Der lang anhaltende, tiefe Ton aus dem Signalhorn sollte wohl ankündigen, dass es nun bald losging. Es gab bestimmt ein festgelegtes Reglement für die Nutzung der Nebelhörner, hier im Hafen war es bedeutungslos. Niemand störte sich an der Willkür. Ganz im Gegenteil. Der Klang der Nebelhörner gehörte zu den großen Schiffen wie das schnaufende Stampfen der Lokomotiven zur Eisenbahn. Es klang aufregend. Tatsächlich kam für einen Augenblick Bewegung in die Menge. Die ersten Taschentücher wurden gezückt, und man winkte vom Deck des Schiffes zurück, obwohl noch immer Menschen die Gangways benutzten, um auf ihr Schiff zu kommen. Auf, auf zu großer Fahrt, signalisierte das Tuten, und der mächtige Ton symbolisierte zugleich Sicherheit. Besonders wichtig war das für diejenigen Passagiere, die zum ersten Mal einen Dampfer bestiegen hatten, denn die scheinbare Größe der Stahlkolosse hier an der Pier relativierte sich schnell, wenn am Horizont das Land verschwand und das Schiff nur noch von den riesigen Wellen des Atlantiks umgeben war. Der größte Teil der Passagiere an Bord der Pennsylvania hatte zuvor noch nie ein Schiff gesehen, geschweige denn betreten. Bestimmt mehr als drei Viertel dieser Menschen hatten keinen Rückfahrschein gelöst – und es war eher unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder eine solche Fahrt auf sich nehmen würden.
Es war einer von den großen, behäbigen P-Dampfern der Hapag, der hier an den St. Pauli Landungsbrücken lag und auf seine Verabschiedung in Richtung Amerika wartete. Die Pier durfte nur betreten, wer einen Fahrschein erster oder zweiter Klasse vorweisen konnte. Vornehm gekleidete Herrschaften, hinter denen mehrere Gepäckwagen mit riesigen Seekoffern und Kisten standen, wurden von den Beamten der Reederei kontrolliert. Pagen und Kofferträger verfrachteten anschließend die Gepäckstücke über eine eigene Gangway in den Bauch des Schiffes. An der Reling drängten sich Hunderte von Menschen. Die meisten davon Auswanderer, Zwischendecker und Passagiere der dritten Klasse, die von dem gebotenen Luxus an Bord während der Fahrt nichts sehen würden. Den größten Teil der Reise würden sie in einem streng abgeschotteten Bereich, dem Zwischendeck, zubringen, einem Massenquartier mit einfachster Kost und nur so viel Raum wie unbedingt nötig. Es ging besser und hygienischer zu als auf den Auswandererseglern vor etwa fünfzig Jahren, aber immer noch herrschte bedrückende Enge.
Die Auswanderer mussten seeseitig zusteigen. Sie wurden mit eigens dafür gebauten Tendern, größeren Hafenbarkassen mit Schaufelrädern, von der neuen Auswandererstadt auf der Veddel zu den Schiffen der Hapag gebracht. Sören musste an Simon Levi denken. Auch er hatte auswandern wollen – auf einem Schiff der Hapag –, in Richtung Amerika, einer ungewissen Zukunft entgegen. Ein Mann in den besten Jahren, der in der Silvesternacht ein wenig Vergnügen gesucht hatte. Auf St. Pauli natürlich, wo sonst. Und er hatte es geschafft, die Auswandererstadt zu verlassen. Der Ruf der Reeperbahn eilte dem Quartier weltweit voraus. Aber dort, wo Amüsement und Kurzweil geboten wurden, tummelten sich auch Ganoven und Betrüger, halbseidene Gestalten genauso wie mörderisches Gesindel. Hier lauerten Fallgruben für unerfahrene junge Männer aus der Provinz. War der naive Simon Levi dort an ein leichtes Mädchen geraten, das ihn hatte ausnehmen wollen? Welche Rolle sonst konnte diese Frau spielen?
Sören hoffte, der Ort des Verbrechens könnte einen Hinweis darauf geben. Er schlug den Kragen hoch und blickte auf die Turmuhr des Michels. In einer halben Stunde hatte er sich mit Willi Schmidlein auf dem Spielbudenplatz verabredet. Einen kurzen Augenblick überlegte Sören, ob Schmidlein überhaupt kommen würde, aber dann verwarf er seine Zweifel. So, wie er den Mann inzwischen kannte, brauchte er nichts zu befürchten. Ganz im Gegenteil. Für Willi Schmidlein schien es mittlerweile eine Ehrensache zu sein – sonst hätte er sich nicht so bereitwillig auf die gestrige Verfolgungsjagd eingelassen.
Sören schwenkte nach links und stieg den Elbhang in Richtung Seewartenstraße hinauf. Noch einmal war das Tuten des Nebelhorns zu vernehmen, und Sören drehte sich unvermittelt um. Er wollte kontrollieren, ob ihm jemand folgte.
Auch wenn nichts Verdächtiges zu sehen war, fühlte sich Sören nach wie vor beobachtet. Gegenüber der Elbwarte ließ er sich für einen Moment auf einer Bank nieder und schaute in die Gesichter der Passanten, die an ihm vorbeigingen. In der Mehrzahl waren es Pärchen oder Familien auf ihrem sonntäglichen Spaziergang, auf dem Weg hinunter zum Elbufer oder bergauf in Richtung Heiligengeistfeld. Die Kinder waren dick eingepackt und balancierten auf den Abgrenzungen zu den Grünanlagen jenseits der Wege. Kaum jemand beachtete ihn. Schon nach wenigen Minuten begann Sören zu frösteln. Es war weniger die Temperatur als vielmehr der feuchtkalte Wind, der durch die Kleider kroch. Niemand nahm Notiz davon, als er sich plötzlich erhob und nach wenigen Metern abrupt in die entgegengesetzte Richtung wechselte. Vielleicht beobachtete man ihn auch aus größerer Entfernung.
Während er sich dem Millerntor näherte, kreisten seine Gedanken erneut um die Themen des gestrigen Abends, den Flottenverein und die Rüstungspolitik des Reichs. Wie schon häufig waren Martins und seine Meinung zu den gegenwärtigen politischen Geschehnissen alles andere als übereinstimmend gewesen, was wie immer auch daran lag, dass Martins analytischer Sachverstand und sein eigener emotionaler und beruflicher Horizont von gegensätzlicher Natur waren. Seine eigenen Ansichten waren geprägt durch die alltägliche Not der Menschen, mit denen er als Anwalt praktisch täglich konfrontiert war. Dazu kam, dass er zu fast allen Themen durch Tilda stets auch parteipolitische und gewerkschaftliche Aspekte erfuhr. Für Martin waren diese alltäglichen Dinge graue Theorie, die er nur im Vorbeigehen streifte oder vom Hörensagen kannte. Dennoch war die Information darüber für Martins analytisches Denken unverzichtbar, denn auch wenn er aus einer sicheren, weil sorglosen Distanz versuchte, komplexe Zusammenhänge zu durchschauen, so war er beileibe kein Schöngeist. Sicher, sein Leben war geprägt von Abwägung und Diplomatie, aber bevor er urteilte, wollte er alle Details zur Sache kennen, und riskierte dabei stets auch einen Blick über die Schulter Andersdenkender. Dafür war Sören ihm stets eine erste Adresse gewesen.
Einig waren sie sich über die annähernd perfekte Agitation von Tirpitz und seinem Reichsmarineamt, wenn es darum ging, Massen zu mobilisieren und für die Sache zu gewinnen. Das Nachrichtenbureau und der Flottenverein arbeiteten dazu Hand in Hand, und Sören musste sich eingestehen, dass er sich gedanklich auch schon mehrmals hatte verführen lassen. Wahrscheinlich, weil Tirpitz’ Argumente für eine starke und schlagkräftige Flotte nicht so weit hergeholt waren, wollte er England wirklich ein Gleichgewicht gegenüberstellen. Was sich der Inselstaat in den letzten Jahren an Provokationen geleistet hatte, rief förmlich nach einer Schutzflotte, die den Demütigungen in den überseeischen Kolonien ein Ende setzte. Waren es doch immer Konfliktherde, die auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhten. Etwa wenn Handelsschiffe deutscher Reedereien durch britische Kreuzer aufgebracht und mit fragwürdigen und scheinheiligen Gründen an die Kette gelegt wurden, bis Ladung und Waren verdorben waren. Solche Provokationen waren den Zeitungsberichten nach fast an der Tagesordnung und schürten natürlich das Verlangen nach einer militärischen Präsenz vor Ort, nach einer Flotte. Gleichzeitig geriet das allgemeine Bild Englands in Schieflage. Das lag vor allem an dem Burenkrieg, den man in Afrika führte. Auch hier standen wirtschaftliche Aspekte und Handelsinteressen im Vordergrund. Zwar hielt sich das Reich in diplomatisch geschickter Neutralität, aber den Engländern konnte nicht entgangen sein, dass sich die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung mehr mit den Buren als mit den Interessen der britischen Krone identifizierte. Die wiederkehrenden Berichte über die Konzentrationslager, welche die Engländer in Südafrika eingerichtet hatten und in denen angeblich menschenunwürdige Bedingungen herrschten, heizten die antienglische Stimmung im Reich zusätzlich auf. War es da ein Wunder, dass die Massen von Tirpitz’ Ideen begeistert waren?
Ein zusätzlicher Aspekt waren die Chancen, die sich durch die enorme Flottenrüstung plötzlich für eine breite Bevölkerungsschicht auftaten. Die riesigen Schiffe mussten ja nicht nur gebaut und gewartet, sondern auch mit einer Besatzung ausgestattet werden. Ganz im Gegensatz zum Heer, das vorwiegend aus vielen einfachen Infanteristen bestand, benötigte man auf den Schiffen eine ausgebildete Mannschaft mit sehr speziellen Fähigkeiten. Vor allem die Offizierslaufbahn, die im Heer traditionell dem Adel vorbehalten war, wurde nun als bürgerliche Aufstiegschance gesehen. Was dem Reich und den Kaufleuten der Platz an der Sonne war, das war dem Volk der Platz in der Marine.
Ja, es war raffiniert eingefädelt worden. Wie eine Maschine, die man nicht mehr anhalten konnte. Denn die Begeisterung machte auch blind. Sören dachte erneut an den Matrosenanzug, den er für Ilka gekauft hatte. Die Vereinnahmung geschah, ohne dass man sich dessen wirklich bewusst war. Brauchten wir diese riesige Seemacht wirklich? War England wirklich ein Gegner oder doch viel eher ein Nachbar und ein Handelspartner? England war ein Inselstaat. Schon allein daher benötigte man dort viele Schiffe. War die Seemacht Englands nicht in Wirklichkeit eine natürliche Folge der zig Kolonien, die man seit langem hatte? War es schlau, dieser Vormachtstellung mit einer Kriegsflotte entgegenzutreten? Diese Fragen hatte Martin zum Schluss in den Raum gestellt. Einig waren sie sich, dass es gefährlich war, was von Tirpitz tat. Denn er schien nicht nur die Rückendeckung des Kaisers zu haben, sondern inzwischen auch die alleinige Verfügungsgewalt zu besitzen.
Willi Schmidlein war auch heute nicht zu übersehen. Von der Statur her war er eher klein, aber seine Haare leuchteten Sören schon von weitem entgegen. Er stand am Zeitungsaushang neben dem Köllisch Universum und studierte die Sonntagspresse. Sören tippte ihm vorsichtig von hinten auf die Schulter, und erschrocken drehte sich Schmidlein um. Als er Sören erkannte, löste sich seine Anspannung.
«Hat dich meine Nachricht erreicht?», fragte er, nachdem sie sich die Hand geschüttelt hatten. «Konntest du mit der Adresse etwas anfangen?»
«Ist er durch den Torbogen und die Einfahrt hineingegangen, oder hat er die Tür genommen?»
«Die Einfahrt», sagte Schmidlein. «Ich hab noch eine Weile gewartet, ob er sich nur vergewissern will, dass ihm niemand folgt, aber er ist nicht wieder rausgekommen.»
Sören wiegte unschlüssig den Kopf. «Die Hamburger Polizeizentrale», sagte er schließlich. «Unser Stadthaus.»
Willi Schmidlein blickte ihn erschrocken an, aber Sören machte eine beschwichtigende Geste. «Keine Angst», fügte er in beruhigendem Tonfall hinzu, dennoch hatte er seine Stimme gesenkt. «Das hat nichts mit dir zu tun.» Ganz sicher war er sich nicht, aber wenigstens war Schmidlein dem Kerl nicht aufgefallen. Anderenfalls hätte er ihn nicht zum Stadthaus geführt. Und da Willi Schmidleins Haarfarbe ein Erkennungszeichen allererster Güte war, konnte er davon ausgehen, dass er ihn nicht kannte. «Hast du Hunger?» Bei Tageslicht war zu erkennen, dass Schmidleins Gesicht über und über mit Sommersprossen bedeckt war, wie es bei vielen Rotschöpfen der Fall war. Seine Augen weiteten sich. «Dann spendier ich uns mal ’ne Runde warmen Apfelkuchen», sagte Sören und steuerte auf den nächsten Stand zu, an dem sich schon eine Schlange gebildet hatte.
Das Publikum auf dem Spielbudenplatz und der Reeperbahn unterschied sich am Tage grundlegend von den Gestalten, die hier in der scheinbaren Intimität der Dunkelheit ihr Vergnügen suchten. Sonntags war der Unterschied noch offensichtlicher. Es mochte daran liegen, dass viele Betriebe und Institutionen geschlossen hatten. Nur vereinzelt begegnete man angetrunkenen Seeleuten und all denjenigen, die erst jetzt aus den Spelunken und Varietés, Pinten und Etablissements ans Tageslicht kamen. Mehrheitlich war es das Heer der Neugierigen, welches die Straßen bevölkerte. Zur Flaniermeile wurde die Reeperbahn damit auch sonntags noch lange nicht. Der Blick in die Seitengassen war ernüchternd. Hier offenbarte sich dem Betrachter nun die schamlos zur Schau gestellte Trostlosigkeit eines Quartiers, dessen einziger Zweck das nächtliche Schauspiel war. Das Schauspiel von unbekümmerter Ausgelassenheit und scheinbarer Freiheit war der Arbeitsplatz all derer, die durch Elend und Misere, Leid und Verzweiflung den hoffnungslosen, verlogenen Weg eingeschlagen hatten. Der Müll dieses nächtlichen Betriebs stapelte sich jetzt an verschmutzten und beschmierten Hauswänden, deren Putz sich an vielen Stellen bereits gelöst hatte. Sören wandte den Blick von einer Frau, die ihre Röcke gehoben hatte und ohne Hemmung in den Rinnstein urinierte. Im Hauseingang daneben saßen zwei verwahrloste Kinder und machten sich mit derben Sprüchen über die Frau lustig. Der Gestank in den Gassen war entsetzlich. Über den Ausdünstungen von Unrat und Müll zogen immer wieder Schwaden übelster Gerüche, die aus den Schloten der fischverarbeitenden Werke, der Räuchereien und Fischmehlfabriken am Elbhang von St. Pauli und Altona hier herüberzogen. Auch am Sonntag.
«Was bist du so am Wetter interessiert?», fragte Sören. Nachdem sie ihren Apfelkuchen verspeist hatten, war Schmidlein erneut zu einem Zeitungsaushang gegangen und studierte die Wettervorhersage. Für morgen waren trockene sechs bis zehn Grad angekündigt. Zudem gab es eine Sturmwarnung für die Nord- und obere Ostsee.
«Meine jetzige Unterkunft ist nicht beheizt», entgegnete Schmidlein. «Ein Abrisshaus westlich des Neustädter Neuen Wegs. Daher nehme ich dein Angebot wirklich gerne an. Was hat es mit der alten Dame auf sich, von der du sprachst?»
«Lisbeth war die Gesellschafterin meiner verstorbenen Mutter. Mach dir keine Sorgen, das Haus ist groß genug. Und sie ist froh, wenn noch jemand im Haus ist. Zumindest nachts. Ich habe sie darauf vorbereitet, dass du für eine Zeit dort wohnen wirst. Erst nur du und später auch David.» Sie passierten das ehemalige Varieté-Theater, das vor einigen Jahren in Drucker-Theater umbenannt worden war, und dann die Davidwache. Sören musste an den merkwürdigen Zufall der Namensgleichheit denken, der seinem Ziehsohn zum Schicksal geworden war. Hier musste Waldemar Otte das von ihm beobachtete Geschehen angezeigt haben. «Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?»
«In Hannover an der Technischen Hochschule. Wir haben aber nicht im gleichen Fachbereich studiert. David war ja bei den Bauingenieuren, und ich habe Allgemeinen Maschinenbau und Schiffbau studiert. Aber es gab natürlich studentische Gruppierungen, die durch die Partei organisiert waren.»
«Und auf einer solchen Veranstaltung seid ihr euch begegnet?»
Schmidlein nickte. Sie wichen einer Gruppe Matrosen aus, die ihnen mit geschulterten Seesäcken und laut singend entgegenkamen. «Jetzt, wo ich weiß, dass keine Gefahr droht, kann ich ja auch die Stelle in der Werft antreten. Ich werde mich gleich morgen bei Blohm + Voss melden.» Er lächelte. «Aber diesmal nicht bei den Nietenkloppern, sondern im Entwurfsbüro der Abteilung für Wissenschaftliches Versuchswesen, wo man mir eine Stelle als Ingenieur angeboten hat. Ich kann nur hoffen, dass man mir die zwei Tage nachsieht. Unpünktlichkeit ist kein gutes Zeugnis für den Beginn eines Arbeitsverhältnisses. Aber bei den vielen Neueinstellungen, wie sie die Werft derzeit vornimmt, braucht man wahrscheinlich jede verfügbare Kraft. Von daher bin ich guter Dinge. Die Werften bekommen immer mehr Aufträge. Neubauten, Reparaturen, allein für den Dockbetrieb werden derzeit mehr als zwanzig Fachkräfte gesucht. Und dazu noch die ganzen Kriegsschiffe …»
«Ist diese unglaubliche Flottenrüstung für dich als Sozialdemokrat überhaupt mit deinem Beruf vereinbar?»
«Die Abteilungen sind streng getrennt», sagte Schmidlein flüchtig. «Mit Kriegsschiffen habe ich kaum etwas zu tun. Der Bau Seiner Majestät Schiffe wird auf den nicht kaiserlichen Werften durch Marinebaumeister beaufsichtigt.»
«Aber du kennst dich dennoch aus?»
«Ein wenig», entgegnete Schmidlein, und seine Augen blitzten neugierig.
«Was sagen dir 160 Meter Länge und 50 000 PS?»
«Für einen Passagierdampfer nicht lang genug und für einen Schlachtkreuzer zu viel Leistung. Die letzten Schiffe für Lloyd und Hapag hatten alle eine Länge von über 200 Metern und Expansionsmaschinen, die auf etwa 30 000 PS kommen. Diese Leistung ist nötig, um die Kolosse auf eine Geschwindigkeit von über 22 Knoten zu kriegen. Die großen Schlachtkreuzer, etwa der gerade bei Blohm + Voss fertiggestellte Kaiser Karl der Große, haben eine Länge von 120 bis 130 Metern. Von Kriegsschiffen mit mehr als 15 000 PS habe ich allerdings noch nie etwas gehört.»
Man merkte sofort, dass Willi Schmidlein in seinem Metier war. Es sprudelte förmlich aus ihm heraus. Auch wenn er nichts mit dem Bau von Schiffen der Marine zu tun hatte, die Details, von denen er wusste, zeigten, dass er sich bestens auskannte. Sören spitzte die Ohren. «Allerdings ist man gerade dabei, zu überlegen, die Panzerarmierung der Schiffe noch weiter zu erhöhen. Bislang wurden 25 Zentimeter nicht überschritten. Aber die Krupp’schen Stahlplatten mit bis zu 30 Zentimeter Stärke liegen schon bereit. Ebenso die Geschütze. Der Kaiser Karl der Große hat gerade vier der neuesten L 40 9,5" bekommen – und man munkelt, dass der Schlachtkreuzer in absehbarer Zeit mit Rohren von 28 Zentimeter Durchmesser aufgerüstet werden soll.»
«Die liefert auch Krupp?»
Schmiedlein lachte. «So etwas kann niemand sonst herstellen. Zumindest nicht in Deutschland. Die Produktion der Geschützrohre soll angeblich im Sommer abgeschlossen sein.»
«Und so geht das dann immer weiter.»
«Ja. Dickere Armierung, die den größeren Geschossen standhalten soll, dann noch größere Geschütztürme, die wiederum eine noch stärkere Panzerung nach sich zieht und so weiter und so weiter. Es kann schon sein, dass dann irgendwann tatsächlich 50 000 PS notwendig sind, um die Stahlkolosse überhaupt mit einer akzeptablen Geschwindigkeit zu bewegen.»
«Ein interessanter Gedanke», murmelte Sören mehr zu sich selbst. «Was weißt du über die Schichau-Werft in Danzig?»
«Nicht sehr viel. Ich habe mich zuerst hier bei Blohm + Voss beworben und sofort eine Zusage bekommen. Für die Kriegsmarine werden in Danzig hauptsächlich kleinere Schiffe gebaut. Ich glaube, es mangelt an der Anzahl entsprechender Helgen, die für den Bau von Schlachtschiffen notwendig sind. Dafür schenkt man dem Bau von Passagier- und Frachtdampfern dort wohl umso größere Aufmerksamkeit. Schichau scheint nur einen großen Helgen für Aufträge der Marine zu nutzen. Letztes Jahr wurde der Kaiser Barbarossa fertiggestellt, und zurzeit ist wohl die Wettin im Bau. Der Stapellauf war jedenfalls im Juni letzten Jahres. Die Wettin gehört zur Wittelsbach-Klasse: 680 Mann Besatzung und 11 800 Tonnen Wasserverdrängung.» Willi Schmidlein schien alle Daten parat zu haben. «Und kaum ist der große Helgen frei, wird dort wieder ein Linienschiff auf Kiel gelegt. Natürlich noch eine Nummer größer. Die SMS Lothringen gehört zur Braunschweig-Klasse. Genaue technische Spezifikationen der Klasse habe ich aber noch nicht.»
«Das ist doch schon eine ganze Menge.» Sie kreuzten die Reeperbahn am Ende der Baumreihen und bogen in die Thalstraße ein. «Versuch dich zu erinnern», bat Sören ihn und deutete auf die Häuser. «Wenn dir irgendetwas bekannt vorkommt, sag Bescheid.»
Es war tatsächlich der Hof, in dem man den toten Simon Levi gefunden hatte. Schmidlein erinnerte sich zweifelsfrei an den Tordurchgang an der Thalstraße. Vom Hof aus konnte man sehen, dass es eine weitere Durchfahrt gab, die über Eck auf die Schmuckstraße mündete. Breite Steinpoller flankierten die Durchfahrt. «Ja, hier war es», meinte Willi Schmidlein. «Ich bin mir ganz sicher, aber das zweite Tor haben wir nicht wahrgenommen.»
«Könnten Levi und die Frau von dort gekommen sein?», fragte Sören. «Wo habt ihr gestanden?»
Schmidlein stellte sich in den Torbogen. «Etwa hier. Nein, die beiden sind eher aus der anderen Richtung gekommen. Und in die Richtung sind sie auch wieder verschwunden. Nicht in Richtung Durchfahrt.»
Sören ging zurück in den Hof und betrachtete ihn genauer. Auf der linken Seite stand das Gebäude eines alten Handwerksbetriebs, einer Fassmacherei. So stand es auf dem großen Schild neben der Winde über dem Eingang. Der Betrieb musste eine benachbarte Einfahrt nutzen, auf dieser Seite versperrte eine mannshohe Mauer den Zugang. Vor der Mauer stand ein alter Leiterwagen, aber selbst mit dessen Hilfe schien Sören das Überwinden der Mauer für eine Frau unmöglich. Auf der anderen Seite zur Schmuckstraße hin wurde der Hof vor der Durchfahrt von einer maroden Budenreihe begrenzt, die allem Anschein nach unbewohnt war. Sie machte einen erbärmlichen Eindruck. Das Mauerwerk des Gebäudes hatte tiefe Risse und war an mehreren Stellen, genauso wie Teile des Dachstuhls, bereits eingebrochen. Er untersuchte trotzdem, ob man ungehindert ins Innere gelangen konnte, schließlich war es denkbar, dass Levi und die unbekannte Frau sich dort vergnügt hatten. Nachdem Sören die morsche Eingangstür aufgestoßen und einen Blick ins Haus riskiert hatte, konnte er diese Möglichkeit jedoch ausschließen. Gleich die erste Bodendiele hinter der Schwelle hielt der Belastung nicht stand, und Sören brach knöcheltief ein. Eine Horde von Ratten flüchtete quiekend aus ihrem bis dahin sicheren Versteck. Sören schüttelte sich angewidert. Wenigstens hatte ihn keines der Viecher gebissen. Er ging zurück zu Schmidlein, der im Torbogen stand und sich eine schmale Zigarre angezündet hatte.
«Es war zwar ziemlich finster im Hof, aber ich bin mir dennoch sicher, dass die Frau nicht nach rechts gelaufen ist, sondern geradeaus in die Dunkelheit.» Schmidlein zeigte auf das Gebäude am anderen Ende des Hofes, das sich von der Schmuckstraße her tief in den Hof schob. An der Mauer lagerte jede Menge Unrat, aber wie es aussah, gab es dort keine Tür. Der Hof endete nach etwa zwanzig Metern in einer Mauernische. Sören blickte an der Fassade des Gebäudes empor. Das Haus hatte vier Etagen und wirkte genau wie die Budenreihe unbewohnt. Einige Fensterscheiben waren eingeschlagen und die meisten mit Brettern vernagelt. Auffällig war, dass das Haus zur Hofseite im Erdgeschoss keine Fenster hatte. So, als wenn es dort ehemals einen Anbau gegeben hatte, der inzwischen abgetragen worden war.
«Zeig mir genau die Stelle, wo ihr euch mit Simon Levi geschlagen habt und wo er zu Boden gegangen ist.»
Schmidlein machte einen Schritt zur Seite. «Das war hier.»
Sören ging auf die Stelle zu, hockte sich auf den Boden und drehte sich langsam in alle Richtungen um. Die Budenreihe und der Durchgang zur Schmuckstraße waren von hier aus nicht zu sehen. Auch das Werkstattgebäude im Hof lag außerhalb seines Blickwinkels. Blieben allein der Torbogen zur Thalstraße sowie die hofseitigen Fenster der mittleren zwei Geschosse des Hauses an der Schmuckstraße. Von wo aus konnte Waldemar Otte das Geschehen beobachtet haben? Und wohin waren Levi und die Frau verschwunden? Sören erhob sich und ging zum gegenüberliegenden Haus. Eine kleine Katze lugte aus dem Berg voller Unrat hervor, der an der Mauer aufgestapelt lag. Nach einem Moment des Zögerns kam sie hervor und streifte mit krummem Buckel und aufrecht in die Höhe gestelltem Schwanz zutraulich an Sörens Beinen entlang. Dann stolzierte sie in Richtung Willi Schmidlein und rieb sich auch an dessen Hose. Sören winkte ihn zu sich heran. «Pack mal mit an.»
Er selbst zerrte einige Bretter und eine durchweichte Matratze vom Stapel. Nachdem sie eine breite Holzplatte beiseitegezogen hatten, konnte man Treppenstufen erkennen. «Lag der Krempel in der Silvesternacht schon hier herum?», fragte Sören und arbeitete sich weiter vor, bis tatsächlich eine Tür zum Vorschein kam.
«Keine Ahnung.» Schmidlein zuckte die Schultern.
Sören rüttelte an der Tür. «Abgeschlossen. Als ich dich das erste Mal nach den Geschehnissen fragte, erwähntest du das Schlagen einer Tür. Das ist die einzige Tür, die in Frage kommt. Die Bruchbude auf der anderen Seite kannst du vergessen.» Sören machte ein nachdenkliches Gesicht. «Und irgendjemand hat das Gerümpel hier deponiert, damit man die Tür nicht sieht.» Er inspizierte das Schloss und zog schließlich einen Zahnstocher aus der Brusttasche seiner Weste. «Von innen verriegelt», erklärte er ärgerlich, nachdem er den Zahnstocher durch den Türspalt gezogen hatte. «Also versuchen wir’s von der anderen Seite.»
Im Tordurchgang zur Schmuckstraße stank es erbärmlich nach Hundepisse. Ganz allgemein machte die Gegend hier keinen besonders beschaulichen Eindruck, was vor allem an den verfallenen Häusern lag. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schmuckstraße standen ebenfalls zwei ruinenhafte Budenreihen. Eins der beiden Häuser wirkte, als wäre es in der Mitte durchgebrochen. Bei genauerer Betrachtung konnte man erkennen, dass sich der Erdboden an besagter Stelle abgesenkt hatte. Der Firstbalken des Satteldaches war gebrochen, und es sah aus, als wäre die eine Hälfte des Hauses zur Seite gekippt. Dieser Zustand schien schon länger zu bestehen, denn über und durch das Dach krochen bereits mehrere Efeuranken. Was hatten Otte wie auch Simon Levi bloß in dieser Gegend zu suchen gehabt?
Von der Straße aus blickte Sören auf die Fassade der katholischen St.-Josephs-Kirche an der Westseite der Großen Freiheit, auf welche die Schmuckstraße mündete. Ganz im Gegensatz zum Rest der Gegend bot sie einen malerischen, fast unwirklichen Anblick. Der Schein der untergehenden Sonne brach sich im Kreuz der Kirche und schien der geschwungenen Fassade strahlende Flügel verleihen zu wollen. Für einen Augenblick verharrte Sören und betrachtete das Schauspiel, dann ging sein Blick zurück auf den Straßenzug. Sie befanden sich direkt an der Grenze zu Altona. Unweit vor ihnen kreuzte der alte Grenzgang die Schmuckstraße, ein schmaler Pfad, der an einigen Stellen mit hölzernen Palisaden versehen war. Bevor der Straßenzug angelegt worden war, hatte es nur fünf Übergänge gegeben, durch die man von St. Pauli ins benachbarte Altona gelangen konnte. Neben dem Nobistor an der Reeperbahn die hafennahen Posten am Pinnastor, am Schlachterbudentor und am Trommeltor sowie an dem weiter nördlich gelegenen Hummeltor. Der Grenzweg war ein Relikt aus alten Zeiten. Patrouilliert wurde hier so gut wie nicht mehr, denn seit Altona und Hamburg beide dem Reichszoll unterlagen, machte Schmuggel keinen Sinn mehr.
Sören betrachtete das Haus neben dem Torweg, und sein Blick tastete sich die Fassade empor. Genau wie zur Hofseite wirkte es unbewohnt. Die wenigen Glasscheiben, welche die Steinwürfe Jugendlicher überlebt hatten, waren von einer dicken Staubschicht überzogen. Dahinter waren die Fenster auch auf dieser Seite mit Brettern vernagelt. Ein Blick auf den Eingang bestätigte Sörens Vermutung, dass das Haus leer stand. Hier war lange niemand mehr ein und aus gegangen. Die Tür war vernagelt, und die Spinnweben am Rahmen bezeugten, dass sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr geöffnet worden war. Sören machte einen tiefen Atemzug. Wahrscheinlich war das Haus sogar einsturzgefährdet.
Ein kurzer Blick hinter das Haus begrub die stille Hoffnung, dass es vielleicht noch einen weiteren Eingang geben könnte. Direkt an der Brandmauer verlief der alte Grenzweg. Hier gab es weder Fenster noch Türen. Sören ging zurück auf die Straße und warf erneut einen Blick auf St. Joseph. Das Schauspiel war beendet, die leuchtenden Strahlen der Fassade waren versiegt. Allein das Kreuz schimmerte in einem Rest von Abendrot. Es fiel ihm schwer, den Blick loszureißen. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie etwas übersehen hatten. Etwas, das zum Greifen nah lag. Etwas, das vielleicht nur seine Augen wahrgenommen, er aber nicht wirklich registriert hatte. Ein letzter Blick auf die Fassade des Hauses, dann durch den Torweg in den Hof, in dem es schon dämmrig wurde. Nein, da war nichts Auffälliges. Dennoch war er sich sicher, dass seine Augen etwas Wichtiges gesehen hatten.