaum Kenntnis gehabt haben konnte? Niemand sonst wurde in der Auswandererstadt vermisst. Er musste irgendeinen Grund gehabt und sich allein auf den Weg gemacht haben. Aber wie?

Das mahlende Schleifen der Räder veränderte seinen Klang, als der Wagen auf die Billhorner Brückenstraße rollte und kurz darauf den Oberhafenkanal querte. Auf der linken Seite erschienen die Poller des Billhafens, rechts in der Ferne konnte Sören Rothenburgsort und den hohen Turm der städtischen Wasserkunst erkennen, bevor die Bahn ruckelnd nach links in die Banksstraße abbog. Gedankenversunken malte Sören mit der Fingerspitze einige Kreise auf die beschlagene Scheibe. Bei allem, was er in der Auswandererstadt erfahren hatte, sehr viel weiter war er mit den Informationen nicht gekommen. Genau genommen hatte er von Völsch nur bestätigt bekommen, was er ohnehin schon vermutet hatte. Allerdings hatte der Polizeileutnant zum Schluss ihres Gesprächs, so freundlich und zuvorkommend er ihm gegenüber gewesen war, seltsam distanziert gewirkt. Es mochte daran liegen, dass er als Ordnungshüter eben dafür mitverantwortlich war, dass nicht geschah, was geschehen war. Bestimmt lag darin der Grund, dass er Sörens Nachfragen mehrfach abgeblockt hatte.

Während die Straßenbahn parallel zu den Gleisen der Dampfbahn am Hammerbrook entlangratterte, versuchte Sören, sich einen Plan zurechtzulegen. Er brauchte mehr Informationen. Die Angaben, die er bislang erhalten hatte, widersprachen sich völlig, und Aufklärung konnte eigentlich nur ein Gespräch mit den ermittelnden Kriminalbeamten liefern. Aber ohne Mandat ließ sich das nur schwer bewerkstelligen. Seit Gustav Roscher vor neun Jahren Leiter der Kriminalpolizei geworden war, hatte sich viel verändert. Der ehemalige Staatsanwalt hatte den ihm unterstellten Polizeiapparat völlig umgekrempelt und eindeutig militärisch ausgerichtet. Nicht nur, was die Organisation betraf, sondern auch das Personal. Das Konstablerkorps und die Schutzmannschaft rekrutierten sich in erster Linie aus Unteroffizieren aus Heer und Marine. Und zu diesen Leuten hatte Sören keine engeren freundschaftlichen Kontakte mehr. Bis Anfang der neunziger Jahre hatte er in Polizeisekretär Ernst Hartmann, dem damaligen Leiter der Kriminalpolizei, noch einen ihm freundschaftlich gesinnten Ansprechpartner gehabt. Aber diese Zeiten waren nun vorbei. Roscher selbst kannte er nur flüchtig, und mit den ihm unterstellten Polizeiräten Rosalowsky und Schön war Sören schon häufiger im Gerichtssaal aneinandergeraten. Vor allem Rosalowsky, dem Leiter der Politischen Polizei, musste Sören ein Dorn im Auge sein, denn häufig genug verteidigte er genau die Leute aus der Hamburger Arbeiterschaft, auf die Rosalowsky seine Wirtschaftsvigilanten als Spitzel angesetzt hatte. Auch aus Sicht von Polizeirat Schön stand Sören auf der falschen Seite. Selbst wenn Schön eigentlich an Aufklärung gelegen war, wirkte sein Vorgehen immer so, als könne er im allerletzten Augenblick noch einen Trumpf aus dem Ärmel ziehen. An Kooperation war jedenfalls nicht zu denken. Es lief alles darauf hinaus, dass er David wirklich selbst vertreten musste. Nur so konnte er an die ihm wichtigen Informationen gelangen. Auch war fraglich, ob die Kollegen, selbst wenn sie das Mandat übernehmen würden, mit vergleichbarem Engagement bei der Sache sein würden. Aber zuerst wollte er mit diesem Otte sprechen.

Am Berliner Bahnhof stieg Sören aus. Ein unangenehmer Wind aus Richtung Brookthorhafen wehte über den Bahnhofsplatz, und Sören rückte seinen Schal zurecht. Es war richtig gewesen, heute aufs Fahrrad zu verzichten. Als er den großen Platz in Richtung Klostertorbahnhof überquerte, frischte der Wind nochmals auf. Kleine Windhosen wirbelten den Staub und Unrat von der Straße empor, Mäntel blähten sich auf, Schirme klappten um, und mehreren Passanten wurden die Hüte vom Kopf geweht. Sie lieferten sich über das Pflaster rollend ein Wettrennen mit alten Zeitungen und Kartonagen. Alles schien in Bewegung geraten, nur die Pferde vor den Wagen verharrten mit angelegten Ohren in trotziger Regungslosigkeit.

Hinter dem Gebäude des alten Klostertorbahnhofs schwenkte Sören nach rechts und warf einen Blick auf die blattlosen Grünanlagen des ehemaligen Stadtwalls, dessen Verlauf hier bis über den Steintorplatz hinaus noch sichtbar war. Spätestens wenn man im nächsten Jahr mit dem Bau des geplanten Zentralbahnhofs begann, würde auch dieses Relikt aus dem alten Hamburg verschwinden und die ehemalige Vorstadt St. Georg endgültig mit der Altstadt verschmelzen. Das ganze Areal zwischen neuem Schauspielhaus, Steinthor und Schweinemarkt würde dann sein Gesicht verändern und im Schatten der zukünftigen Bahnhofshalle liegen. Dort, wo die bisherige Bebauung es zuließ, entstanden bereits vornehme Hotels, deren Fassaden auf den späteren Bahnhof ausgerichtet waren. Ganz anders die Gegend rund um den alten Münzplatz. Keine Spur reger Bautätigkeit, wie man sie etwa an der Kirchenallee beobachten konnte. Als wolle man die weitere Entwicklung erst einmal abwarten, waren Pracht und Herrlichkeit vergangener Jahre hier deutlich verblasst.

Auch das Hotel Victoria bei dem Hühnerposten, in dem Waldemar Otte abgestiegen war, musste schon bessere Jahre gesehen haben. An der Fassade zeigten sich bereits Risse, die Farbe an den Fensterrahmen war spröde und blätterte an einigen Stellen ab, und von den schmiedeeisernen Geländern und Brüstungen liefen kleine, rostfarbene Rinnsale an den Mauern herab. Die Gäste schien es nicht zu stören. Beim Eintreten las Sören ein Schild, auf dem stand, dass man vollständig belegt sei.

Auch das Entree wirkte etwas verstaubt, bei weitem aber nicht so heruntergekommen wie das Äußere des Hauses. An der Rezeption entschuldigte sich der Empfangschef bei einem vornehm gekleideten Herrn, der das Schild am Eingang übersehen haben musste und hartnäckig nach einem Zimmer verlangte. Sören wartete, bis der Mann schließlich aufgab und leise fluchend das Hotel verließ. Der Empfangschef räusperte sich verlegen, nestelte am oberen Knopf seiner Livree und wendete sich dann Sören zu.

Sören kam einer Entschuldigung zuvor. «Ich habe gelesen, dass Sie belegt sind, und ich möchte auch kein Zimmer.» Er reichte dem Empfangschef seine Karte. «Wenn ich richtig informiert bin, wohnt bei Ihnen ein Herr Otte aus Danzig. Ist er im Hause?»

Der Empfangschef warf nur einen flüchtigen Blick auf die Karte, dann schaute er aufs Schlüsselbrett und nickte. «Zimmer 43. Herr Otte erwartet Sie bereits.»

Sören kam nicht dazu, seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen und die Verwechselung aufzuklären. Ein Page drängte hinter den Tresen und forderte die Aufmerksamkeit des Empfangschefs.

«Auf der vierten Etage», fügte er an Sören gerichtet hinzu, reichte ihm die Karte zurück und deutete auf die geschwungene Treppe in der Empfangshalle. Dann verließ er die Rezeption und folgte dem jungen Pagen.

Sören steckte die Karte ein und zögerte einen Augenblick. Wen auch immer Waldemar Otte erwartete, er war es bestimmt nicht. Aber dieses Missverständnis verschuldete eindeutig das Hotel, und darauf konnte er sich im Notfall berufen. Wenn Waldemar Otte nicht mit ihm sprechen wollte, dann war es eben so. Also entschloss sich Sören, die Gelegenheit zu nutzen, und machte sich auf den Weg nach oben.

Auf dem ersten Podest drängte sich eine dicke Frau an Sören vorbei. Hinter ihr folgte ein Page, der einen schweren Überseekoffer auf einer Sackkarre Stufe für Stufe nach unten beförderte. Aus der Tiefe des Flures vernahm Sören fremdländische Stimmen, dann gingen zwei junge Damen an ihm vorbei und tuschelten aufgeregt. So selten, wie er selbst in Hotels verkehrte, wunderte er sich stets aufs Neue, mit wie viel Leben diese Häuser gefüllt waren.

Ab der dritten Etage wurde die Treppe etwas schmaler. Ein Zimmermädchen kam ihm mit einem Wäschesack entgegen, blickte ihn verstohlen an und verschwand sogleich wieder durch eine kleine Tür, die sich in einer Nische hinter einem dunklen Vorhang verbarg. Auf den unteren beiden Etagen waren deutlich mehr Leben und Verkehr gewesen, je höher Sören stieg, desto seltener begegnete ihm jemand. Auch waren die Stimmen nur noch entfernt zu vernehmen.

Sören überlegte, ob Waldemar Otte ihm überhaupt Gehör schenken würde, wenn er erfuhr, wer Sören war. Er musste dem Mann ja nicht verraten, in welchem Verhältnis er zu demjenigen stand, der aufgrund seiner Aussage verhaftet worden war. Dann vernahm er plötzlich polternde Schritte auf der Treppe, die sich rasch näherten. Bevor er ausweichen konnte, war es auch schon geschehen. Der Mann, der um die Ecke gehastet kam, starrte ihn für den Bruchteil einer Sekunde überrascht an, dann traf ihn dessen Körper mit voller Wucht. Sören spürte den Aufprall an der Schulter, taumelte rückwärts, stieß gegen das Treppengeländer und konnte sich erst im letzten Moment festhalten und einen Sturz vermeiden.

Den anderen hatte es in der Abwärtsbewegung schlimmer erwischt. Der Mann war bäuchlings auf den Stufen gelandet und bis zum Ende der Treppe hinuntergerutscht. Wahrscheinlich hatte er sich die Rippen gebrochen, schoss es ihm durch den Kopf, vielleicht sogar das Genick, denn für einen Moment blieb der Mann regungslos liegen und gab keinen Mucks von sich. Doch dann rappelte er sich auf, griff nach der ledernen Mappe neben sich und blickte Sören fassungslos an. Der Inhalt der Mappe lag verstreut auf allen Treppenstufen.

«Da haben Sie aber Glück gehabt», sagte Sören und bückte sich, um die losen Blätter und Papiere aufzusammeln. Insgeheim wartete er auf eine Entschuldigung, schließlich hatte ihn der Mann über den Haufen gerannt. Aber es kam anders. Der Mann raffte ein paar Blätter, die direkt neben ihm auf dem Boden lagen, zusammen und stopfte sie in seine Mappe, und anstatt ein Wort des Bedauerns zu äußern, drehte er sich einfach um und eilte die Treppe im gleichen Tempo wie schon zuvor nach unten.

«Hallo! Sie …!» Sören blickte ihm verdutzt nach und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann sammelte er die restlichen Schriftstücke auf, faltete sie ordentlich und steckte sie ein. Er würde sie nachher an der Rezeption abgeben.

Der Flur der vierten Etage wurde nur durch eine schwächliche Gasfunzel an der Decke beleuchtet. Etwa zehn Räume mochten von hier abgehen. Die Zimmernummern standen in goldenen Ziffern an den Türen. Sören brauchte nicht lange zu suchen. Ottes Zimmer war das dritte auf der linken Seite. Und die Tür stand halb offen.

«Herr Otte?» Sören klopfte zweimal, aber niemand antwortete. «Herr Otte!» Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Zuerst die Verwechselung an der Rezeption, dann der Mann auf der Treppe, der von hier aus dem vierten Stock gekommen war und sich mehr als merkwürdig verhalten hatte. War es vielleicht Waldemar Otte selbst gewesen, mit dem er zusammengestoßen war?

Sören öffnete die Tür und betrat den Raum. Niemand war zu sehen. Das Zimmer wirkte aufgeräumt, das Bett war gemacht. Eigentlich gab es nichts Auffälliges, und dennoch spürte Sören, dass etwas nicht stimmte. Es mochte am Gehrock liegen, der ordentlich gefaltet über der Stuhllehne lag. An der Melone, die am Garderobenhaken auf der Rückseite der Tür hin und her baumelte, Nicht zu vergessen der Stock, der wie zufällig am Sekretär lehnte. Es war eher unwahrscheinlich, dass jemand ohne diese Utensilien das Hotel verließ. Im selben Augenblick, als Sören sich dessen bewusst wurde, bemerkte er den geöffneten Fensterflügel, der leise quietschend vom Wind auf und zu gedrückt wurde. Noch bevor er das Fenster erreicht hatte, hörte er von der Straße her einen hysterischen Schrei.

Ein kurzer Blick aus dem Fenster genügte Sören, um zu begreifen, was geschehen war. Zugleich durchfuhr es ihn, dass er selbst ziemlich in der Patsche saß. Zumindest dann, wenn der Mann, dessen verbogene menschliche Umrisse er eben auf dem Pflaster der Straße erblickt hatte, Waldemar Otte war. Für eine Schrecksekunde konnte Sören keinen klaren Gedanken fassen. Der Tote dort unten …, der Kerl auf der Treppe, der es auffallend eilig gehabt hatte … Keine Frage, er war soeben Zeuge eines Verbrechens geworden.

Das Herz schlug Sören bis zum Hals. Er verfluchte augenblicklich seinen Beschluss, hierherzukommen. Niemand würde ihm Glauben schenken. Dem Anwalt Dr. Sören Bischop vielleicht, aber nicht dem Vater von David, der aufgrund von Ottes Aussage in Untersuchungshaft saß. Und nun war dieser Zeuge vermutlich tot. Aus dem Fenster geworfen – von ihm, dem Besucher. Das zumindest würde der Empfangschef behaupten. Auch wenn es absurd war, denn wenn man jemanden töten wollte, dann stellte man sich wohl nicht mit seiner Visitenkarte an der Rezeption vor. Aber man würde ihn womöglich beschuldigen, den Gast im Streit aus dem Fenster gestoßen zu haben.

Das Geschrei von der Straße wurde lauter. Sören überlegte nicht lange. Er musste hier raus. Und zwar schnell. Als Sören die Treppe erreicht hatte, hörte er bereits aufgebrachte Stimmen von unten. Er vernahm, wie mehrere Leute mit eiligen Schritten die Treppe heraufliefen. Man durfte ihn nicht erwischen. Es widerstrebte ihm, aber in diesem Fall hatte er keine andere Wahl. Die kleine Tür in der Treppenhausnische, die das Zimmermädchen vorhin benutzt hatte, war unverschlossen.