Der Tunnel

Sören wartete noch eine Weile, blickte ungeduldig zur Uhr, aber als Martin nichts von sich hören ließ, beauftragte er schließlich Agnes, Martin auszurichten, wo er ihn finden könne, und machte sich alleine auf den Weg nach St. Pauli.

Es waren allesamt riesige Kerle, die Willi Schmidlein zusammengetrommelt hatte, jeder von ihnen mindestens einen Kopf größer als der schmächtige Rotschopf, der sie mit Sören bekannt machte. August, Edgar, Heinrich, Jupp, Leute von der Werft. Da es Freunde des roten Peters waren, waren sie bestimmt alle Sozialdemokraten, vermutete Sören. Es waren mehr als zehn. Einige hatten eine kurze Eisenstange oder einen Knüppel bei sich, Jupp schlug rhythmisch mit einem Totschläger in die eigene Hand. Sie sahen verwegen aus und blickten grimmig und wütend drein. Man hätte sie für Mitglieder einer gefürchteten Räuberbande halten können, und Sören zweifelte keinen Augenblick daran, dass so mancher von ihnen bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war. Für einen kurzen Moment war er unsicher, ob dies der richtige Weg war, dann schob er seine Zweifel beiseite.

«Wenn eine Genossin in Not ist, dann fackeln wir nicht lange», erklärte August, ein Bulle von einem Kerl. Die anderen pflichteten seinen Worten entschlossen bei.

Sören klärte sie darüber auf, was er vorhatte. Zwei Männer blieben zur Sicherheit im Hof, falls jemand versuchen sollte, durch die verbarrikadierte Tür des Hinterhauses zu fliehen, mit den anderen machte er sich in Richtung Grenzgang auf. Im Parterre des Hauses brannte Licht.

«Und wenn keiner öffnet?», fragte Jupp.

«Das lass dann mal meine Sorge sein», erklärte August und reckte die Schultern.

An der Haustür waren zwei Schellen angebracht, und Sören überlegte, welche davon zu betätigen war und ob es ein geheimes Klingelzeichen gab. Bestimmt musste es eins geben.

«Nimm beide», meinte Edgar schließlich – und dann im Befehlston: «Die anderen, ab hinter die nächste Ecke. Willi, leg dich auf den Boden. Gesicht nach unten.» Die Männer taten, was Edgar sagte. Anscheinend war er auch sonst ihr Anführer. Sören spürte, dass sie so etwas nicht das erste Mal machten. Dann klingelte Edgar Sturm.

Nach einer Weile öffnete sich ein Fensterflügel, und eine dumpfe Männerstimme war zu hören: «Sach ma, bist du bescheuert, Mann! Weissu, wie spät das is?»

«Hier liegt einer auf dem Boden», antwortete Edgar. «Der blutet. Ich brauch mal Hilfe.»

«Schon gut. Ich komm ja schon runter.» Der Fensterflügel wurde geschlossen, und im gleichen Augenblick schlichen August und ein weiterer, ebenso kräftiger Kerl aus ihrem Versteck und postierten sich zu beiden Seiten der Eingangstür. Als sie geöffnet wurde, ging alles ganz schnell und lautlos. Der Mann, der die Tür öffnete, war beileibe nicht klein, aber er hatte nicht mit dem gerechnet, was nun geschah. August presste ihm eine seiner mächtigen Pranken auf den Mund und riss seinen Kopf nach hinten. Mit der anderen Hand griff er gleichzeitig nach dem rechten Arm des Mannes und bog ihn zur Seite. Der Kerl taumelte, von beiden Seiten bedrängt, rückwärts zurück durch die Tür, die wieder ins Schloss fiel. Was dahinter geschah, konnte man nur erahnen. Kurz darauf wurde sie erneut geöffnet, und das Gesicht von August war zu erkennen. «So. Fertig. Luft ist rein. Und ’ne Kellertür gibt’s hier auch.» Er grinste.

Die hölzerne Kellerstiege knarrte unter den Schritten der Männer. Bis auf den Umstand, dass es hier elektrische Beleuchtung gab, war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Vor ihnen lag das typische Kellergewölbe eines Zinsmietshauses aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Die meisten der Männer mussten darin den Kopf einziehen. Sören brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Auf der Linken lag ein großer Haufen Koks, darüber war die Luke des Kohlenschachts zu sehen. Er ging an der großen Rutsche vorbei in östliche Richtung. Die Männer folgten ihm. Keiner sagte ein Wort. Schließlich gelangten sie in einen Kellerraum, an dessen Ende ein Bretterverschlag zu sehen war. Auch hier gab es elektrisches Licht. Hinter dem hölzernen Gatter stand nur ein voluminöser Schrank, dessen eine Tür offen stand. Man sah, dass er leer war.

«Raffiniert durchdacht», flüsterte Sören und öffnete den Verschlag. Als er vor sich auf den Boden blickte, wusste er, dass sie richtig waren. Es war eine hellbraune, schlammige Brühe, durch die man gehen musste. Wahrscheinlich verursacht durch Grundwasser oder einen unterirdischen Flusslauf, dessen Feuchtigkeit durch das Fundament oder die Mauern den Weg in das Gewölbe gefunden hatten. Sören dachte an die mit Schlamm verschmierten, feuchten Schuhe von Simon Levi, über die er sich gewundert hatte, weil die restlichen Kleidungsstücke des Toten völlig trocken gewesen waren. Nun wusste er, warum. Vielleicht wurde der schlammige Untergrund sogar absichtlich nass gehalten, damit sich keine Fußabdrücke abzeichneten. Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, und nach all den Indizien zweifelte er keinen Augenblick mehr daran, dann musste hier unten manchmal ein ziemlicher Verkehr herrschen.

Er brauchte nicht lange, um den Mechanismus zu finden, mit dem man die Rückwand des Schrankes öffnen konnte. Wie von Geisterhand bewegt klappte die Wand beiseite. Vor ihnen lag ein finsterer, knapp mannshoher Tunnel, an dessen Seiten ein paar Grubenlampen spärliches Licht spendeten. Alle paar Meter waren Stützhölzer eingeschlagen. Zwischen den Ständern und Schalbrettern tropften kleine Rinnsale von den Wänden. Auf dem Boden lagen zwei Reihen Bretter.

«Na, dann woll’n wir mal», sagte Sören im Flüsterton und ging voran. Das Ende des Tunnels konnte man nicht erkennen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass ihnen Fledermäuse entgegenflattern müssten, aber nichts dergleichen geschah. Es herrschte Totenstille. Vorsichtig tasteten sich die Männer vor. Der Tunnel machte eine leichte Kurve. Sören erinnerte sich, dass die Häuser an der Straße nicht in einer Flucht standen. Als sie die Biegung hinter sich hatten, konnte man Licht am Ende des Tunnels erkennen. Der ausgeschachtete Stollen musste eine Länge von knapp dreißig Metern haben.

Der unterirdische Gang mündete in einen hellen, frisch getünchten Kellerraum, von dem aus eine breite, geschwungene Treppe in die oberen Stockwerke führte. Entfernt konnte man Stimmen vernehmen. Sören presste den Zeigefinger an die Lippen und gab den anderen zu verstehen, ruhig zu bleiben. Behutsam stiegen sie nach oben. Mit jedem Schritt stieg die Gefahr, entdeckt zu werden. Die Stimmen wurden lauter, aber man konnte nicht heraushören, wie viele Männer es waren, geschweige denn, worüber sie sprachen.

Sören reckte den Hals. Soweit er erkennen konnte, glich der Raum über ihnen einer großen Halle. Die Wände waren getäfelt, und an der Decke hingen mehrere elektrisch betriebene Kristallleuchter. Ganz im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild war das Innere des Gebäudes mit vornehmer Staffage dekoriert. Keine Frage, sie betraten den gediegen eingerichteten Salon eines geheimen Etablissements. Dunkle Samtvorhänge verwehrten von innen den Blick auf die vernagelten Fenster. An der einen Seite des Raumes konnte Sören einen langen Tresen und eine Bar erkennen, davor standen zwei Billardtische.

Von den Männern war immer noch nichts zu sehen. Sören spekulierte, ob sie bewaffnet sein könnten, und tastete im gleichen Augenblick nach seinem Revolver. Er hatte noch nie auf einen Menschen geschossen, aber er war sich sicher: Wenn es sein musste, würde er es tun. Das Geländer des Treppenaufstiegs ging in eine hölzerne Balustrade über, die ihnen Schutz gewährte.

Endlich konnte er die Männer erkennen. Es waren nur drei, und sie saßen in einer Nische im hinteren Bereich des Raumes. Anscheinend spielten sie Karten. Mehrere kleine Paravents boten einen Sichtschutz, dennoch war die Entfernung zu groß, als dass sie die Männer von ihrem Standpunkt aus überraschend hätten überwältigen können. Sören gab den anderen ein Zeichen und zog seinen Revolver. Edgar hatte ebenfalls eine Schusswaffe dabei und tat es Sören gleich.

Die letzten drei Stufen sprang Sören mit einem Satz hinauf, dann richtete er seine Waffe auf die Männer und rief: «Ganz ruhig, Leute. Hände hoch! Nicht bewegen!»

Im gleichen Augenblick hasteten Schmidlein und Jupp zu den Kerlen, blieben allerdings wenige Meter vor ihnen stehen. «Auf den Boden mit euch! Wo ist die Frau?»

Die Männer zögerten einen Moment, dann kamen sie der Aufforderung nach. Jupp tastete die Kerle nach versteckten Waffen ab, schließlich schüttelte er den Kopf. «Die sind sauber!», rief er den anderen zu.

August griff sich einen der Männer und zog ihn am Ohrläppchen hoch. «Wie viele Männer sind hier noch im Haus?»

«Nur wir …» August machte eine drohende Geste mit der anderen Hand. «Ehrlich …»

Er stieß den Mann in einen der Sessel. «Schweinebande! Los! Raus mit der Sprache! Wo habt ihr die Frau versteckt?»

Die Männer warfen sich ängstliche Blicke zu. «Die Mädchen sind oben auf ihren Zimmern», antwortete schließlich einer von ihnen und zeigte auf einen Treppenaufgang, der mit roten Samtkordeln verziert war.

«Die Mädchen?», wiederholte Sören. Im gleichen Augenblick wurde ihm klar, was der Mann meinte. Sie waren in einem Bordell gelandet. Gemeinsam mit Heinrich, Edgar und drei weiteren Männern stürmte Sören die Treppe hinauf. Nach wenigen Metern befanden sie sich in einem Gewirr von Gängen und Türen. An den Wänden hingen Tüllbänder und Darstellungen von leicht bekleideten Frauen, nackte, orientalische Tänzerinnen, obszöne Bilder und ebensolche Stiche von Paaren in eindeutigen Stellungen.

«Es geht noch weiter nach oben», meinte Edgar. Hinter ihm erschienen Schmidlein und zwei weitere Männer.

«Tilda!», rief Sören verzweifelt in den Flur, der sich vor ihnen erstreckte. Hinter einer der Türen konnte Sören eine Frauenstimme vernehmen, aber sie gehörte nicht Tilda. Er rüttelte an der Tür, dann sah er, dass der Schlüssel von außen im Schloss steckte. Aus dem Nebenraum war ebenfalls eine Frauenstimme zu hören.

«Sie sind eingesperrt», sagte Edgar und schloss die Tür auf.

Die Frau blickte sie völlig verstört und ängstlich an. Ein Mädchen von höchstens fünfzehn Jahren.

«Was ist mit dir?», fragte Sören. Sie antwortete etwas in einer fremden Sprache, wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht.

«Um Himmels willen.» Sören sah plötzlich klar. «Sie werden hier gefangen gehalten und zur Prostitution gezwungen. Ich mag gar nicht daran denken, dass …» Er lief aus dem Zimmer in den Gang zurück. «Tilda!», schrie er immer lauter. «Tilda! Bist du hier irgendwo? So antworte doch, wenn du mich hören kannst!»

«Wir müssen die Polizei verständigen», sagte Schmidlein und schloss eine weitere Tür auf. In dem Zimmer saß eine junge Frau auf dem Bett, älter als das Mädchen im Zimmer gegenüber, vielleicht zwanzig. «Verstehst du mich?», fragte er sie.

Die Frau nickte stumm.

«Was macht ihr hier? Was ist mit euch geschehen?»

Sie zögerte und musterte Sören und Schmidlein. Erst als sie merkte, dass ihr keine Gefahr drohte, antwortete sie. «Man hat uns die Papiere abgenommen und gedroht, wir müssten uns die Rückfahrt erarbeiten …» Sie schluchzte. «Es bleibt uns doch nichts anderes übrig. Wenn wir nach Hause wollen, müssen wir …» Sie begann zu weinen.

«Wie viele seid ihr?», fragte Sören.

Die Frau zuckte die Achseln. «Ich weiß es nicht. Ich möchte nach Hause … Aber ich habe kein Zuhause mehr. Alle sind weg von dort. Nach Amerika. Nur ich durfte nicht einreisen. Sie haben gesagt, ich muss zurückfahren. Aber wohin soll ich?»

Sören schluckte. «Wir werden dich zu jemandem bringen, der sich um dich kümmert. Um dich und um die anderen Mädchen. Ihr müsst das hier nicht tun.»

Schmidlein blickte ihn fragend an. «Ich kann’s nicht glauben.»

«Ich auch nicht», entgegnete Sören. Eine ungeheure Wut stieg in ihm auf. «Das sind abgewiesene Auswanderinnen, die man hier einsperrt. Meine Güte, wer mag so etwas tun? Wer steckt nur dahinter?»

«Sie geben uns zu essen, sie behandeln uns gut.»

«Blödsinn!», entfuhr es Sören. «Ihr seid für den Rücktransport nichts schuldig. Man hat euch angelogen.»

Edgar kam ins Zimmer. Dem riesigen Kerl standen die Tränen in den Augen. «Ich habe so etwas noch nicht erlebt», stammelte er. «Ich weiß nur, wenn ich den Verantwortlichen für diese Schweinerei erwische, dann … dann kann ich für nichts garantieren. Wir haben bislang fünf Frauen gefunden. Vielleicht sind in den oberen Stockwerken noch mehr.» Er blickte Sören hilfesuchend an. «Was sollen wir denn jetzt bloß machen?»

Vom Flur her waren aufgebrachte Stimmen zu vernehmen. Nach kurzer Zeit herrschte ein völliges Durcheinander. Einige der Frauen schienen nicht zu begreifen, dass ihr Martyrium nun beendet war. Sie waren völlig eingeschüchtert und verstanden nicht, was die Männer ihnen zu erklären versuchten. Sie hatten Angst, dass ihnen jetzt noch größeres Unheil drohte.

«Das ist sie!», rief Schmidlein und zeigte auf eine Frau mit auffallend heller Hautfarbe, die neben den anderen Mädchen auf dem Korridor stand. «Die Frau, die dabei war … in besagter Nacht.»

Sören ging langsam auf die Frau zu. Im ersten Augenblick glaubte er, sie würde weinen, aber ihre rot unterlaufenen Augen waren nicht feucht, und ein Schluchzen war auch nicht zu hören. Es sah aus, als hätte sie Puder und kräftiges Wangenrouge um ihre Augenlider geschmiert. Sie musterte ihn skeptisch, machte aber keine Anstalten, zurückzuweichen.

«Sprichst du unsere Sprache?», fragte Sören leise. «Kannst du mich verstehen?»

Sie nickte. Bis auf ihre Augen, die offenbar von einer Krankheit entstellt waren, war die junge Frau bildschön.

«Woher kommst du?»

«Vom Schiff. Wie die anderen auch.» Ihre schneidende Stimme, die irgendwie heiser klang, passte nicht zu ihrer grazilen und sanften Erscheinung. «Man hat mir die Einreise verweigert», sagte sie und deutete auf ihre Augen. «Sie sagten, ich sei krank und dürfe nicht nach Amerika.»

«Trachoma.»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe es seit meiner Kindheit, aber man glaubte mir nicht. Ich wurde zurückgewiesen.»

«Und dann? Wie kamst du hierher?»

«Die Männer auf dem Schiff sagten mir, ich müsse für die Rückreise aufkommen. Aber ich hatte kein Geld. Man bot mir eine Stelle an … Ich wusste nicht, um was für eine Arbeit es sich handelte.»

«Warum bist du nicht fortgelaufen?»

Die Frau lächelte bitter. «Ich habe es einmal versucht.» Sie schlug den Saum ihres Rockes hoch und deutete auf zwei hässliche Narben. «Danach nicht wieder. Ich habe getan, was man von mir verlangte. Seit einem Jahr nun schon.»

«Du meine Güte.»

«Sie nehmen eine Reitgerte», erklärte sie. «So oft, bis man sich fügt.»

«Was ist hier in der Silvesternacht geschehen?», fragte Sören. «Jemand hat versucht, dich von hier wegzubringen.»

Sie schlug die Augen nieder und blickte auf den Boden. «Simon.»

«Ja, Simon Levi.»

«Wir sind im gleichen Dorf aufgewachsen», erklärte die Frau. «Als er mich hier erkannte … Er dachte ja, ich sei längst in Amerika … Ich habe ihm gesagt, man würde mich nicht ohne weiteres gehen lassen. Aber er hat mir nicht geglaubt, er hat versucht, mich über das hintere Treppenhaus aus dem Haus zu bringen. Aber man hat ihn gleich entdeckt. Was ist mit ihm geschehen?»

Sören schüttelte den Kopf. Das also war die Erklärung. Man hatte ihr Simon Levi als Freier aufs Zimmer geschickt, jemanden, der sie kannte und natürlich sofort ahnen musste, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Er hatte versucht, mit ihr zu fliehen, wahrscheinlich wollte er zur Polizei, und sie hatte aus Angst vor Repressalien und erneuten Schlägen versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, was von David und seinen Kumpanen falsch interpretiert worden war. Natürlich hatte sie geglaubt, dass die Männer in der Hofeinfahrt zu den Schurken hier im Haus gehörten … Dann war er wieder hierher zurückgekommen, um sie zu befreien, und sehr wahrscheinlich war er bei diesem erneuten Versuch seinen Mördern direkt in die Arme gelaufen. Auf einmal passte alles zusammen. In diesem Moment vernahm Sören hinter sich Schritte.

«Ich glaube, ich habe hier etwas für den Herrn Bischop.»

Sören drehte sich abrupt um und verspürte ein Gefühl, als hätte man ihm einen Dolch direkt ins Herz gestochen. Er versuchte, ein Wort herauszubringen, aber es verschnürte ihm die Kehle. Zugleich schossen ihm Freudentränen in die Augen. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen, und er war hin und her gerissen zwischen Verzweiflung und Freude. So schlimm das Schicksal der Frauen hier auch sein mochte, in diesem Augenblick ging es ihm nur um seine Situation. Tilda fiel ihm wortlos in die Arme. Er hielt sie umklammert und schloss die Augen. Keiner von ihnen sagte etwas.

Als die anderen längst in den Salon hinuntergegangen waren, um auf das Eintreffen der Polizei zu warten, standen sie immer noch eng umschlungen auf dem Flur und genossen den innigen Moment, tief berührt von dem Schmerz ihrer Trennung und dem Glück, sich wiederzuhaben.

«Was genau ist passiert?», flüsterte Sören schließlich. «Hat man dir etwas angetan?»

Tilda schüttelte den Kopf. «Ich kann mich nicht erinnern, was genau geschehen ist … Es klopfte an der Tür, und ich habe geöffnet. Da stand ein Mann mit einer Melone auf dem Treppenabsatz, blickte mich scharf an und fragte, ob ich die Gattin von Herrn Bischop sei. Ich bekam einen riesigen Schreck, weil der Mann so offiziell wirkte, und ich dachte, dir sei vielleicht etwas geschehen. Als ich seine Frage bejahte, drückte er mir mit Gewalt einen Wattebausch vor das Gesicht und drängte mich in den Windfang. An mehr kann ich mich nicht erinnern, er muss mich mit irgendetwas betäubt haben. Aufgewacht bin ich in dem Zimmer, aus dem mich August gerade befreit hat. Was ist denn hier überhaupt los? Wo sind wir, und was machen August, Edgar, Jupp und die anderen Genossen hier?»

Sören machte einen tiefen Atemzug. «Später, Tilda. Das erkläre ich dir alles später.» Er streichelte ihr zärtlich über die Wange und küsste sie auf die Stirn. «Ich bin so froh, dich unversehrt wiederzuhaben.»

«Woher wusstest du überhaupt, wo ich war?»

Sören lächelte sie an. «Es muss Eingebung gewesen sein.»

 

Die Geräusche, die von unten zu ihnen hinaufdrangen, signalisierten, dass die Polizei inzwischen eingetroffen sein musste. Arm in Arm gingen sie die Treppe in den großen Salon hinunter. Sören erkannte mehrere uniformierte Wachtmeister, zwei von ihnen hielten ein Gewehr im Anschlag, was ihm unangemessen erschien, schließlich waren die drei Männer längst überwältigt. Er registrierte zu langsam, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Erst als er den Mann erkannte, der mit gezogener Pistole vor den Uniformierten stand und in diesem Augenblick in seine Richtung blickte, erkannte er den Ernst der Lage. Es war der Kerl, der Waldemar Otte aus dem Hotelfenster geworfen hatte, der Kerl, der ihn verfolgt und sehr wahrscheinlich auch Tilda entführt hatte. Sören versuchte, an seinen Revolver zu gelangen. Im gleichen Augenblick begriff er, dass es zu spät war. Der Kerl richtete die Waffe auf ihn. Schmidlein und die anderen Männer standen mit erhobenen Händen an der Wand, und zwei weitere Polizisten waren dabei, die drei Schurken von ihren Fesseln und Knebeln zu befreien.

Der Mann blickte Sören gehässig grinsend an. «Sieh da, der Herr Doktor persönlich … Das hätte ich mir denken können, dass Sie hinter dem Ganzen stecken. Nun, dann müssen wir unseren Plan eben ändern. – Schafft die Frauen hier weg!», rief er den Uniformierten zu. Die drei Schurken hatten sich inzwischen zu ihm gestellt. «Wir kümmern uns um den Rest der Bagage. – Und Sie, Doktor Bischop … Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so unvernünftig sind …»

Sören hatte Tildas Hand ergriffen und wagte nicht, sich zu rühren. Niemand war mehr in dem Haus, auf dessen Hilfe er hätte hoffen können. Er überlegte verzweifelt, wie sie sich aus dieser Situation befreien konnten, kam aber zu keinem vernünftigen Ergebnis. Sie waren völlig auf sich allein gestellt. Die Männer, die die Polizei verständigt hatten, mussten in eine Falle getappt sein. So, wie es aussah, musste der Kerl einen ziemlich hohen Rang haben, denn er trug Zivil und hatte doch Befehlsgewalt über die Polizisten. Dazu passte auch sein selbstsicheres Auftreten.

«Mich würde durchaus interessieren, mit wem ich die Ehre habe. Wir hatten ja bereits mehrfach das Vergnügen …»

Der Mann lächelte Sören spöttisch an. «Hauptmann Beck, Politische Polizei.»

Sören versuchte, das Lächeln zu erwidern. «Also einer von Rosalowskys Leuten.»

«Und im Dienst Seiner Majestät des Kaisers, für besondere Aufgaben im Interesse des Reichs.»

«Sie Mörder!»

Hauptmann Beck lachte kurz auf. «Ich wüsste nicht, welche Beweise Sie für diese unverschämte Behauptung vorbringen könnten. Aber das ist auch nebensächlich – Sie glauben doch nicht, dass Sie noch Gelegenheit dazu haben werden …»

«Was haben Sie sich dabei gedacht?»

«Sie wissen, dass es um Höheres geht. Meine Auftraggeber …»

«Die wissen doch nichts von Ihren miesen Geschäften hier», fiel ihm Sören ins Wort.

«Das sind nicht meine Geschäfte. Ich habe den Betreibern nur ein wenig zur Seite gestanden. Eine gute Idee, finden Sie nicht?»

«Wer steckt dahinter?»

«Das möchten Sie wohl gerne wissen.»

«Also ein kleiner Nebenverdienst für Sie und Ihre kleinen Gauner bei der Polizei!»

Einer der Uniformierten fuchtelte nervös mit dem Gewehr in Sörens Richtung.

Sören ließ sich nicht beeindrucken. «Und die Razzia von Leutnant Völsch haben Ihre Leute auch vereitelt.»

«Ja, das ist gerade noch mal gut gegangen. Ich erfuhr nur zufällig davon – aber wirklich eingreifen mussten wir nicht. Man kann ja auch nichts finden, wenn man nicht weiß, wonach man sucht.»

«Sie Schwein. Wer steckt hinter diesem Geschäft?»

«Jetzt ist es genug!» Der Gesichtsausdruck von Hauptmann Beck veränderte sich schlagartig. Hass und Niedertracht verzerrten seine Züge. Beck hob seine Pistole und richtete den Lauf auf Sören.

Sören spürte, wie sich Tildas Griff um seine Hand verstärkte. Tue etwas, schien sie zu flehen.

«Sie dürfen Ihrer Gemahlin gerne noch etwas Nettes sagen, bevor wir die Sache zu Ende bringen.»

«Tun Sie ihr nichts.»

Beck lächelte hämisch. Dann machte er einen Schritt in seine Richtung, den Lauf der Pistole auf Sörens Stirn gerichtet. «Nun? Ich höre nichts.»

Sören hörte nur den Schuss. Er kam zu früh. Er hatte Tilda noch einmal anschauen wollen, aber nun war es zu spät. Das also war das Ende. Sören fühlte keinen Schmerz. Hatte er nicht getroffen? Nichts, nichts geschah. Gleich würde ein zweiter Schuss zu hören sein. Diesmal zielte Hauptmann Beck auf Sörens Herz. Immer noch kein Schuss. Nein, er schien die Waffe nicht richtig unter Kontrolle zu haben. Sein Arm senkte sich immer weiter. Sören schaute Beck in die Augen, die ihn verständnislos anstarrten. Dann konnte Sören erkennen, wie sich das ganze Gesicht des Mannes merkwürdig verzerrte. Seine Mundwinkel verkrampften sich. Er kam auf ihn zu, nein, Beck schien ihm entgegenzuschwanken, dann fiel sein Körper steif wie ein Brett vorne über und landete genau vor Sörens Füßen. Auf seinem Rücken klaffte eine blutende Wunde.

Sören schaute zu Tilda. Sie hatte die Augen geschlossen. Dann war eine laute Stimme zu hören: «Alle die Hände hoch! Alle! Waffen runter!» An der Treppe erschienen mehrere uniformierte Polizisten und stürmten in den Salon.

Sören legte Tilda schützend den Arm um die Schultern. Am Sockel der Treppe erkannte er Martin, der ihn erschrocken anblickte. Neben ihm erschien das Gesicht von Senator Sthamer, dahinter konnte er Polizeidirektor Roscher erkennen.

«Verhaften!», schrie ein Polizeileutnant. «Alle verhaften!»

Roscher starrte auf die uniformierten Wachtmeister, die ihre Gewehre fallen gelassen hatten. «Was ist hier los?»

«Du kommst spät», meinte Sören zu Martin gewandt.

«Ich weiß», entgegnete Martin. «Aber nun bin ich ja da.»