Rätselhafte Papiere

Die frische Luft tat gut. Sören blieb einen Augenblick stehen und atmete tief durch. Das Zittern hatte sich etwas gelegt, aber sein Herz schlug wie wild. Bisher war er nicht aus der Gefahrenzone. Sören blickte auf die Tordurchfahrt, die ihn von dem Tumult auf der Straße trennte. Er kam sich vor wie ein Verbrecher auf der Flucht. Aber es schien ihm niemand gefolgt zu sein. Niemand hatte bemerkt, wie er sich über das kleine Nebentreppenhaus mit der engen Wendeltreppe davongemacht hatte. Jetzt nur kein auffälliges Verhalten zeigen. Wenn er auf die Straße trat, musste er neugierig wirken. So, wie jeder andere auch. Sören hoffte, dass das Gedrängel um den leblosen Körper groß genug war und dass ihn niemand aus dem Hotel wiedererkannte. Der Empfangschef etwa. Ein Fehler, sich ihm vorzustellen, wie er sich jetzt eingestehen musste. Aber hätte er da schon ahnen können, was folgte? Vielleicht erinnerte er sich gar nicht an seinen Namen. Vielleicht. Sören schlug den Kragen hoch und schritt auf die Straße.

Es war, wie er vermutet oder vielmehr gehofft hatte. Eine beträchtliche Anzahl Passanten stand im Kreis um den zerschmetterten Körper auf dem Pflaster und diskutierte aufgeregt. Sören vernahm die Frage einer älteren Frau, ob der Mann tot sei. Ein jüngerer Mann, der sich über den Körper gebeugt hatte, bejahte das. Andere kamen und stellten die gleichen Fragen. Jeden Augenblick musste eine Sanitätsmannschaft oder ein Wachtmeister auftauchen. Von den Hotelbediensteten war niemand zu sehen.

Immer noch strömten Passanten aus der Nähe neugierig zum Ort des Geschehens, um einen Blick auf den Unglücklichen zu werfen. Die meisten wendeten sich danach zwar schockiert ab, blieben aber gleichwohl vor Ort, um das weitere Geschehen mitverfolgen zu können. Sören zwang sich ebenfalls zu bleiben, bis sich die Neugierde gelegt hatte und die Menge sich auflöste. Immer wieder suchte sein Blick die Menschentraube nach einem Gesicht von jemandem ab, der ihn erkannt haben konnte. Und dann sah er ihn. Den Mann von der Treppe.

Er stand etwas abseits und blickte teilnahmslos auf den Toten. Vorhin hatte er ihn nicht so genau in Augenschein nehmen können, alles war zu schnell gegangen. Doch Sören fiel es schwer, irgendwelche Besonderheiten an der Person zu erkennen. Hose und Gehrock aus schwarzer Wolle, eine unscheinbare Erscheinung, ein Allerweltsgesicht mit Kaiserbart, wie ihn fast jeder trug. Buschige Augenbrauen, der Ansatz einer Hakennase, etwas zu kleine Ohren, mehr Auffälligkeiten gab es eigentlich nicht. Der kurze Moment, in dem sich ihre Blicke vorhin getroffen hatten, hatte jedoch ausgereicht, um ihn zweifelsfrei wiederzuerkennen.

Plötzlich blickte der Kerl auf und schaute Sören mit funkelnden Augen an. Sörens Hals war wie zugeschnürt. Er wagte nicht, sich zu rühren, erwartete jeden Moment, dass der Kerl mit dem Finger auf ihn zeigen und rufen würde: Der da! Der hat’s getan! Aber nichts desgleichen geschah. Der Mann blickte ihn nur an. Es war ein stechender, durchdringender Blick. Sören war sich augenblicklich sicher, ihn nie vergessen zu können. Dann zeichnete sich der Anflug eines Lächelns auf den Lippen des Mannes ab. Es war ein Lächeln, das einem Eingeweihten galt.

Aber was hatte Sören gegen ihn in der Hand? Er war es, den man verdächtigen würde, sollte er jetzt die Hand heben und die Leute auf den Kerl aufmerksam machen. Nein, ihn selbst würde man als denjenigen identifizieren, den man zu Waldemar Otte aufs Zimmer geschickt hatte. Und der Blick des Kerls signalisierte, dass er das auch wusste.

Während Sören überlegte, wie er dem Mann am unauffälligsten folgen konnte, entdeckte er auch den Empfangschef des Hotels, der inzwischen auf die Straße gekommen war. Er stand direkt neben dem Kerl, der sich ihm in diesem Moment zuwendete und ihn ansprach. Dann streckte der Mann mit der Melone den Arm aus und deutete mit dem Finger in Sörens Richtung. Sören überkam Panik. Am liebsten wäre er sofort losgerannt, aber er zwang sich zur Ruhe. Die Menschentraube begann sich aufzulösen, und Sören nutzte die Gelegenheit, mischte sich unter die Menge und machte sich so unauffällig wie möglich aus dem Staub.

Erst nachdem er sich mehrfach vergewissert hatte, dass ihm wirklich niemand gefolgt war, betrat er seine Kanzlei an der Schauenburgerstraße und ließ sich völlig erschöpft und gleichwohl erleichtert in den großen Lehnstuhl vor der Bücherwand fallen. Es war ihm, als könne er erst jetzt wieder richtig durchatmen. Gedankenversunken massierte er seine Schläfen und versuchte, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Sören ärgerte sich maßlos über sich selbst, über seine unbegründete Panik, sich bloß nicht am Tatort erwischen zu lassen. Mit seiner Flucht hatte er sich nur noch verdächtiger gemacht. Niemand würde ihm Glauben schenken, wenn er den Versuch unternahm, im Nachhinein die Geschehnisse ins rechte Licht zu rücken. Und der Empfangschef würde sich ganz bestimmt an ihn erinnern. Spätestens bei einer Gegenüberstellung – und dass man auf ihn, den Vater desjenigen, der aufgrund einer Aussage von Otte in Untersuchungshaft saß, kommen würde, lag auf der Hand. Es war eine bloße Frage der Zeit. Er saß ganz gewaltig in der Patsche.

Erst das Schlagen der Standuhr riss ihn aus seinen Grübeleien. Es war bereits fünf Uhr. Zu lange durfte er nicht bleiben. Wenn sich der Empfangschef an die Adresse auf seiner Karte erinnerte, dann würde es nicht lange dauern, bis die Polizei eintraf. Fräulein Paulina war bereits gegangen und hatte die Korrespondenz wie immer auf seinen Schreibtisch gelegt. Sören kontrollierte rasch die Umschläge, ob etwas Dringendes darunter war, dann löschte er das Licht und machte sich auf den Weg. Eine knappe halbe Stunde später betrat er den Convent Garten über den Eingang an der Fuhlentwiete, der zum unteren Saal führte. Wenn die Probe noch nicht vorbei war, dann konnte er Tilda hier am besten abfangen.

 

«Und was gedenkst du nun zu tun?», fragte Tilda, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Es kam selten vor, dass sich Sorgenfalten auf ihrem Gesicht abzeichneten. Jetzt blickte sie Sören fast ängstlich an.

«Ich weiß es nicht. Ich zermartere mir schon die ganze Zeit den Kopf, aber ich kann überhaupt keinen klaren Gedanken fassen.»

«Glaubst du, man wird dich verhaften?»

Natürlich bestand diese Möglichkeit, aber er wollte Tilda nicht unnötig ängstigen. Sie wirkte so zerbrechlich in diesem Moment. Schützend legte er den Arm um sie und zog sie sanft zu sich heran. «Nein», flüsterte er. «Wir müssen abwarten. Vorerst sind mir die Hände gebunden.»

Sie presste den Kopf an seine Brust. «Du musst dir etwas einfallen lassen.»

«Sicher, das werde ich. Lass uns nach Hause fahren und in Ruhe überlegen …»

«Kommt überhaupt nicht in Frage», fiel Tilda ihm ins Wort. «Dort wird man zuerst nach dir suchen. Am besten ist es, du tauchst erst einmal unter.» Sie entzog sich seiner Umarmung und sah ihn nachdenklich an. «Lass mich überlegen … Du könntest doch für eine Weile im Haus deiner Mutter unterkommen. Ich werde mich mit Agnes schon arrangieren.»

Sören schüttelte den Kopf. «Das ist doch lächerlich.»

«Nur für ein paar Tage.»

«Und was soll ich Lisbeth sagen?»

«Sie wird zu dir halten.»

«Ich bin doch kein Verbrecher.»

«Oder zu Martin.» Tilda blickte ihn flehentlich an. «Bitte.»

«Daran habe ich auch schon gedacht», sagte Sören, und es war nicht gelogen. Er musste mit jemandem sprechen, Abstand gewinnen, einen klaren Kopf bekommen. Martin hatte die nötige Distanz. Und zudem würde Tilda erst einmal beruhigt sein, wenn sie ihn in Sicherheit wusste, zumal sein Aufenthaltsort dann nur eine Häuserecke entfernt lag.

«Dann lass uns gleich aufbrechen. Weißt du, ob er zu Hause ist?»

«Nein», entgegnete Sören. «Aber ich weiß notfalls, wo der Schlüssel liegt.»

 

Martin Hellwege war zu Hause. Zuerst hatte Sören gedacht, er habe vielleicht Besuch, denn die Villa in der Alten Rabenstraße war hell erleuchtet, aber dem war nicht so. Da Martin sich aus unerfindlichen Gründen weigerte, Hausbedienstete einzustellen, kam er selbst zur Tür. Er merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, denn Tilda verabschiedete sich noch in der Halle von Sören und versprach, sich sofort zu melden, falls sich jemand nach ihm erkundigen sollte.

«Ist ja schon ein paar Jährchen her, dass ich dich als Gast in meiner bescheidenen Junggesellenhütte beherbergt habe», meinte Martin und hängte Sörens Rock in der Garderobe auf. «Darf ich nach dem Grund fragen, oder wäre das indiskret?»

«Ich stecke ziemlich in Schwierigkeiten, Martin.»

«Aber zwischen dir und Mathilda ist alles in Ordnung, wie ich gesehen habe.»

«Es könnte nicht besser sein», antwortete Sören.

«Na, du wirst mich schon aufklären. Komm, ich habe noch ein gutes Dutzend frischer Whitstable Natives von Kempinski in der Küche. Die sollten für uns beide reichen. Und eine dazu passende Flasche Champagner wird sich auch noch finden.»

Diese Unbekümmertheit war typisch für Martin. Bevor man sich daranmachte, irgendwelche Probleme zu erörtern, musste erst einmal für das leibliche Wohl gesorgt sein. Wenn Sören nicht überraschend aufgetaucht wäre, dann hätte Martin sicherlich in einem Restaurant gegessen und den restlichen Abend in seinem Club, der Gesellschaft Harmonie, verbracht. Mangels Familie hielt ihn abends nicht viel im eigenen Haus, wie er sich auszudrücken pflegte. Früher hatte Sören immer über Martins Junggesellendasein und die damit verbundene ewige Unternehmungslust gespöttelt, bis ihm sein Jugendfreund dann eines Tages den wahren Grund für sein außergewöhnliches Leben verraten hatte. Auch wenn das nun schon mehrere Jahre her war, hatte Sören immer noch Schwierigkeiten bei der Vorstellung, dass sich Martin lieber mit Männern als mit Frauen umgab – nicht nur gesellschaftlich, sondern eben auch körperlich. Martin erwähnte keine Einzelheiten, und Sören fragte nicht weiter nach. Die Verschwiegenheit, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, betraf aber ausschließlich Martins Liebesleben. So schwer es Sören auch fiel, die Gefühlswelt seines Freundes nachvollziehen zu können, Vertrauen und Freundschaft hatten zu keiner Zeit darunter gelitten.

Martin Hellwege lebte das Leben eines Genussmenschen. Er konnte es sich leisten, denn er war der letzte Spross einer wohlhabenden Hamburger Familie: luxuriöses Essen, elegante Kleidung stets nach der neuesten Mode, kulturelle Veranstaltungen und Empfänge allerorts sowie ausgedehnte, teils exotische Reisen. Natürlich in Begleitung, aber darüber sprach Martin nicht mit ihm. Wenn er Martin in Gesellschaft eines guten Freundes, wie er selbst seine Beziehungen nannte, begegnete, dann machte er sie zwar ganz unverfänglich miteinander bekannt, verabschiedete sich jedoch in der Regel recht schnell wieder. Warum, konnte Sören nur vermuten. Vielleicht war es Martin doch unangenehm, in Gesellschaft von einem Eingeweihten beobachtet zu werden.

Eine Zeit lang mussten seine Beziehungen wohl immer nur von kurzer Dauer gewesen sein, denn ständig hatte er Sören neue gute Freunde vorgestellt. Hin und wieder war er Martin auch in Begleitung hochgestellter Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben begegnet, was ihn stets etwas verunsichert hatte, denn anscheinend war die Neigung seines Freundes doch viel verbreiteter als von ihm angenommen. In der letzten Zeit hatten sie sich jedoch immer seltener bei offiziellen Anlässen getroffen, und wenn doch, dann war Martin ohne Begleitung gewesen. Sören verkniff es sich, Martin darauf anzusprechen.

Nachdem sie die Austern verspeist hatten, wechselten sie vom Champagner zu Rotwein. Martin hatte immer ein paar gute Flaschen im Keller vorrätig, Jahrgänge, die sich Sören nicht hätte leisten können. Nicht nur, weil Tilda Einspruch erhoben hätte.

«Du kannst bleiben, so lange du willst», meinte Martin trocken, nachdem ihm Sören in groben Zügen geschildert hatte, was vorgefallen war. Kein Vorwurf, keine Nachfrage. So war er.

«Ich will dich da keinesfalls mit reinziehen …»

«Dieses Problem sehe ich weniger. Zumindest nicht, solange du das Haus nicht verlässt.» Er grinste. «Ich werde allerdings nur bis Anfang nächsten Monats hier sein. Am 9. Februar starte ich von Genua aus zu einer 44-tägigen Orientfahrt mit einem Doppelschraubenschnelldampfer der Hamburg-Amerika Linie. Hatte ich dir davon erzählt?»

Sören schüttelte den Kopf. «So lange hatte ich nicht vor, zu bleiben. Ich dachte eher so an …» Er zögerte. «… morgen oder übermorgen. Halt so lange, bis eine Reaktion seitens der Polizei absehbar ist. Wenn man mich wirklich verdächtigt, etwas mit der Sache zu tun zu haben, und man zudem meine Identität kennt, dann werde ich mich der Sache wohl oder übel stellen müssen. Was hältst du im Übrigen davon? Du hast bis jetzt noch gar nichts dazu gesagt.»

Martin goss Wein aus der Karaffe nach. Dann öffnete er eine hölzerne Kiste und nahm eine dicke Zigarre heraus. «Du auch eine?»

Sören winkte ab und beobachtete Martin dabei, wie er das Mundstück der Zigarre mit einem speziellen Messer einkerbte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Freund deutlich zugenommen hatte. Er war ja schon immer etwas beleibter gewesen, aber so, wie er jetzt dasaß und genüsslich an der Zigarre leckte, hatten seine Gesichtszüge schon fast etwas Feistes. Seine fleischigen Wangen hingen schlaff herab, und wenn er den Kopf etwas neigte, zeigte sich über dem Kragen der Ansatz eines Doppelkinns.

«Was soll ich schon groß dazu sagen?» Martins Kopf verschwand für einen Moment in einer Wolke aus Tabakqualm. Als sie verflogen war, schaute er Sören fragend an. «Was David betrifft, kann ich nur hoffen, dass er dir die Wahrheit gesagt hat. In diesem Alter kommt man schon mal auf dumme Gedanken. Dazu noch in einer Gruppe …» Er wartete auf einen Einwand von Sören, aber der schwieg beharrlich.

«Gut, also nehmen wir mal an, es war so, wie er es dir geschildert hat. Es gibt mehrere Zeugen für das, was geschehen ist. Der Belastungszeuge scheint ja nun tot zu sein und kann seine Aussage nicht revidieren. Also liegt es an Davids Begleitern, die Sache ins rechte Licht zu rücken. Ohne deren Aussage wird es schlecht für ihn aussehen.»

Sören nahm einen Schluck Wein. Er wusste, dass Martin recht hatte.

«Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen. Und ob dieser Jude sich dort aufhalten durfte oder nicht, ist für die Tat doch wohl völlig unerheblich. Entscheidender ist, was er dort gemacht hat und ob es diese ominöse Frau wirklich gegeben hat, die er misshandelt haben soll. Denn wenn dem so war, dann hätten David und seine Kumpane sich redlich und ehrenwert verhalten. Aber du kannst es drehen und wenden, wie du willst, es läuft alles darauf hinaus, dass sie eine Aussage machen und Davids Version der Geschehnisse bestätigen müssen. Oder sehe ich das falsch?»

«Das siehst du richtig. Nur kann ich mich nicht auf die Suche nach ihnen machen … Zumindest momentan nicht. Und was sagst du zu der Sache im Hotel?»

«Sehr mysteriös, wenn du mich fragst. Es ist schon ein komischer Zufall, dass der Hauptbelastungszeuge in einer Mordsache einen Tag nach seiner Aussage aus einem Hotelzimmer geworfen wird.» Martin machte einen tiefen Atemzug und räusperte sich. «Dass dein Verhalten dumm war, brauche ich dir wohl nicht zu sagen.»

«Das ist mir inzwischen auch klar. Ich hatte einfach Panik. Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass der Kerl so dreist ist, den Spieß einfach umzudrehen.»

«Ist jetzt auch nicht mehr zu ändern. – Was anderes: Hast du schon die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass vielleicht die Kumpane von David …»

«Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Aber das wäre doch idiotisch, denn ein Toter kann keine Aussage zurücknehmen. Und außerdem sah der Kerl, den ich gesehen habe, nicht aus wie ein sozialistischer Anarchist. Eher im Gegenteil. Du hättest diesen Blick sehen sollen.»

«Wie hoch schätzt du die Wahrscheinlichkeit ein, dass sich der Mann von der Hotelrezeption an deinen Namen erinnert?»

«Keine Ahnung. Er hat nur einen flüchtigen Blick auf die Karte geworfen. Aber wenn es zu einer Gegenüberstellung kommt, erinnert er sich bestimmt.»

«Muss nicht sein. So viele Leute, die da täglich im Hotel ein und aus gehen …»

«Aber es wird dort nicht jeden Tag ein Hotelgast aus dem Fenster geworfen.»

«Auch richtig. Aber bedenke mal, der Kerl, der dich auf der Treppe angerempelt hat …»

«Angerempelt? Der hat mich fast umgerannt!»

«Egal. Was ich sagen will, ist: Der muss doch auch am Empfang vorbeigekommen sein. Es sei denn, der Tote auf der Straße war gar nicht dieser … Wie war der Name?»

«Otte. Waldemar Otte.»

«Genau. Was weißt du eigentlich über ihn?»

«Nicht viel, nur dass er aus Danzig stammt. Aber in dem Hotelzimmer hingen seine Sachen, sein Rock, ein Gehstock und seine Melone. Und der Kerl, der mir gefolgt ist, war mindestens einen Kopf größer.»

«Gut, also gehen wir meinetwegen davon aus, dass der Tote dieser Otte ist. Stellt sich die Frage, warum der andere Kerl auf dich gezeigt hat. Er glaubt, dass du ihn wiedererkennen könntest, richtig?»

Sören erschrak. Worauf Martin hinauswollte, war, dass er selbst ein wichtiger Zeuge war. Er hatte zwar das Verbrechen nicht beobachtet, aber er hatte den Täter gesehen und konnte ihn notfalls identifizieren. Der Kerl wusste wahrscheinlich gar nicht, dass Sören auf dem Weg zu Waldemar Otte gewesen war, als sie sich auf der Treppe getroffen hatten. Allein dadurch, dass er ihn gesehen hatte, stellte er für den Mann nun eine Gefahr dar. Sören schauderte bei dem Gedanken. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder diesen hinterhältigen Blick. Der Kerl hatte nur auf eine Gelegenheit gehofft, einen unliebsamen Zeugen aus dem Weg räumen zu können. Hatte er deshalb den Empfangschef auf Sören aufmerksam gemacht? Eine innere Stimme sagte ihm, dass das nicht der alleinige Grund gewesen sein konnte. Dann fiel es Sören plötzlich ein, und er fuhr hoch.

«Ich Idiot!», rief er und rannte zur Garderobe. Die Schriftstücke steckten immer noch in der Innentasche seines Rockes.

 

«Interessant», murmelte Martin und versuchte, die Dokumente ihrem Zusammenhang nach zu ordnen. «Schade, dass du nicht alle Seiten hast. Das reinste Puzzlespiel. Ein Kostenvoranschlag, Korrespondenz mit einer Werft, Vorgaben für den Bauplan eines Schiffes … Allerdings wissen wir jetzt, was er beruflich gemacht hat. So, wie es aussieht, war er Bevollmächtigter einer Schiffswerft, der Schichau-Werft in Danzig.»

«Ich habe zusammengerafft, was runtergefallen war. Vollkommen zufällig.»

Martin war auf einen Schlag wie verwandelt. Neugierig beugte er sich über die Dokumente, als gelte es, ein Rätsel zu entschlüsseln. Schließlich schüttelte er den Kopf. «Was ich diesen Fragmenten entnehmen kann, klingt alles völlig normal und unspektakulär. Der Mann war ein Handlungsreisender, der mit der Hapag über den Bau von Schiffen verhandelt hat. Aus einzelnen Blättern werde ich zwar nicht schlau, aber das Zeugs hier scheint mir keinen besonderen Wert zu haben.»

«Immerhin hat er die Unterlagen aus dem Zimmer entwendet. Und den Briefköpfen nach müssen sich die Dokumente vorher im Besitz von Waldemar Otte befunden haben. Warum also hat er sie mitgenommen? Vielleicht steht sogar etwas darin, das erklärt, warum Otte sterben musste.»

Martin zuckte mit den Schultern. «Nur was? Gehen wir mal systematisch vor. Als Verteiler des einen Schreibens tauchen noch die Vulcan-Werft in Stettin, die Seebeck-Werft in Geestemünde sowie Blohm + Voss hier in der Stadt auf. Es könnte also sein, dass es sich um eine Ausschreibung handelt.»

«Und man sich mit Otte eines unliebsamen Konkurrenten entledigt hat? Wohl kaum. So ein Kostenvoranschlag ist doch nicht an eine Person gebunden. Die Schichau-Werft würde einen neuen Agenten zur Verhandlung schicken.» Sören tippte auf eines der Dokumente. «Die Angaben über das Schiff sind jedenfalls nicht vollständig. Daraus ist nicht mal zu erkennen, ob es sich um einen Frachtdampfer oder ein Passagierschiff handelt. Nur die geplante Länge von 160 Metern ist genannt.»

«Dazu könnte allerdings die Blaupause mit der eingezeichneten Skizze hier passen, wo die Schichau-Werft darauf hinweist, dass bei einer geforderten Durchschnittsgeschwindigkeit von 24 Knoten entsprechend einer Maschinenleistung von angestrebten 50 000 PS der Einsatz spezieller Turbinen notwendig sei.» Er deutete auf ein dünnes Seidenpapier, dessen unteres Drittel abgerissen war. «Laut beigefügtem Kostenvoranschlag … Tja, der ist nicht vollständig. Und wir wissen auch nicht, an wen das Schreiben gerichtet ist. Fehlanzeige.»

«Ich nehme doch mal an, an die Hamburg-Amerika Linie.» Sören fuhr mit dem Finger über die Zeilen, als wolle er sich vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte. «24 Knoten. Donnerlittchen! Sieht so aus, als wenn sich die Hapag mal wieder auf ein Rennen mit dem Norddeutschen Lloyd einlassen will. Dabei dachte ich, dass man die Wettfahrten über den Atlantik inzwischen aufgegeben hätte.»

Er zog ein weiteres Dokument hervor. «Dies scheint dazuzugehören. Ein Antwortschreiben einer Werft aus Irland, Harland & Wolff,  bezüglich Ihrer Anfrage nach Erfahrungen im Einsatz von Turbinen vom Typ Parsons bei Drei- und Vierschraubenschiffen … wird sich einer unserer Mitarbeiter mit Ihnen in Verbindung setzen …. ein Treffen in Hamburg zu arrangieren. Interessant.»

Martin entzündete ein Streichholz und feuerte seine Zigarre erneut an. «Der Kerl auf der Treppe … Hat er ein Wort gesagt? Oder vielleicht geflucht? Ich meine, könnte der Mann Engländer respektive Ire gewesen sein?»

Sören versuchte, sich daran zu erinnern. Nein, der Kerl hatte ihn nur verdutzt angeschaut und keinen Laut von sich gegeben. Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. «Der Empfangschef erwähnte nur, dass Waldemar Otte jemanden erwarte. Das kann natürlich jemand von dieser Werft gewesen sein – jedenfalls hielt er mich für denjenigen …»

Martin starrte auf die Papiere, die ausgebreitet auf dem Tisch vor ihnen lagen. «Gut, da kommen wir nicht weiter. Was haben wir noch? Hier, eine Aufzählung verschiedener Kreditinstitute. Ein Schreiben der Hapag, gezeichnet von Albert Ballin. Wechselverfügungen und Konten der Norddeutschen Bank, der Warburg-Bank, der Berliner Handelsgesellschaft, der Diskontogesellschaft sowie der Deutschen Bank Berlin. Keine Ahnung, was das soll, aber das sollte für mich eine Kleinigkeit sein, herauszufinden, was es mit dieser Aufstellung auf sich hat. Schließlich arbeite ich eng mit dem Direktorium der Norddeutschen Bank zusammen. Ich werde mich gleich morgen darum kümmern. – Dann hier … noch ein Schreiben von Ballin. Das ist das einzige Schriftstück in unserer Sammlung, das vollständig zu sein scheint. An Waldemar Otte, Schichau-Werft, Hotel Victoria, Bei dem Hühnerposten 18 … Das ist seine hiesige Anschrift. Sehr geehrter Herr Otte … blablabla … die übliche geschäftliche Vorrede … aber jetzt: … können wir dem von Ihnen gewünschten Entgegenkommen bezüglich der im Jahre 1898 für den Norddeutschen Lloyd ausgelieferten Kaiser Friedrich aus verständlichen Gründen nicht nachkommen, da unser Unternehmen trotz zwischenzeitlicher Nutzung des Schiffes keinerlei vertragliche Verpflichtung Ihrer Werft gegenüber eingegangen ist  und so weiter bitte ich Sie, sich an die Direktion des Norddeutschen Lloyd zu wenden … und verbleibe mit dem Wunsch einer guten Zusammenarbeit sowie einem angenehmen Aufenthalt in der Stadt … hochachtungsvoll … Ballin. Hast du eine Ahnung, worum es da gehen könnte?»

«Nein.» Sören schüttelte den Kopf.

«Tja, alles andere scheint mit seinen hiesigen Geschäften nicht viel zu tun zu haben. Private Briefe, die letzte Seite eines Schreibens vom Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes, gezeichnet von Tirpitz, und dann noch diese handschriftlichen Notizen.» Martin reichte Sören drei aus einem Notizblock herausgerissene Seiten. «Der Skizze nach könnte es eine Wegbeschreibung sein, aber ich kann es nicht entziffern.»

Sören studierte das Gekritzel. «Ich erkenne die Worte Ferdinand und Klingel. Der Rest ist völlig unleserlich. Das kann alles Mögliche bedeuten.»

Martin schob die Blätter zusammen. «Das war alles. Du wirst dich an die Hapag wenden müssen, um Näheres zu erfahren. Wie wäre es, wenn du dich direkt an Ballin wendest? Er wohnt doch gleich hier um die Ecke.»

«Ja, in der Heimhuderstraße. Tilda ist mit seiner Frau bekannt», meinte Sören, schränkte aber sogleich ein: «Na ja, bekannt ist übertrieben, aber sie hatte eine Zeit lang Kontakt zu Marianne Ballin, als es um die Adoption von David ging. Ballins haben ja auch ein Kind adoptiert. Ihre Tochter Irmgard, eine Cholerawaise aus der Familie von Ballins Frau.»

Martin verzog den Mund zu einem Schmunzeln. «Ballin selbst soll sie ja Peterle nennen, habe ich gehört. Ein Sohn wäre ihm wohl lieber gewesen.» Er lachte kurz auf. «So mächtig er als Generaldirektor der Hapag auch sein mag, privat hat er da wohl weit weniger zu bestellen. Hast du die beiden einmal nebeneinander gesehen? Er reicht seiner Frau ja gerade mal bis zur Schulter.»

Er deutete auf das Schachbrett, das wie gewohnt auf dem kleinen Tisch am Fenster stand. «So, jetzt aber genug der ganzen Spekulationen. Lass uns noch eine gute Flasche aufmachen und eine Partie spielen, so wie wir es früher immer gemacht haben. Und den Rest verschieben wir auf morgen.»

Sören hatte keine Einwände. Er bezweifelte zwar, dass er seine Gedanken und Sorgen würde ausblenden können, aber der Tag war aufregend genug gewesen. Von daher kam ihm Martins Vorschlag ganz recht.