Der Schulfreund

Die Temperaturen waren immer noch viel zu mild für die Jahreszeit, aber der Nordwestwind hatte wie angekündigt zugelegt, und Sören bereute es deshalb nicht, das Fahrrad zu Hause stehen gelassen zu haben. Außer ihm war an der Haltestelle kein weiterer Fahrgast zugestiegen, er konnte somit ausschließen, dass ihm jemand folgte. Die Fahrt über hatte er spekuliert, ob der Wintereinbruch noch kommen würde. Ilka hatte sich so auf den Schnee gefreut, der bislang ausgeblieben war. Wenn man von den vereinzelten Flocken absah, die vor ein paar Wochen vom Himmel gerieselt waren und den Boden für wenige Minuten bedeckt hatten, dann hatte die Natur die weiße Jahreszeit in diesem Jahr einfach übersprungen. Bei diesen Gedanken fiel Sören abermals ein, dass der Besuch auf der Eisbahn immer noch ausstand. Er verdrängte die familiären Verpflichtungen von Tag zu Tag mehr – aber war das ein Wunder bei dem, was um ihn herum geschah?

Willi Schmidlein hatte wie vereinbart seine Aussage gemacht. Sören hatte es so arrangiert, dass er sich mehr oder weniger zufällig in dessen Nähe aufhalten konnte, aber seine Sorge, dass man Schmidlein wider Erwarten hätte arrestieren können, war unbegründet gewesen. Alles war so gelaufen, wie Sören es stillschweigend erhofft hatte. Allerdings bezweifelte er, dass die Staatsanwaltschaft ihre Anklage aufgrund dieser Aussage fallen ließ. Mit Dr. Göhle zu sprechen war noch zu früh, auch wenn es Sören in den Fingern juckte. Jetzt hieß es erst einmal, Geduld zu bewahren. Schmidlein hatte wohl zwischenzeitlich mit Peter Schulz gesprochen und versucht, ihn ebenfalls zu einer Aussage zu überreden. Aber anscheinend war er mit diesem Vorschlag abgeblitzt. Das hatte zumindest seine Reaktion verraten, als Sören ihn darauf angesprochen hatte. Eine weitere Zeugenaussage hätte die Situation eindeutig zu Davids Vorteil verschoben, aufgrund des Vorstrafenregisters von Peter Schulz war es aber durchaus nachvollziehbar, dass er sich dem verweigerte. David ging es nicht schlecht, den Umständen entsprechend. Er war guten Mutes, als Sören ihm berichtete, dass sein Kumpan eine Aussage gemacht hatte. Mehr Details hatte er ihm nicht verraten – auch, um ihn nicht zu verunsichern.

Willi Schmidlein war inzwischen auf dem Weg zur Werft, um seine Anstellung zu besiegeln, und Sören überlegte, ob es wirklich sinnvoll war, die Einladung seines ehemaligen Schulkameraden gerade heute in Anspruch zu nehmen. Die schlaflose letzte Nacht machte sich bemerkbar. Immer wieder war er aufgewacht und hatte sich mit der Frage gequält, was er übersehen hatte. Vor allem die Frage, was Simon Levi und Waldemar Otte in der Thalstraße zu suchen gehabt hatten, ließ ihm keine Ruhe. War es Zufall, dass sie beide in der Silvesternacht am gleichen Ort gewesen waren, oder hatten sie sich womöglich sogar gekannt? Wenn dem so war, dann hätte die Anzeige von Otte anders aussehen müssen. Er hatte gesehen, wie Levi von David und den anderen Männern niedergeschlagen worden war. Deshalb war die Suche nach den Tätern auch gezielt gewesen. Aber er konnte nicht gesehen haben, wer Levi getötet hatte. Sonst hätte er David nicht identifiziert. Nach allem, was er nun wusste, und Sören zweifelte keinen Augenblick mehr an der Version, die David und Willi Schmidlein ihm erzählt hatten, war Levi der Frau hinterhergelaufen oder zumindest in die gleiche Richtung verschwunden. Er war also noch am Leben gewesen. Wenn man nun annahm, dass er einer betrügerischen Hure aufgesessen war, dann konnte es nur so sein, dass er kurze Zeit später mit deren Zuhälter aneinandergeraten war, der ihn erschlagen hatte. War das ebenfalls in diesem Hof geschehen, oder hatte man den Toten dort nur versteckt? Wenn ja, warum genau dort? Um die Spur auf einen anderen zu lenken? Auf die Gruppe von jungen Männern, die man zuvor beobachtet hatte, als sie eine Auseinandersetzung mit Levi gehabt hatten? Weil man wusste, dass dieser Kampf von einem Zeugen beobachtet worden war? Hatte Waldemar Otte womöglich bewusst eine Falschaussage gemacht, um jemand anderen zu schützen? Oder steckte er gar mit dem Täter unter einer Decke? Kam er selbst als Täter in Frage? Sörens Gedanken schossen schon wieder wirr durcheinander, wie letzte Nacht. Das ergab alles überhaupt keinen Sinn, und er versuchte erneut, sich von solchen Überlegungen zu befreien.

Was blieb, waren die Informationen, die er von Schmidlein über die Tätigkeiten auf den Werften und die zurzeit im Bau befindlichen Schiffstypen erhalten hatte. Die technischen Angaben und Maße in Ottes Unterlagen passten demnach nicht zusammen. Zumindest nicht, wenn es sich um einen Bau für die Marine handelte. Für einen Passagierdampfer war die Länge zwar zu gering, aber vielleicht handelte es sich um ein Schiff für ein ganz spezielles Einsatzgebiet. Die Hapag und auch der Lloyd waren dabei, sich immer stärker zu spezialisieren. Sören hatte die Kreuzfahrtschiffe vor Augen. Vielleicht plante man eine Schnellverbindung nur für ein zahlungskräftiges Publikum. Oder plante man insgeheim doch, die Wettfahrten über den Atlantik erneut aufzunehmen? Dazu würde auch die Geschwindigkeit von 24 Knoten passen, von der die Rede war. Ballin hüllte sich in Schweigen, und Sören bezweifelte, dass hierzu noch etwas aus ihm herauszubekommen war. Aber wenn die Hapag tatsächlich etwas in Planung hatte, wovon die Öffentlichkeit – aus welchem Grund auch immer – vorerst nichts erfahren durfte, dann stellte sich die Frage, wie lange die Geheimhaltung eines solchen Projektes aufrechterhalten werden konnte, denn Schiffe in der vorliegenden Größenordnung ließen sich nicht unbemerkt bauen.

Wenn ein Nichteingeweihter von solchen Plänen etwas wissen konnte, dann war es Adolph Woermann. Als Reeder sollte er einen Überblick darüber haben, welche Konkurrenz es derzeit auf den Weltmeeren gab, und Adi hatte zudem jahrelang im Aufsichtsrat von Blohm + Voss gesessen. Die Hamburger Werft tauchte ebenfalls im Verteiler von Ottes Briefen auf. Allein deshalb war es möglich, dass Woermann von den Dingen Kenntnis hatte.

Wie häufig Sören bereits am Firmensitz der Woermann-Linie vorbeigegangen war, vermochte er nicht zu sagen. Heute war es jedenfalls das erste Mal, dass er das neue Kontorhaus in der Großen Reichenstraße genauer in Augenschein nahm. Normalerweise eilte man über die Bürgersteige einem Ziel entgegen, schaute auf die Menschen in den Straßen und wagte einen Blick in die Schaufenster und Auslagen der Geschäfte, aber die Architektur der Häuser und ihre neuerdings kunstvoll gestalteten Fassaden nahm man nur wahr, wenn die Gebäude an exponierter Stelle standen oder in der Blickachse auf eine andere städtebauliche Besonderheit lagen, wie etwa das Rathaus, die Kunsthalle, die Seewarte mit dem Hafenblick am Stintfang oder das Panorama der Alster.

Seinen neuen Firmensitz hatte sich Adolph Woermann von Martin Haller bauen lassen. Von wem sonst? Es war allerdings etwas Besonderes, wenn man den Rathausbaumeister privat beauftragte – in gewissen Kreisen war es aber auch verpflichtend, wenn man etwas auf sich hielt. In dieser Hinsicht hatte sich Adi nicht die Butter vom Brot nehmen lassen, schließlich hatte Haller auch den zwei Jahre zuvor fertiggestellten Neubau der Laeisz-Reederei, den Laeiszhof an der Trostbrücke, errichtet. Klar, dass Adi da nicht zurückstehen wollte. Aber im Gegensatz zu Hallers sonstigen Bauten sah das Afrika-Haus, so der bezeichnende Name, der in großen Lettern über dem Eingang stand, völlig anders aus. Und das Kontorhaus der Reederei Woermann stand gerade nicht an einer Stelle, wo man ihm aufgrund seiner Lage automatisch Beachtung schenkte. Ins Auge sprang es einem dennoch – aber eben nur, wenn man sich die Mühe machte und den Kopf hob.

Die Fassade an sich war ein Kunstwerk. Das Erdgeschoss, dessen Sockel granitverkleidet war, wirkte noch unauffällig, genau wie sich die Breite des Hauses in der Straßenflucht kaum von der der alten, schmalen Hamburger Bürgerhäusern unterschied. Aber der Rest der Fassade war spektakulär. Die Obergeschosse waren mit weiß glasierten Backsteinen verkleidet, und zwischen den Fensterbahnen waren ebenfalls glasierte Schmucksteine in den Farben der Woermann-Linie Grün-Blau-Weiß zu rautenförmigen Mustern angeordnet. Etwas Vergleichbares hatte Sören im Hamburger Stadtbild bislang noch nicht gesehen.

Der Eingang, der gleichzeitig die Durchfahrt zum Innenhof aufnahm, wurde von einem lebensgroßen afrikanischen Krieger aus Bronze bewacht. Sören fühlte sich unangenehm beobachtet, als er an der Figur in Richtung des schmiedeeisernen und mit Palmenmotiven verzierten Tores vorbeiging. Es wirkte, als verfolgte ihn der Krieger mit seinem Blick. Sören hielt inne und schaute der bronzenen Statue in die Augen. Nach einem kurzen Moment der Besinnung wusste er, was ihn an der Figur gestört hatte. War es Zufall, oder trug der afrikanische Krieger tatsächlich die Züge von Dr. Paetzold? Sören musste unweigerlich grinsen. Eine solche Schelmerei hätte er Adi nicht zugetraut. Es war das Erste, wonach er seinen ehemaligen Klassenkameraden fragen wollte. Dann fiel ihm ein, dass er nicht einmal wusste, ob Woermann überhaupt im Hause war.

Am Ende des langen und schmalen Innenhofes sah sich Sören zwei riesigen Elefanten gegenüberstehen. Natürlich waren auch sie aus Bronze gefertigt und flankierten das hintere Portal auf beeindruckende Weise. Es sah aus, als wenn sie aus der Mauer hervortreten würden. Die Wandfläche über dem Eingang zierte ein imposantes Mosaik, ebenfalls mit afrikanischen Bildmotiven. Angesichts dieses gewaltigen Bau- und Figurenschmucks konnte es für niemanden eine Frage sein, womit die Firma Woermann Handel trieb.

 

«Du hast unseren alten Pauker also tatsächlich erkannt?» Woermann klopfte Sören anerkennend verschwörerisch auf die Schulter. «Niemandem ist das bisher aufgefallen. Und jedem, was er verdient. Ich habe einen Neger aus ihm gemacht.» Er grinste spitzbübisch. «Wo der alte Paetzold mir doch stets nachsagte, dass ich von Geografie keinen Schimmer hätte. Ein schwaches ‹ausreichend› war alles, was ich ihm in der Prüfung abringen konnte. Nun, und da ging es um den Schwarzen Kontinent.»

«Damals war wohl noch nicht vorauszusehen, was aus dir einmal werden würde. Ich glaube, heute hätte er sich dir gegenüber anders verhalten, wäre vielleicht sogar stolz darauf, was aus seinem ehemaligen Schüler geworden ist. Ich hatte im Gegensatz zu dir nie Probleme mit ihm. Aber was soll’s, er ist längst unter der Erde, und nun hast du ihm ein Denkmal gesetzt. Unabhängig davon finde ich das Ensemble hier wirklich bemerkenswert. Vor allem die Fassade hat mich beeindruckt.»

«Danke für die Blumen.» Woermann saß mit stolz geschwellter Brust da. «Weißt du, was ich Haller zahlen musste, damit er’s macht?» Ein mächtiges Lachen ging durch den Raum. «Er wollte mir von Anfang an seinen Renaissancefirlefanz andrehen. Von der Idee, unsere Firmenfarben in die Fassade zu integrieren, noch dazu hochglänzend, war er alles andere als begeistert. Aber ich bin stur geblieben. Und ich finde, es hat sich gelohnt. Die glasierten Backsteine mussten extra angefertigt werden und waren sündhaft teuer. Ich glaube, es hat ihn irgendwie amüsiert, dass ich wegen meiner Sturheit extratief in die Taschen greifen musste.»

Sören fragte sich, warum Adi dann keinen anderen Architekten genommen hatte, aber die Antwort konnte er sich selbst geben. Für einen Woermann musste es eben ein Martin Haller sein. Dennoch war es ihm sympathisch, wie Adi an seiner Vorstellung festgehalten hatte – und die Umsetzung gab ihm recht. Das Haus war wirklich einzigartig.

Woermann war ausgesprochen guter Laune. Sein brummiger Bariton hatte sich über die Jahre nicht verändert. Auch das kräftige Lachen, das im Wechsel dazu immer eine Zeit im Raum zu schweben schien, war noch das alte. Beides passte zu seiner mächtigen Erscheinung. Adi hatte seinen Vollbart etwas gestutzt, was ihn jünger aussehen ließ. Sein scharfer Blick, der ihm eine charismatische Strenge verlieh und von Leuten, die ihn nicht kannten, oft falsch interpretiert wurde, stand ganz im Gegensatz zu seinem eigentlichen Wesen. Sören wusste um sein weiches Gemüt, das viele ihm kaum zugetraut hätten. Zudem saß ihm der Schalk im Nacken. Andererseits war Woermann ein Mann klarer Worte, er war jemand, der es nie nötig gehabt hatte, lange um den heißen Brei herumzureden. Diese Direktheit hatte ihm nicht nur den Ruf des stolzen, aber störrischen Hanseaten eingebracht, sondern auch den eines kompromisslosen Geschäftsmannes. Sören konnte sich gut vorstellen, dass er als Verhandlungspartner ein schwerer Brocken sein konnte. Diplomatie war seine Sache jedenfalls nicht.

Sören hatte das Gespräch wie zufällig auf Ballin und die Hapag gelenkt. Eigentlich hatte er nur wissen wollen, ob die Schnellpassagen der Reederei sowie die Wettfahrten gegen den Norddeutschen Lloyd wirklich beendet waren, wie Ballin behauptet hatte. Woermann quittierte das mit einem spöttischen Grinsen und dem Hinweis auf den Hapag-Dampfer Deutschland, der vor zwei Jahren vom Stapel gelaufen und so kompromisslos auf Geschwindigkeit getrimmt worden war, dass man ihm wegen seiner Schlingerbewegungen schnell den Spitznamen The Cocktail Shaker gegeben hatte, aber dann kam Adi von sich aus auf ein ganz anderes Thema zu sprechen, und seine Stimme klang plötzlich ganz vertraulich. «Nein», begann er auszuholen, «Ballin plagen zurzeit ganz andere Sorgen. Ein Krake greift nach seinem Unternehmen.» Wieder dieses spitzbübische Lächeln. «Dabei ist es ja genau genommen nicht seins. Es heißt zwar in der Stadt, er sei die Hapag und die Hapag sei Ballin, und ich will die Hochachtung darüber, was die kleine Knollennase aus der Hapag gemacht hat, nicht schmälern, aber die Hapag gehört ihm nicht. Und das Unternehmen ist in meinen Augen keine Reederei mehr. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinn, wie unser Familienbetrieb, wie die Laeisz-Reederei … Und Ballin ist nur ein Angestellter, das sollte man nicht vergessen. Macht er einen Fehler und wird entlassen, dann hat er nichts. Gut, bislang hat er ein glückliches Händchen gehabt, aber glaubst du wirklich, es ist nur seinem Geschick zu verdanken, dass aus der Hapag die größte und bekannteste Linie auf den Weltmeeren wurde? Er hat das Schiff anfangs mit viel Fleiß auf den richtigen Weg gebracht, richtig. Aber das stete Wachstum und die Gier des kleinen, ehrgeizigen Juden haben einen Moloch entstehen lassen, der nicht mehr allein durch betriebliche Interessen zu steuern ist. Ein Unternehmen dieser Größenordnung ist nicht nur für das Reich ein Aushängeschild allererster Güte, sondern immer auch ein politisches Werkzeug.» Er zwinkerte Sören wissend zu. «Dazu noch ein sehr wirkungsvolles, denn hinter einer Aktiengesellschaft kann man sich verstecken, solange die Namen der Aktionäre nicht veröffentlicht werden.» Woermann blickte Sören fragend an.

«Mir ist bekannt, dass die Reichspostdampferlinien von Hapag und Lloyd vom Reich subventioniert werden», entgegnete Sören. «Aber die Unternehmen an sich?» Er dachte an die seltsamen Konten, die in Ottes Unterlagen aufgeführt waren und ahnte bereits, worauf Adi hinauswollte.

Der schüttelte nur den Kopf. «Nein, keine Subventionierung. Ich rede von Anteilen. Natürlich nicht direkt. Das Reich wird offiziell kein Großaktionär der Hapag sein. Aber da gibt es gewisse Umwege, Strohmänner, wenn du weißt, was ich meine. Großunternehmer, die gerne einspringen, weil es ihnen zum Vorteil gereichen wird.» Woermann machte eine gebieterische Geste. «Und nun bekommt Ballin die Rechnung für seinen Größenwahn. – Unter uns …» Adi zögerte einen Moment. «Hast du Aktien der Hapag?»

Sören schüttelte den Kopf.

«Dein Glück. Was ich dir erzähle, bleibt unter uns, ja?»

«Natürlich.» Sören spitzte die Ohren. Ganz plötzlich konnte sich nun das Blatt wenden, und er war gespannt, ob dann alles einen Sinn bekam.

«Sagt dir der Name Morgan etwas? John Piermont Morgan?»

«Der amerikanische Banker, Besitzer von United States Steel? Ja, ich habe von ihm gehört. Besser gesagt, habe ich einen Bericht darüber gelesen, wie er die Fusion der amerikanischen Stahlkonzerne in die Wege geleitet hat.»

Adi lächelte. «Morgan ist etwa so klein wie Ballin, hat sogar eine noch hässlichere Nase und ist dementsprechend noch größenwahnsinniger. Aber Jupiter, wie Morgan auch genannt wird, hat Ballin etwas voraus: Er verfügt über Unsummen von Geld. Geld, das ihm selbst gehört. Er besitzt nicht nur ein großes Bankhaus und den größten Stahlkonzern der Welt, sondern er kontrolliert inzwischen auch den Großteil der Eisenbahnlinien an der amerikanischen Ostküste. Doch damit nicht genug. Im letzten Jahr hat Jupiter begonnen, Reedereien zu kaufen. Keine kleinen Klitschen und auch nicht irgendwo in Amerika, denn dort gibt es bislang ja kaum eine Handelsflotte, sondern hier in Europa. Darunter die englische Leyland-Linie. Dazu hat er ein Syndikat ins Leben gerufen, die International Mercantile Marine Company. Und jetzt greift er nach den ganz Großen. So, wie es aussieht, wird er noch in diesem Jahr mehrheitliche Anteile der White Star in seinen Besitz bringen. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Hapag ins Visier genommen wird. Es gibt niemanden, der eine Übernahme verhindern kann. Wenn die Aktionäre an Jupiter verkaufen, weil er ihnen ein Vielfaches des eigentlichen Wertes der Aktien zahlt, dann …»

«Aber warum bietet er ein Vielfaches des eigentlichen Wertes?»

«Es ist das Machtstreben, der Machtwunsch eines kleinen abgebrochenen Piefkes, der mit einer Nase wie ein Kaktus rumläuft.» Woermann schlug sich lachend auf die Schenkel. «Nein, im Ernst … Er will einen riesigen Transportverbund, er will ein Monopol. Die Ladung der Schiffe, welche die Ostküste ansteuern, wird mit seinen Eisenbahnen weitertransportiert. Es gibt keine Alternativen dazu. Und das weiß Ballin natürlich. Soweit mir bekannt ist, hat er im Sommer letzten Jahres von Morgans Kaufabsichten erfahren. Er war völlig panisch, und bereits im Herbst hat es ein geheimes Treffen der beiden in London gegeben. Angeblich soll es zu einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Morgan-Gruppe und der Hapag kommen. Das teilte mir zumindest jemand mit, der bei den Vorverhandlungen am 16. Oktober auf Schloss Hubertusstock anwesend war. Ballin hat sich nämlich beim Reichskanzler und bei Seiner Majestät persönlich rückversichert. Ein weiteres Indiz dafür, wie es um die Unabhängigkeit der Hapag bestellt ist.»

Woermann grinste ganz ungeniert. «Natürlich darf davon niemand etwas erfahren. Vor allem die Aktionäre der Hapag nicht. Die nächste Aktionärsversammlung findet im Mai dieses Jahres statt, und wenn Ballin bis dahin keine akzeptable Einigung mit der Morgan-Gruppe zustandegebracht hat, dann ist nicht nur die Zukunft der Hapag fraglich, sondern auch sein eigenes Schicksal bei der Hapag besiegelt. Er steht jedenfalls mit dem Rücken zur Wand. Und dass der kleine Choleriker kein besonders starkes Nervenkostüm besitzt, ist ja allgemein bekannt. Momentan ist seine größte Sorge, dass die Morgan-Gruppe tatsächlich die White-Star-Linie übernimmt. Selbst wenn eine Übernahme der Hapag durch Jupiter verhindert werden kann, entsteht doch eine unglaubliche Konkurrenz für das Unternehmen. Und Thomas und Bruce Ismay sowie William Pirrie, die bisherigen Besitzer der White Star, haben Ballin gegenüber wohl klar zu verstehen gegeben, dass eine Übernahme kaum noch zu verhindern sei.»

«William Pirrie?», wiederholte Sören. Pirrie war der Name des Mannes gewesen, den Ballins Sekretär bei seinem Besuch in der Hapag-Zentrale angekündigt hatte. War Ballin deshalb so nervös geworden?

«Ja, William Pirrie ist der Leiter einer der größten Werften der Welt, der Harland-&-Wolff-Werft in Belfast.»

In Sörens Kopf brauste es. Schneller, als er dachte, fügte sich ein Steinchen ans andere. Waldemar Otte hatte mit der Werft Harland & Wolff Kontakt aufgenommen, und die Werft wollte jemanden nach Hamburg schicken, um sich mit Otte zu treffen. War es Zufall, dass Pirrie zur gleichen Zeit in Hamburg weilte, oder hatte sich der Chef der Werft persönlich auf den Weg gemacht? Ballin hatte ja erwähnt, dass die Hapag einige ihrer Schiffe bei Harland & Wolff fertigen ließ, und dem Bericht aus dem Unparteyischen Correspondenten nach hatte die Hamburg-Amerika Linie zurzeit zwei Schiffe in Belfast im Bau. Von daher konnte es sich auch um ein ganz gewöhnliches Treffen von zwei Geschäftspartnern gehandelt haben, was jedoch immer noch nicht erklärte, warum Ballin den Kontakt zu Otte und zur Schichau-Werft geleugnet hatte. Und die Konten? Wenn Woermann recht hatte, dann waren sie ungefähr zur gleichen Zeit eingerichtet worden, wie Ballin von der Gefahr einer möglichen Übernahme der Hapag durch Morgan erfahren hatte. War es denkbar, dass die enormen Gelder auf den Konten dafür gedacht waren, einer feindlichen Übernahme entgegenzuwirken? Wenn Adis Unterstellung stimmte und die Hapag über Aktionäre getarnt zumindest anteilig längst ein Unternehmen des Reichs war, dann erklärte das natürlich die Bereitstellung der Gelder. Und es erklärte gleichfalls, warum gerade Albert Ballin Prokura über die Konten hatte.

«Die Geschichte ist wirklich heikel», unterbrach Woermann Sörens Gedanken, «und ich möchte momentan nicht in Ballins Haut stecken. Auch wenn ich dort so oder so nicht reinpassen würde.»

«Höre ich da einen Anflug von Schadenfreude heraus?»

Adi wiegte unschlüssig den Kopf und gab einen grunzenden Laut von sich. «Sagen wir mal so … Seine Probleme sind weitgehend selbst gestrickt. Er hat den Bogen einfach überspannt. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Und ich bin heilfroh, dass mir so etwas nicht passieren kann. Ein Familienbetrieb wird durch derartige äußere Einflüsse nicht gefährdet. Ich bin mein eigener Herr.»

Woermann stand auf und reckte sich zu voller Höhe empor. «Das ist meine persönliche Meinung. Unabhängig davon wäre es natürlich fatal, wenn die Hamburg-Amerika Linie oder auch der Lloyd in ausländischen Besitz übergehen würde. Es mag idiotisch klingen, aber ich kann die Interessen des Reichs, das zu verhindern, sehr gut nachvollziehen. Ich verfüge ja, wie du weißt, über sehr gute Kontakte nach Berlin, und wir, das heißt in diesem Fall einige ranghohe Vertreter von Reich und Marine, wollten uns in drei Tagen mit Ballin und der Führung des Norddeutschen Lloyds zusammensetzen und vorbeugend beratschlagen, wie man mit einer solchen Gefahr zukünftig umzugehen hat. Kriegs- und Handelsmarine sollten hinsichtlich der Vormachtstellung auf den Weltmeeren gemeinsam an einem Strang ziehen. Das Ganze sollte anlässlich der Übergabe des neuen Linienschiffes geschehen, wenn am Donnerstag die Führungsriege der Reichsmarine bei Blohm + Voss erwartet wird, aber nun kann Ballin an der Fahrt nicht teilnehmen, weil er sich um Pirrie kümmern muss. Denn es ist ja absurd, wenn ein Engländer, zudem der Chef der größten britischen Werft, zur Probefahrt des modernsten deutschen Kriegsschiffes an Bord kommt. Ich will nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber sonst kann man sich sämtliche Auflagen bezüglich der Geheimhaltung beim Bau von Schiffen Seiner Majestät zukünftig sparen und die Baupläne gleich ins Ministerium nach London schicken.»

«Du meinst den Kaiser Karl den Großen?»

Woermann nickte. «Ja, das Schiff wird am Donnerstagmorgen auf seine erste … nun, seine zweite Fahrt gehen und in den Kaiserlichen Marinehafen nach Wilhelmshaven überführt werden. Dabei wird wohl das halbe Reichsmarineamt an Bord erwartet.»

«Admiral von Tirpitz auch?», fragte Sören neugierig. Er dachte an das unvollständige Schreiben, das sich in Ottes Unterlagen befunden hatte und in dem von einem Ortstermin im Januar die Rede gewesen war.

Woermann grinste vielsagend. «Nicht nur, mein Lieber, nicht nur. Den Gerüchten nach wird sich wohl auch Seine Majestät persönlich die Probefahrt seines neuesten Schiffes nicht entgehen lassen.»