Der Rumpf des Schiffes ragte trotz Hochwasser nur wenige Zentimeter über die steinerne Vorsetze der Werft. Vor der stählernen Wand des dahinter liegenden Docks wirkten die Aufbauten des Linienschiffes fast zierlich. Sören warf einen Blick über die Kaimauer. Die gedrungene Form des Schiffes zeichnete sich nur schemenhaft in der Dunkelheit ab. Die dünnen Rauchfahnen aus den beiden mächtigen Schornsteinen signalisierten, dass das Schiff bereits unter Dampf stand, aber bis auf die Positionslaternen in den Masten und ein schummriges Flackern hinter den winzigen Scheiben gab es keine weiteren Anzeichen dafür, dass bereits jemand an Bord war. An Deck war niemand zu sehen. Auch die offene Kommandobrücke über dem Gefechtsstand war nicht besetzt. Ganz entfernt war ein sanftes Brummen aus dem Inneren des Schiffsrumpfes zu vernehmen. Es klang fast beruhigend, aber je genauer Sören die Silhouette des Linienschiffes in Augenschein nahm, desto mehr wirkte es, als blickte ihn das Schiff grimmig an. Die Kasemattengeschütze schienen in alle Richtungen zu zielen, und die Rohre des riesigen Geschützturmes, die bedrohlich über dem Vordeck schwebten, kamen Sören wie die Beißwerkzeuge eines Insekts vor.
Der Wind hatte aufgefrischt und blies mit mindestens sechs Beaufort aus West. Sören war noch nie auf einem vergleichbaren Schiff gewesen, und da Kriegsschiffe nicht unbedingt für einen gehobenen Reisekomfort konstruiert wurden, war ihm klar, dass die Ausfahrt alles andere als eine Spazierfahrt werden würde. Er neigte zwar nicht zur Seekrankheit, aber angesichts der Tatsache, dass er den Großteil der Fahrt unter Deck würde verbringen müssen, war Sören etwas mulmig zumute. Für ein Zurück war es freilich zu spät.
Der Proviantmeister hatte ihn nur kurz gemustert und dann zustimmend genickt. Schmidlein hatte dem Parteigenossen schwören müssen, dass Sören kein Anarchist war, der einen Anschlag plante, denn mit der Prüfungskommission kamen nicht nur ranghohe Offiziere der Marine an Bord des Schiffes, sondern mit von Tirpitz auch hohe Würdenträger des Reichs. Ob Seine Majestät persönlich an der Fahrt teilnehmen würde, war indes immer noch unklar. Allerdings hatte man bereits entsprechende Vorbereitungen getroffen. Es hieß, Marinestab, Kommission und Gäste würden mit der Bahn anreisen und direkt auf das Betriebsgelände der Werft geleitet werden. Die personelle Besetzung der Kommission war zwar bekannt, doch die meisten Namen kannte Sören allenfalls vom Hörensagen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihn jemand erkennen könnte, war damit so gut wie ausgeschlossen.
Proviantmeister Müller hatte Sören kurz über Protokoll und Benimmregeln aufgeklärt, da er als Aufdecker mit zwei weiteren Stewards für die Versorgung der Gäste in der Deckoffiziersmesse zuständig war. Lars und Otto machten einen sympathischen Eindruck, waren jedoch weitaus jünger als Sören. Überraschend, aber zugleich beruhigend fand Sören den Umstand, dass auch Schmidlein während der Fahrt an Bord sein würde. Fast die ganze Abteilung für Wissenschaftliches Versuchswesen nahm daran teil, denn Schmidleins Chef, ein gewisser Hermann Frahm, der Leiter der Abteilung, wollte während der Fahrt irgendwelche Schwingungen messen. Mehr Details kannte Schmidlein noch nicht, da er ja erst wenige Tage dabei war, aber Frahm hatte anscheinend ein besonderes Auge auf den Neuen geworfen, nicht nur weil er an der gleichen Hochschule in Hannover studiert hatte, sondern wohl auch weil Schmidlein seine bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Resonanzen und Schwingungen gelesen hatte. Sören musste an Martin und dessen fragwürdige medizinische Behandlung denken. Schwingungstheorien waren zurzeit offenbar nicht nur bei Medizinern en vogue.
Bereits nach wenigen Schritten an Bord bemerkte Sören das leichte Vibrieren, das durch das ganze Schiff ging. Er musterte die massiven Stahlplatten der Aufbauten, deren Dimension beeindruckend war. Man konnte sich kaum vorstellen, dass es Geschosse gab, welche diesen Stahl durchschlagen konnten. Dann fielen ihm Schmidleins Worte über die weitere Entwicklung bei der Aufrüstung ein, über den stetigen Wettlauf zwischen Dicke der Panzerung und Größe der Geschütze, und das Sicherheitsgefühl schwand innerhalb kürzester Zeit. Sören empfand die Enge auf den Fluren und Gängen als bedrückend. Die niedrigen Decken, die einem ausgewachsenen Menschen gerade eben erlaubten, aufrecht stehen zu können, ohne mit dem Kopf an irgendwelche Rohre oder Leitungen zu stoßen, machten ihm anfangs am meisten zu schaffen; erst nachdem er sich mit den Örtlichkeiten zwischen den Decks vertraut gemacht hatte, schwand das Gefühl der Beklemmung.
Die Kombüse war überraschend geräumig, was auch verständlich war, wenn man sich die Größe der späteren Mannschaft des Schiffes vor Augen führte. Aber heute fuhr das Schiff mit minimaler Besatzung. Sören und die anderen Stewards erhielten ihre Instruktionen. Dem Plan nach sollte es erst einen kleinen Empfang an Bord des Schiffes geben, dazu sollten Sekt, Kaffee und Gebäck sowie Schorle gereicht werden. Anschließend würde das Schiff unter Führung von Werftkapitän Heinrich Wahlen ablegen und in Richtung Elbmündung dampfen. Bei der Fahrt sollte zunächst die Maschinenleistung getestet werden, dann würde der zukünftige Kommandant, Kapitän zur See von Heeringen, das Schiff übernehmen und weitere Tests durchführen. In den Pausen zwischen den unterschiedlichen Manövern standen Erbsensuppe, Aal grün und später Bratäpfel auf dem Programm.
Zuerst jedoch ging es in den Besprechungsraum, wo die Meister für den Bau Seiner Majestät Schiffe bei Blohm + Voss, Wroost, Stössel und Kaufmann sowie Untermeister Masur, Oberingenieur Dreyer vom Kriegschiffbaubüro der Werft und Oberingenieur Winter vom Kriegschiff-Maschinenbau-Büro zusammengekommen waren. Diese Herren sollten der Prüfungskommission der Marine Rede und Antwort stehen.
Das Balancieren der Tabletts mit den Kaffeebechern war gewöhnungsbedürftig, doch nach ein paar Runden hatte Sören den Dreh raus. Er beeilte sich beim Gehen, denn er befürchtete stets, irgendwelche wichtigen Informationen zu verpassen. Die übrige Zeit stand er gemeinsam mit Lars und Otto am Rande des langen Tisches und wartete, die Ohren gespitzt wie ein Luchs, auf Bestellungen. Schmidleins Idee war wirklich ausgezeichnet gewesen. Wenn man nachher in der Deckoffiziersmesse und auf der Brücke zur Sache kommen sollte, konnte ihm nichts entgehen. Aber hier im Besprechungsraum, der eigentlich die Messe der Seekadetten war, erfuhr er nichts Spannendes. Die Gespräche kreisten um Planung und Ablauf der zu erwartenden Manöver und dienten der Absprache, wer zu welchen Fragen der Kommission Stellung nehmen würde.
Die heutige Mannschaft bestand größtenteils aus Maschinisten und werkseigenem Personal, da das Schiff erst in Wilhelmshaven vollständig von der Marine ausgerüstet werden sollte. Danach würde der Großteil der zukünftigen Mannschaft, die Matrosen und Seekadetten sowie die Deckoffiziere, an Bord kommen. Aus diesem Grund und weil die Marine das Schiff noch nicht abgenommen hatte, absolvierte man die Probefahrt auch unter Handelsflagge. Ein kleiner Teil der zukünftigen Mannschaft befand sich dennoch bereits an Bord, was Sören aus den mit blauen Kurzjacken und Schirmmützen bekleideten Männern schloss, denen er immer wieder auf den Gängen begegnete. Das Läuten einer Schiffsglocke kündigte schließlich das Eintreffen der erwarteten Gäste an.
Auf Wunsch der Kommission hatte man von einer offiziellen Begrüßungszeremonie im Freien Abstand genommen, es gab weder eine Kapelle noch in Reih und Glied stehende Militärs oder das sonst übliche Brimborium eines Festakts. Nacheinander kamen die Gäste an Bord, und innerhalb kürzester Zeit wimmelte es auf den Gängen von zweireihigen Röcken mit goldenen Knöpfen, Moirébändern, Goldtressen, Kokarden, goldenen Litzen und geschmückten Achselklappen. Wenn man sich, was die militärischen Ehren betraf, bei der Marine auch noch so zurückhaltend gab, auf den exakten Sitz der dekorativen Kleidung sowie die damit verbundene Geheimsprache unterschiedlichster Rangabzeichen mochte niemand verzichten.
Das verabredete Begrüßungsprozedere vor der Mannschaftsmesse fiel überraschend knapp aus. Ein paar freundliche Handschläge, hier und dort ein kurzer militärischer Gruß, keine großen Reden oder Ansprachen. So, wie es aussah, kannte man sich und wollte so schnell wie möglich zur Sache kommen und in See stechen. Sören und die anderen Bediensteten waren angehalten, sich unauffällig im Hintergrund zu halten. Auf schlichten Tabletts hielt man Sektgläser bereit. Der Raum war erfüllt vom Lärm abgehackter, unvollständiger Sätze.
Von den anwesenden Personen war Sören kaum jemand bekannt. Unter den Zivil tragenden Gästen war Wiegand, der Chef des Norddeutschen Lloyds, kaum zu übersehen, da er aufgrund seiner Größe ständig den Kopf einziehen musste. Schließlich erkannte Sören auch Admiral von Tirpitz, eine eher kleine, unscheinbare Person, aber durch den mächtigen grauweißen Doppelspitzbart eindeutig zu identifizieren. Ganz im Gegensatz zum Heer trugen die Herren Offiziere zur See vorrangig Koteletten, Backen- und Vollbart. Gezwirbelte Schnauzer, wie man sie aus Hochachtung vor Seiner Majestät zu tragen pflegte, sah man hier nur vereinzelt. Das Gros der Anwesenden war mit einem knielangen dunkelblauen Rock gekleidet, darunter trug man weiße Hemden mit Eckkragen und schwarzem Querbinder, nur wenige trugen Kurzjacken und weiße Querbinder.
Nach und nach bekam Sören die Namen der Anwesenden mit. Neben dem Stab vom Reichsmarineamt waren das Generalinspekteur Admiral von Koester und Kapitän zur See von Heeringen, der zukünftige Kommandant des Schiffes, um die sich die meisten gruppiert hatten. Unter ihnen befand sich Kommandant Hans Zenker und Flottillenchef Hipper von der Torpedoboot-Division, Kapitänleutnant Strasser von der zweiten Werftdivision Wilhelmshaven, Korvettenkapitän Scheer sowie Oberleutnant Raeder. Und dann entdeckte Sören tatsächlich ihn, Seine Majestät Wilhelm II., in bescheidener Aufmachung, mit einer Hand lässig die ihm von allen Seiten offenbarten Wertschätzungen und Schmeicheleien abweisend. Ein süffisantes Grinsen umspielte seine Mundwinkel: «Lassen Sie … meine Herren …, wir sind doch unter uns.»
Um halb neun wurden die Leinen losgeschmissen, und das Schiff legte ab. Pünktlich auf die Minute. Der Boden unter Sörens Füßen vibrierte etwas stärker, das Schiff neigte sich kaum, aber das würde sich in absehbarer Zeit ändern. Glaubte man der Wettervorhersage, dann sollte der Wind über den Tag nochmals auffrischen. Spätestens wenn das Linienschiff die offene See erreicht hatte, würden alle durch die Gänge schwanken und abwechselnd mit den Händen nach den eisernen Haltegriffen und Geländern fassen, die überall auf den Gängen und Fluren angebracht waren.
Während Sören überlegte, ob bei entsprechendem Seegang überhaupt noch Speisen außerhalb der dafür vorgesehenen Räumlichkeiten serviert werden konnten, teilten sich die Anwesenden in die unterschiedlichen Sektionen des Schiffes auf. Kommandanten und Kapitäne folgten dem Ruf des Steuermanns auf die Brücke, die anderen Offiziere sowie der Stab des Reichsmarineamtes, Seine Majestät und die verbleibenden Zivilisten quartierten sich in der Deckoffiziersmesse ein, wo Kaffee und Gebäck gereicht wurden. Nur die Werftbaumeister und führende Techniker zogen sich ins Besprechungszimmer zurück, um die konstruktiven Details des Schiffes erörtern zu können. Schmidlein hatte Sören bislang noch nicht entdeckt.
Nachdem sie Schweinesand hinter sich gelassen hatten, gab Kapitän Wahlen das Kommando, die Maschinenleistung zu erhöhen. Das Echo aus dem Maschinenraum kam ohne Verzögerung, und man merkte sofort den erhöhten Schub, mit dem der stählerne Koloss durch die Wellen stampfte.
«Zehn Knoten … und wir sind noch ein gutes Stück von Halber Kraft entfernt», kommentierte Wahlen zufrieden und blickte stolz auf den Telegraphen.
Die Anwesenden machten ernste Gesichter. «Werden wir bei dem Seegang die volle Leistung testen können?», fragte Korvettenkapitän Scheer. Er wirkte etwas beunruhigt.
Kapitän Wahlen schaute ihn amüsiert an. «Das ist hier noch gar nix. Warten wir mal ab, wie sich der Pott verhält, wenn wir Brunsbüttel passiert haben und sich die See aufbaut.» Mit einem knappen Kommando ließ er die Maschinenleistung abermals erhöhen, dann konzentrierte er sich auf die Fahrrinne. «Steuert sich wie ein Dingi, das Schiff. Wollen Sie mal kurz übernehmen?», fragte er von Heeringen, der direkt neben ihm stand.
Von Heeringen winkte ab. «Machen Sie mal, bis wir aus der Enge sind. Auf Höhe Cuxhaven übernehme ich dann gerne.»
Zwischenzeitlich waren auch die anderen aus der Offiziersmesse auf die Brücke gekommen und nahmen mit erstauntem Gesicht zur Kenntnis, wie Wahlen das Schiff mit mehr als zehn Knoten Fahrt durch die Fahrrinne zirkelte. «Phänomenal», meinte Kommandant Zenker. «Man könnte meinen, auf einem Torpedoboot zu sein, so leichtfüßig wirkt es.»
«In der Tat.» Admiral von Koester saugte aufgeregt an seiner Pfeife. «Können Sie Auskunft darüber geben, welche Leistung jetzt anliegt?»
«Schätzungsweise 15 000 PS», warf Oberingenieur Winter ein. «Das Problem ist, dass wir bislang keine geeignete Methode gefunden haben, die uns über die effektive Leistung der Turbinen Auskunft gibt. Was bei Expansionsmaschinen kein Problem darstellt, ist bei Turbinen nicht so ohne weiteres möglich. Aber wir arbeiten dran.»
Sören horchte auf. Das also war das große Geheimnis, welches das Schiff umgab: Es fuhr mit Turbinenantrieb. Sören wusste von dieser neuen Antriebsart nur, dass man Wasserdampf entlang der Antriebswelle strömen ließ, der die Welle über kreisförmig angeordnete Schaufeln zum Drehen brachte. Ein Antrieb, der ganz anders als die bisherigen Expansionsmaschinen funktionierte. Die einzelnen Vor- und Nachteile waren ihm hingegen nicht geläufig. Aber wenn man für den Antrieb dieses Linienschiffes bereits funktionierende Dampfturbinen verwendete, was hatte es dann mit der Anfrage von Waldemar Otte auf sich gehabt? Sören brauchte nicht lange zu überlegen, bis er die Lösung parat hatte. Es war ein militärisches Geheimnis. Niemand sollte davon Kenntnis haben, und Otte hatte sich mit seiner Anfrage ausgerechnet an eine Werft gewandt, auf der englische Kriegsschiffe gebaut wurden.
So langsam dämmerte ihm, worum es gehen musste. Allerdings beruhte die Turbinentechnik auf der Erfindung eines Engländers, von daher war es kaum nachzuvollziehen, dass man die Einführung von Reichsseite als militärisches Geheimnis einstufte, denn wahrscheinlich waren die Engländer in der Entwicklung bereits viel weiter. Außerdem maß dieses Linienschiff nie und nimmer 160 Meter. Eine Geschwindigkeit von 24 Knoten sollte es dagegen ohne Mühe schaffen, wenn bei zehn Knoten Fahrt noch nicht einmal die Hälfte der möglichen Turbinenleistung abgerufen wurde. Aber war das Schiff nicht längst in Bau gewesen, als Otte sich an die Werft Harland & Wolff gewendet hatte? Demnach plante man wohl den Bau eines noch größeren Schiffes. Sören war gespannt, was er darüber noch erfahren würde.
Als sie Glückstadt passierten, war die Morgendämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass man Häuser und Höfe hinter dem Deichvorland erkennen konnte. Die Aussicht war allerdings durch die relativ kleinen Scheiben der Brücke begrenzt. Einige der Anwesenden hatten sich auf die offene Kommandobrücke gewagt. Der Wind pfiff Sören entgegen, als er nach draußen trat. Admiral von Koester und Oberleutnant Raeder standen mit hochgeschlagenem Kragen neben von Tirpitz, der die Hände in den Rocktaschen hielt.
«Noch etwas Kaffee zum Aufwärmen?», fragte Sören und schenkte von Koester, der ihm bereitwillig seinen Becher hinhielt, aus der stählernen Kanne nach.
«Ein Grog wäre mir bei diesen Temperaturen lieber», entgegnete von Tirpitz, und Sören machte sofort Anstalten, dem Wunsch nachzukommen. Doch der Admiral winkte ab. «Sehr aufmerksam, vielleicht komme ich später darauf zurück.» Dann wendete er sich wieder dem Generalinspekteur zu. «Werden wir in Brunsbüttel auf das Schiff warten müssen?»
Von Koester nippte an seinem Becher und schüttelte den Kopf. «So, wie es geplant ist, wird das Schiff bereits dort sein. Wer von den Anwesenden ist überhaupt eingeweiht?»
«Von Heeringen und Zenker natürlich, Kapitänleutnant Strasser und Kommandant Hipper sind auch involviert. Außerdem die Männer von der Germania-Werft sowie mein Stab. Ich habe Seiner Majestät vorhin zu verstehen gegeben, dass die Rückfahrt nicht, wie ursprünglich vorgesehen, von Wilhelmshaven aus in Angriff genommen wird, aber er hat sich nicht wirklich dafür interessiert. Vielleicht ist ihm die Notwendigkeit der Geheimhaltung noch nicht ganz klar. Er denkt nach wie vor in der Größenordnung der bisherigen Geschwader und Divisionen. Ich hoffe, er hat meine kleine Schummelei …»
Von Koester unterbrach den Admiral mit einem lauten Räuspern, als Seine Majestät auf den Brückenstand trat. Der Kaiser nickte wohlwollend, dann griff er mit einer Hand an die Reling und streckte die Nase in den Wind. «Ein wirklich ausgezeichnetes Schiff, wie ich finde, nicht wahr, meine Herren?»
«So, wie wir es erhofft haben, Eure Majestät», antwortete von Tirpitz. «Natürlich wird sich die Stärke des Schiffes erst zeigen, wenn wir auf dem offenen Meer sind, aber wie bisher zu sehen war, entspricht die Arbeit der Werft exakt unseren Vorgaben … Ihren Vorgaben», verbesserte er sich.
Der Monarch machte eine beiläufige Handbewegung, ohne den Blick vom Bug des Schiffes abzuwenden. «Nun, es waren ja nur ein paar Skizzen und Ideen meinerseits … Über die genauen technischen Details erwarte ich dann zu entsprechender Zeit einen Bericht Ihres Ministeriums. Aber es ist schon beruhigend zu wissen, dass wir nun auch mit meinen Schiffen gegenüber anderen Mächten nicht mehr hintanstehen werden, sondern die uns zustehende Führung übernommen haben.»
«Was die Gesamtstärke Ihrer Flotte betrifft, haben wir das Ziel noch vor Augen, Eure Majestät.» Von Tirpitz lächelte gequält. «Aber ich bin guter Dinge, dass wir in drei bis vier Jahren gleichauf sind. Die neueste Schiffsgeneration ist hinsichtlich unserer Schlagkraft auf jeden Fall sehr vielversprechend.»
Seine Majestät nickte anerkennend. Sören war dem Kaiser bisher noch nie so nah gekommen. Bislang hatte er alle offiziellen Anlässe, zu denen sich Wilhelm II. in der Stadt aufgehalten hatte, gemieden, oder er hatte nur als unbeteiligter Zuschauer aus großer Distanz teilgenommen, wie etwa bei den Feierlichkeiten zum Zollanschluss der Stadt.
Nun, als Lakai verkleidet, musste er Ehrerbietung heucheln, wo im wahren Leben doch nur wenig Demut vorhanden war. Aber diese Selbstverleugnung war Zweck der Sache, anderenfalls wäre er kaum in der Lage gewesen, an die vertraulichen Informationen zu gelangen, deren es bedurfte, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Dennoch tauchten immer mehr Fragen auf. Was hatte es mit diesem Schiff auf sich, das angeblich in Brunsbüttel auf sie wartete? Und welches Ziel steuerten sie an? Und warum waren nur wenige an Bord über die wahren Hintergründe informiert? Es schien sogar so, dass selbst Seine Majestät nicht eingeweiht war. Sören fragte sich, ob er das Ruder überhaupt noch in der Hand hatte. Was er aus dem Gespräch zwischen von Tirpitz und von Koester hatte heraushören können, hatte bei Sören sofort die Alarmglocken schrillen lassen. War es wirklich so, dass von Tirpitz und sein Stab vom Marineministerium inzwischen freie Hand hatten, was die Aufrüstung der Reichsflotte betraf, oder wurden dort sogar Entscheidungen hinter dem Rücken Seiner Majestät getroffen?
Sören konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass zumindest von Tirpitz und von Koester die fachliche Kompetenz Seiner Majestät in Sachen Marine nur bedingt ernst nahmen. Und der Kaiser selbst? Anscheinend gefiel er sich in der Rolle des gönnerhaften Monarchen, der im jovialen Umgang mit seinem Marinestab und den Schiffskommandanten aufging, als zählte er selbst zu den schlachterprobten Seebären. Die Feldherrnpose, mit der er nach wie vor an der eisernen Balustrade verweilte, den Blick in weite Ferne gerichtet, ließ so etwas vermuten.
Die anderen waren inzwischen in den Steuerstand zurückgekehrt, und Sören übte sich in Regungslosigkeit hinter Seiner Majestät Rücken. Je länger er den Monarchen betrachtete, der nach wie vor unerschütterlich die Nase in den Wind hielt, nur hin und wieder mit der Hand den korrekten Sitz seines Bartes kontrollierte, als säße er für ein Bildnis Modell, desto mehr wirkte es, als kämpfte er vielleicht doch nur krampfhaft gegen eine Laune der Natur. Das Schiff machte aufgrund der hohen Fahrt deutliche Rollbewegungen durch die Wellen. Da kam es schon mal vor, dass sich ein flaues Gefühl im Magen breitmachen konnte. Sören hielt es daher für angemessen, sich ebenfalls zurückzuziehen.
Nachdem das Schiff die letzte Flussbiegung vor Brunsbüttel hinter sich gelassen hatte, nahm Kapitän Wahlen auf Anweisung Admirals von Koester die Maschinenleistung zurück. Etwa eine halbe Meile vor der Schleusenanlage ließ er die Maschinen schließlich stoppen. Auf die Distanz war mit bloßem Auge zu erkennen, dass dort tatsächlich ein weiteres Kriegsschiff auf Reede lag. Wie es aussah, handelte es sich ebenfalls um ein Linienschiff, wahrscheinlich war es sogar ein Schwesterschiff. Das schloss Sören zumindest aus der Silhouette – Aufbauten und Geschütztürme waren genauso wie bei diesem Schiff angeordnet.
Die Kommandanten beobachteten das Schiff durch ihre Gläser. Zu gerne hätte Sören die weiteren Gespräche auf der Brücke mitbekommen, aber der Proviantmeister gab Anweisung zum Aufdecken.
Die Erbsensuppe, die Sören mit den anderen Stewards in der Offiziersmesse servierte, fand wider Erwarten reißenden Absatz. Während des Essens klärte Admiral Tirpitz die anderen Herren darüber auf, dass man im Folgenden eine kurze Begleitfahrt mit dem anderen Schiff eingehen werde. Es handelte sich tatsächlich um ein Schwesterschiff, den Kaiser Barbarossa, der über den Kaiser-Wilhelm-Kanal aus der Ostsee hierhergekommen war. Da die Kaiser-Klasse mit Fertigstellung dieses Schiffes nun vollständig sei, so von Tirpitz weiter, erhoffe man sich durch die Begleitfahrt Erkenntnisse bezüglich der unterschiedlichen Antriebe sowie gewisser anderer konstruktiver Besonderheiten beider Schiffe, die dann zu einem späteren Zeitpunkt genauer erörtert würden.
Die folgenden Gespräche der Anwesenden waren durchdrungen von allen möglichen Spekulationen, was einem auf der weiteren Fahrt noch bevorstand. Die Kapitäne tauschten sich über ihre ersten Eindrücke der Fahr- und Manövrierfähigkeiten des Schiffes aus, die Ingenieure diskutierten die konstruktiven Details, und Kapitänleutnant Strasser hielt einen kurzen Monolog über die Schiffe der zweiten Division des ersten Flottengeschwaders. Nur von Tirpitz und Admiral von Koester warfen sich beizeiten einen verschwörerischen Blick zu. Schmidlein und die Leute aus der Abteilung für Wissenschaftliches Versuchswesen hatten sich immer noch nicht blicken lassen. Langsam bezweifelte Sören, dass sie überhaupt mit an Bord waren.
Mit kleiner Fahrt schloss der Kaiser Karl der Große zu seinem Schwesterschiff auf. Man verständigte sich per Blinkzeichen von Brücke zu Brücke, dann signalisierten schwarze Wolken aus den Schornsteinen des anderen Schiffes, dass es losging. Kapitän Wahlen steuerte das Schiff in die Heckwelle des Kaisers Barbarossa. Ihr Abstand betrug ungefähr zwei Schiffslängen. Als sich die Fahrrinne verbreiterte, schwenkte der Steuermann aus dem Kielwasser des vorderen Schiffes. Die Wellen wuchsen an, und das Schiff begann zu stampfen. Die durchbrochenen Wellenkämme quittierte das Schiff mit einem Zittern, wenn eine Welle auf voller Länge durchschnitten wurde, folgte ein grollendes Krachen. Auf den Gesichtern der Anwesenden ließ sich deutlich ablesen, wer auf dem Meer zu Hause war und wer nicht. Kapitän Wahlen grinste voller Zufriedenheit, und der zukünftige Kommandant von Heeringen stand ihm in nichts nach.
«18 Knoten», verkündete Kommandant Zenker mit einem Blick auf den Geschwindigkeitsmesser. «Aber nicht über Grund.»
«Schneller kann der Barbarossa nicht», entgegnete Kapitänleutnant Strasser. «Der fährt bereits Volllast.»
«Dann wollen wir mal zum Überholen ansetzen», sagte Wahlen und forderte volle Leistung aus dem Maschinenraum.
Der Lärm wuchs ins Ohrenbetäubende. Nicht nur die Maschine ließ sich mit einem martialischen Kreischen vernehmen, sondern auch vom Rumpf des Schiffes war nun ein permanentes Stöhnen und Ächzen zu hören.
«Gleichauf mit 22 Knoten, Geschwindigkeit zunehmend.»
«Phantastisch», lobte Oberleutnant Raeder, und auch die anderen auf der Brücke schlossen sich dem mit ähnlichen Kommentaren an.
Das Schiff pflügte nur so durch die Wellen, deren Höhe Sören auf mindestens drei Meter schätzte. Wenn sie hier schon derart durchgeschaukelt wurden, wagte er nicht daran zu denken, was auf dem offenen Meer auf sie zukommen würde. Sie zogen unbeeindruckt an dem anderen Schiff vorbei.
«24 Knoten, Geschwindigkeit weiter zunehmend.»
Das Staunen auf den Gesichtern wich Beunruhigung. Einige schauten ungläubig auf Kommandant Zenker, der wie gebannt auf den Geschwindigkeitsmesser starrte. «Immer noch steigend.»
Bei 26 Knoten war Schluss. Der Vorsprung auf den Kaiser Barbarossa betrug mindestens zwei Seemeilen. Auf Höhe Cuxhaven gab Kapitän Wahlen Befehl, die Maschinenleistung langsam abzusenken, bis das andere Schiff wieder auf gleicher Höhe war, dann übergab er das Kommando mit einem Handschlag an von Heeringen. Die Umstehenden applaudierten.
In gemächlicherem Tempo ging es weiter in Richtung Helgoland. Die Wellenberge wuchsen zunehmend an, ihre Höhe betrug inzwischen bestimmt über fünf Meter. In den Wellentälern riss der Blickkontakt zwischen den Schiffen immer häufiger ab. Auf Höhe Scharhörn drosselte man schließlich das Tempo, und beide Schiffe gingen längsseits, um sich erneut per Blinkzeichen zu verständigen. Sören hatte keine Gelegenheit, das Morsefeuer zu entziffern. Er registrierte nur, dass der Kaiser Barbarossa nach diesem Stopp in Richtung Süden abdrehte, sie selbst jedoch weiter auf Kurs Helgoland blieben.
Als er dem sich entfernenden Schiff nachblickte, bemerkte Sören erst, dass an dessen Heck kein Name stand. Genau wie bei diesem Schiff. Das hatte er bereits am Morgen festgestellt, dem aber keine weitere Bedeutung beigemessen, da das Schiff ja in Wilhelmshaven seine endgültige Ausrüstung erhalten sollte. Er hatte angenommen, man würde erst dann den Schiffsnamen auf Heck und Bordwände malen. Ein Trugschluss, wie er sich jetzt eingestehen musste, denn der Barbarossa war ebenfalls namenlos, und beide Schiffe glichen sich wie ein Ei dem anderen. Das war ganz offensichtlich kein Zufall, zumal der Barbarossa die Route eingeschlagen hatte, die ursprünglich für dieses Schiff vorgesehen gewesen war: Wilhelmshaven. Dem Gespräch zwischen von Tirpitz und Admiral von Koester hatte er ja bereits entnehmen können, dass sie ein anderes Ziel als das geplante ansteuern würden. Was führte man im Schilde, und wohin fuhr das Schiff? Sören brauchte nicht lange zu rätseln.
«Meine Herren», begann von Tirpitz kurz darauf, «ich möchte Ihnen genauer darlegen, was wir im weiteren Verlauf der Fahrt zu tun beabsichtigen und warum wir das Schiff nicht, wie ursprünglich geplant, in den kaiserlichen Marinehafen von Wilhelmshaven überführen werden.»
Auf den Gesichtern der Anwesenden zeichnete sich Überraschung und auch ein wenig Beunruhigung ab. «Sie brauchen keine Bedenken zu haben, was Ihren Rücktransport betrifft», ergänzte er. «Dafür haben wir bereits Sorge getragen. Sie werden Hamburg wie geplant mit einem Zug erreichen, nur eben nicht von Wilhelmshaven aus.»
Er wartete einen Augenblick, aber niemand machte Anstalten, Einwände zu erheben. «Wie Sie ja inzwischen mitbekommen haben, handelt es sich bei dem hiesigen Schiff um kein gewöhnliches Linienschiff. Es wurde auf unseren Wunsch mit einigen Besonderheiten ausgestattet. Darauf werde ich gleich noch im Einzelnen zurückkommen. Auf jeden Fall ist es nicht in unserem Sinn, dass die Neuerungen und technischen Details an die Öffentlichkeit gelangen. Wie Sie sicher wissen, wird unsere Flottenrüstung von fremden Nationen scharf beäugt. Insbesondere England hat großes Interesse daran, über jedwede Entwicklung und die technischen Details unserer Schiffe auf dem Laufenden zu sein. Wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass unsere militärischen Häfen auch von fremden Augen sehr genau beobachtet werden, und unsere Linienschiffe lassen sich allein aufgrund ihrer Größe kaum vor diesen Blicken verbergen. Das Schiff, das am späten Nachmittag bei einsetzender Dämmerung vor Wilhelmshaven auf Reede gehen wird und erst bei Dunkelheit in den Hafen überführt werden soll, wird sich diesen fremden Blicken als der neue Kaiser Karl der Große zu erkennen geben.»
Ein sanftes Raunen machte sich unter den Männern auf der Brücke breit.
«Da wir davon ausgehen müssen, dass nicht nur die militärischen Anlagen in Wilhelmshaven, sondern alle Marinehäfen und deren Werften unter genauester Beobachtung stehen, hat sich der Marinestab dazu entschlossen, einen großen Teil des Marinebauprogramms an private Werften abzugeben – zusätzlich zum bisherigen Programm, versteht sich. Durch diese Maßnahme werden wir die Flottenstärke in den nächsten fünf bis sechs Jahren um schätzungsweise zehn Prozent gegenüber dem offiziellen Bauprogramm steigern können.
Sie werden sich jetzt sicherlich fragen, wie das zu finanzieren ist, aber ich kann Sie beruhigen. Für die Finanzierung ist natürlich gesorgt, die nötigen Gelder werden dem Reich als Darlehen von führenden Institutionen aus Wirtschaft und Industrie zur Verfügung gestellt, die, wie jeder im Reich, von unserem Flottenbauprogramm profitieren.»
Dem nun einsetzenden Gemurmel zollte von Tirpitz mit einer kurzen, rhetorischen Pause Tribut, dann setzte er seinen Vortrag fort.
«Um das zusätzliche Bauprogramm der Marine so lange wie möglich vor fremden Augen zu verbergen, wurde uns vonseiten der beiden größten deutschen Handelsreedereien Unterstützung in der Form zugesagt, dass die Neubauten offiziell als deren Kiellegungen von in Auftrag gegebenen Handelsschiffen deklariert werden können. Zusätzlich zu dieser Maßnahme werden wir die Einführung neuester technischer Entwicklungen, wie sie erstmals an diesem Schiff durchgeführt wurden, in Zukunft vorrangig beim Bau Seiner Majestät Schiffe auf Privatwerften vornehmen lassen.»
Sören stockte der Atem. Das, was er gerade gehört hatte, übertraf nicht nur seine Erwartungen, nein, es erklärte auch fast alles, worüber er sich gemeinsam mit Martin den Kopf zerbrochen hatte. Plötzlich bekam alles einen Sinn, die geheimen Konten, die Rolle von Ballin und seine Geheimniskrämerei, als er ihn auf die Schichau-Werft angesprochen hatte, Ottes Unterlagen, die vielleicht brisante Informationen enthielten, die nur ein Eingeweihter zu deuten in der Lage war. Sehr wahrscheinlich lag darin auch der Grund, warum man Waldemar Otte ermordet hatte.
«Ich darf nun das Wort an Admiral Hans von Koester weitergeben, der so freundlich sein wird, Sie über einige weitere Details dieses neuen Schiffes aufzuklären.»
Von Koester trat vor und dankte von Tirpitz für seine Erklärung, dann wandte er sich zunächst an den Schiffsführer und gab ihm Anweisung, einen bestimmten Kurs in Richtung Nordfriesische Inseln einzuschlagen. Nachdem Kapitän von Heeringen dem Wunsch nachgekommen war und die Geschwindigkeit auf 20 Knoten Fahrt erhöht hatte, taumelte das Schiff nur so durch die Wellen, und alle auf der Brücke griffen unwillkürlich nach einem sicheren Halt.
«Keine Angst, meine Herren», begann von Koester, der selbst ebenfalls bemüht war, die rollende Schiffsbewegung mit Ausfallschritten abzufangen, «genau um dieses Phänomen geht es uns. Wenn alles nach Plan verläuft, und daran hege ich ehrlich gesagt keinen Zweifel, dann wird sich das Fahrverhalten des Schiffes in absehbarer Zeit stabilisieren, und zwar durch eine konstruktive Neuerung. Wir haben die kleine Havarie auf der Elbe, welche die geplante Übergabe des Schiffes letztes Jahr verhinderte und umfangreiche Reparaturarbeiten notwendig werden ließ, zum Anlass genommen, den Rumpf des Schiffes mit einer besonderen, von der Werft entwickelten Einrichtung zu versehen.
Ich darf Ihnen nun Herrn Frahm, den Leiter der Abteilung für Wissenschaftliches Versuchswesen bei Blohm + Voss, vorstellen, auf dessen Idee die Konstruktion zurückzuführen ist und der uns jetzt von der Effektivität seiner Erfindung überzeugen wird.»
Der Angesprochene betrat im selben Moment die Brücke, und in seinem Gefolge entdeckte Sören endlich auch Willi Schmidlein, der sich Mühe gab, nicht in seine Richtung zu schauen. Frahm besprach sich kurz mit Oberingenieur Dreyer vom Kriegschiffbaubüro der Werft, dann ergriff er das Wort und erläuterte den Anwesenden, was im Folgenden geschehen würde. Zuerst wolle man sich von der Funktion und den tatsächlichen Auswirkungen der Konstruktion überzeugen, und erst dann werde er die technischen Details erläutern.
Frahm stellte sich neben den Kommandostand und gab mit dem Umlegen eines Hebels auf dem Steuerpult anscheinend einem seiner Mitarbeiter im Maschinenraum oder sonst wo im Schiff ein Signal. Zuerst passierte überhaupt nichts, aber nach einigen Minuten hatte man den Eindruck, dass sich die Lage des Schiffes irgendwie veränderte. Es machte den Eindruck, als wollte sich das Schiff den mächtigen Wellen, die den Rumpf bislang ununterbrochen hin und her pendeln ließen, entgegenstemmen. Ganz langsam wurde man gewahr, dass sich die Neigung des Schiffes zu verringern schien. Dabei hatten weder Kraft noch Höhe der Wellen abgenommen. Ganz im Gegenteil, immer mehr Brecher schwappten über das Vorschiff bis zu den Aufbauten, und selbst die Basis des großen Geschützturmes wurde teilweise von Wasser umspült. Dennoch war nicht von der Hand zu weisen, dass das Schiff in den Wellentälern weniger Krängung hatte als zuvor. Frahm nickte zufrieden. Anscheinend funktionierte alles so, wie es geplant war. Wenige Minuten später war dann für jeden offensichtlich, dass von der Rollbewegung des Schiffes nur ein träges Stampfen übrig geblieben war. Die raue See schien sich am Rumpf des Schiffes selbst aufzureiben. Von einer wirklich ruhigen Fahrt konnte zwar immer noch keine Rede sein, aber ein Blick auf die herandonnernden Wellenberge ließ so etwas auch nicht wirklich erwarten.
«Wir nennen es Schlingertanks», erklärte Frahm seiner erstaunten Zuhörerschaft, «und mit Genugtuung stelle ich fest, dass es noch besser funktioniert, als ich dachte.»
«Sie haben etwas in dieses Schiff eingebaut, dessen Auswirkung vorher nicht bekannt war?», fragte einer der Herren entgeistert.
Erst dachte Sören, das selbstsichere Lächeln sei alles, was Frahm dem Einwand entgegenzusetzen hatte, aber nach einer Weile, in der sich das Schiff anscheinend noch mehr zu stabilisieren schien, erklärte er: «Schlimmstenfalls hätte man keinen Unterschied gemerkt. Jedenfalls nichts Nachteiliges. Ich will Ihnen das Prinzip der Schlingertanks kurz erläutern. Es handelt sich dabei um große Ballasttanks, die wir auf der Innenseite der Bordwände angebracht haben. Über mehrere Steigleitungen sind die Ballasttanks miteinander verbunden, und das Wasser kann ab einer bestimmten Neigung des Schiffes von der einen zur anderen Seite überlaufen. Die Verzögerung der Ballastverschiebung und das vorhandene Trägheitsmoment sorgen dafür, dass der Ballastanteil in dem Moment genau an der Seite am größten ist, wo er gebraucht wird, um der Wellenkraft entgegenzuwirken. Die Fließgeschwindigkeit zwischen den gegenüberliegenden Ballasttanks kann über mehrere Ventile und Stauklappen gesteuert werden. Um Ihnen die Wirkung noch einmal zu demonstrieren, erlaube ich mir nun, die Ventile erneut schließen zu lassen.»
Frahm betätigte abermals den Hebel auf der Schalttafel, und es dauerte wieder einen Moment, bis sich eine Veränderung einstellte. Nach wenigen Minuten begann das Schiff mit seiner ursprünglichen Rollbewegung durch die Wellentäler zu taumeln, wobei man nun den Eindruck hatte, dass sich die Krängung deutlich verstärkt hatte.
Admiral von Tirpitz ergriff das Wort. «Vielen Dank für diese sehr anschauliche Demonstration, Herr Frahm. Meine Gratulation. Wenn Sie so freundlich wären, nun die Verbindung zwischen den Tanks wieder zu öffnen …» Die meisten Anwesenden nickten zustimmend.
«Meine Herren, wir waren soeben Zeugen der ersten Erprobung einer technischen Errungenschaft, deren Auswirkung den Schiffbau zwar nicht revolutionieren wird, aber dessen Vorteile doch wohl klar auf der Hand liegen. Abgesehen davon, dass die Verwendung dieser Tanks das Wohlbefinden sowohl von Besatzung als auch von Passagieren auf Schiffen in schwerer See steigert, versprechen wir uns durch die Einführung auf Seiner Majestät Schiffe vor allem Vorteile hinsichtlich der Zielerfassung und Ausrichtung der Geschützplattformen.
Nun verstehen Sie vielleicht den Grund unserer Geheimniskrämerei, denn wir haben durchaus die Absicht, zukünftig alle Neubauten der Flotte mit dieser Technik auszurüsten, was uns eine deutliche Überlegenheit gegenüber herkömmlichen Kreuzern und Linienschiffen sichern wird. In Verbindung mit der Turbinentechnologie sowie der neuesten Generation der Kruppschen Geschütze werden die Schiffe Seiner Majestät Flotte nicht nur schneller und manövrierfähiger als jedes vergleichbare Schiff einer fremden Nation sein, sondern dazu noch über eine größere Geschossreichweite und eine bessere Zielgenauigkeit verfügen.» Die Anwesenden spendeten Tirpitz’ Worten spontanen Applaus.
Während der weiteren Fahrt konzentrierte man sich auf die Manövrierfähigkeit des Schiffes, das mit aktiven Schlingertanks auf allen Kursen tatsächlich erstaunlich ruhig lag. Bis auf die Kommandanten und einige Ingenieure hatten fast alle die Brücke verlassen und sich in unterschiedliche Bereiche zurückgezogen. In der Mannschaftsmesse wurde Aal grün aufgetischt, aber der Appetit der meisten Anwesenden hielt sich in Grenzen. Nur die gestandenen Seebären griffen herzhaft zu und ließen es sich schmecken.
Eine knappe Stunde später wurde die Rückfahrt eingeleitet, und das Schiff drehte wieder in Richtung Elbmündung ab. Sören hatte inzwischen heraushören können, dass man den Kaiser Karl der Große nach Einbruch der Dunkelheit über den Kaiser-Wilhelm-Kanal in die Ostsee überführen wollte. Den genauen Zielhafen kannte er zwar nicht, aber er hatte erfahren, dass zumindest Teile des Marinestabes sowie Seine Majestät mit einem Sonderzug von Kiel aus via Hamburg nach Berlin zurückreisen würden. Was mit der Werftbelegschaft geschah, war noch offen.
Bislang hatte sich für Sören keine Gelegenheit ergeben, mit Schmidlein ins Gespräch zu kommen. Worüber hätte er sich mit ihm auch austauschen sollen. Bei allem, was er erfahren hatte, konnte ihm Schmidlein keine Hilfe sein. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr bezweifelte Sören, dass ihm überhaupt jemand helfen oder zur Seite stehen konnte. Wobei auch? Letztendlich war die Flottenrüstung Sache der Reichspolitik und damit jedem Einfluss von außen entzogen. Ganz ohne Frage war es gefährlich, was von Tirpitz und sein Stab vorhatten. Zudem belog man die Öffentlichkeit. Auch wenn man manches mit dem Argument der militärischen Geheimhaltung begründen konnte, streng genommen war ihr Handeln nicht legitim. Aber Sören sah keine Möglichkeit, dem entgegenwirken zu können, der Gang an die Öffentlichkeit würde aller Wahrscheinlichkeit nach den Tatbestand des Landesverrats erfüllen.
Sören fühlte sich niedergeschlagen und ohnmächtig. Vielleicht hatte Martin eine Idee, was man tun konnte. So lange blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als gute Miene zu bösem Spiel zu machen und sich nichts anmerken zu lassen.
Während er darüber nachdachte, ob und wann sie heute Abend nach Hamburg zurückkommen würden, forderte das Schlagen der stählernen Tür zum Seitendeck Sörens Aufmerksamkeit. Als er die Tür schließen wollte, stand er plötzlich Wilhelm II. gegenüber, der ihn verlegen anblickte. Es war nicht zu übersehen, was geschehen war, denn Aufschläge und Bart Seiner Majestät wiesen einige Verunreinigungen auf. Sören konnte sich ein Grinsen nur mühsam verkneifen, nicht deswegen, weil sich der Kaiser über die Bordwand erleichtert hatte, sondern weil er die falsche Seite gewählt hatte. Kotzen nach Luv war ein kapitaler Anfängerfehler. Sören ließ sich nichts anmerken, zog ein Taschentuch hervor und tupfte wortlos den Rock Seiner Majestät sauber.
«Mich quält schon seit Tagen einer dieser widerlichen Infekte», erklärte Wilhelm II. und nahm das Taschentuch entgegen, um sich die Essensreste aus dem Gesicht zu wischen. «Am besten werde ich mich für den Rest der Fahrt in meine Kabine zurückziehen.»
Sören begleitete ihn bis in den Gang, von dem aus die zukünftigen Offizierskabinen abgingen. Die Frage, ob er ihm noch etwas bringen könne, verneinte Seine Majestät, dankte Sören für dessen Aufmerksamkeit und Diskretion und schloss die Kabinentür.
Während Sören den Gang zurück zur Offiziersmesse ging, merkte er, dass sich anscheinend mehrere der Gäste hierher zurückgezogen hatten, zumindest waren hinter einigen Türen Stimmen zu vernehmen. Eine davon gehörte zu Admiral von Koester. Sein sonorer Bariton war sofort herauszuhören. Als Sören den Namen Otte zu verstehen glaubte, schnellte sein Herzschlag in die Höhe. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb vor der entsprechenden Tür stehen. Die zweite Stimme gehörte von Tirpitz, zudem war noch eine weitere Person im Raum, deren Stimme Sören nicht zuordnen konnte. Vorsichtig blickte er sich um, außer ihm war niemand auf dem Gang. Es war ein Risiko, aber wenn man ihn entdeckte, dann konnte er immer noch anklopfen und sich nach dem Wohlbefinden der Männer erkundigen. Sören presste sein Ohr gegen die Tür.
«Haben wir inzwischen eine Rückmeldung von der Schichau-Werft?»
«Ja, zuerst gab man sich wortkarg, aber nachdem ich den Herren die Ernsthaftigkeit der Situation erläutert habe, zeigte man erwartungsgemäß Gesprächsbereitschaft. Ich habe ihnen deutlich zu verstehen gegeben, dass sich die zukünftige Auftragsvergabe an die Werft durchaus ändern könnte, wenn man nicht einlenken würde.»
«Und falls sich so etwas in Zukunft wiederholen sollte?»
«Genau. Man gibt sich dort natürlich unschuldig. Angeblich wurden die Unterlagen gestohlen. Letzten Endes bleibt unklar, ob der Mann mit Wissen der Werftleitung agierte oder ob es ein Alleingang war. Offiziell hat dieser Otte nichts mit dem Rüstungsbetrieb der Werft zu tun. Gleichwohl war er beauftragt, mit der Hapag über ein Entgegenkommen bezüglich dieses Passagierdampfers in Verhandlungen zu treten. Dass der Mann in diesem Zusammenhang unterschwellig versucht hat, Ballin zu erpressen, davon will man natürlich keine Kenntnis gehabt haben.»
«Wir wissen, dass dieser Otte das Material an die Engländer verkaufen wollte.»
«Ja, aber wir haben es nur einem Zufall zu verdanken, dass der geplante Handel aufgeflogen ist und wir Schlimmeres verhindern konnten. Der Mann wusste nämlich nicht, dass der Besitzer der englischen Werft, dem er das Material angeboten hat, gut mit Ballin bekannt ist. Natürlich hat der sofort mit Ballin Kontakt aufgenommen, um die Hintergründe zu ermitteln, schließlich liegen die Rechte des Turbinenantriebs bei einer englischen Firma.»
«Von den Versuchen mit den Ballasttanks hatte er demnach keine Kenntnis?»
«Soviel wir bislang wissen, wohl nicht. Ballin wird uns aber auf dem Laufenden halten. Der Besuch des Engländers bei ihm ist auch der Grund, warum er bei der heutigen Fahrt nicht anwesend sein kann. Er ist natürlich untröstlich …»
«Dann ist ja zu hoffen, dass sich das Blatt noch zum Guten wendet.»
«Ja. Bleibt nur die Frage, wie wir an den restlichen Teil der Unterlagen von diesem Otte herankommen. Auch wenn wir nicht genau wissen, was er alles mit sich geführt hat, dürfen wir kein Risiko eingehen. Es wäre fatal, wenn das Material in falsche Hände gelangen würde. Von Bachtingen, wie weit sind Sie in der Sache?»
«Sie können sich ganz auf mich verlassen, Admiral. Wie Sie wissen, habe ich einen zuverlässigen Mann vor Ort, und der kümmert sich. Die Angelegenheit mit diesem Waldemar Otte hat er ja auch zu unserer Zufriedenheit gelöst. Dass ihm dieser Hamburger Advokat dazwischengekommen ist, nun, das können wir ihm nicht anlasten. Er hält sich jedenfalls an die Abmachung, so wenig Staub wie möglich aufzuwirbeln, und er hat mir zugesagt, dass er entsprechende Maßnahmen in die Wege leiten wird, sodass wir das Material spätestens zum Ende der Woche in den Händen haben.»
«Sehr gut, Herr Feldwebel, sehr gut. Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Wenn Sie uns nun kurz entschuldigen würden, aber ich habe mit von Koester …»
Sören wich von der Tür zurück und schlich sich auf leisen Sohlen so schnell wie möglich davon. Sekunden später wurde hinter ihm die Tür geöffnet. Den Mann mit den silbernen Knöpfen am Rock, die ihn als Marineoffizier einer Landdivision zu erkennen gaben, hatte er zuvor noch nicht gesehen. Sören verhielt sich so unauffällig wie möglich, aber der Feldwebel schien so oder so keine Notiz von ihm zu nehmen.
Durch die Dinge, die er soeben erfahren hatte, lag alles eigentlich offen zutage, aber in seinem Kopf tobte das Chaos. Über allem schwebte Angst – die Angst davor, was ihn in Hamburg erwartete. Der Feldwebel hatte von entsprechenden Maßnahmen gesprochen. Egal, was darunter zu verstehen war, Martin schwebte in höchster Gefahr. Der Mann vor Ort, der scheinbar für die Schmutzarbeit dieser Herren zuständig war, hatte schon einen Menschen getötet. Sören brauchte nicht lange zu überlegen, wie er am schnellsten von diesem Schiff kam. In wenigen Minuten würde man die Schleusenanlage von Brunsbüttel erreichen. Egal wie, er musste so schnell wie möglich nach Hamburg. Vielleicht war es noch nicht zu spät.