Die Stadt in der Stadt

Doktor Reuter vom Hafenkrankenhaus blickte nur flüchtig auf das Papier, das Sören ihm vorgelegt hatte und das ihn angeblich dazu berechtigte, den Leichnam selbst in Augenschein nehmen zu dürfen. Er war etwa in Sörens Alter, und nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, musste er den Besucher wohl für einen Kollegen halten, was genau genommen sogar richtig war. Obwohl Sören ein abgeschlossenes Medizinstudium vorweisen konnte, hatte er nie als Arzt praktiziert. Ausdrucksweise und Fachtermini waren ihm hingegen immer noch geläufig. So etwas vergaß man nicht. Reuter begleitete ihn persönlich hinab in die Kellergewölbe, wo auch die Leichenhalle untergebracht war.

«Von einer Öffnung haben wir Abstand genommen», erklärte der Arzt, während er zielstrebig zu einem der Rollwagen ging, die an der Kellerwand aufgereiht standen. «Verletzung und Todesursache waren eindeutig durch äußeren Augenschein feststellbar.» Er inspizierte den Zettel am Gestell des Wagens und verglich die Nummer mit seinen Unterlagen. «Da haben wir ihn, Simon Levi. Alter sechsundzwanzig.» Er zog das Tuch vom Leichnam. «Fraktur der hinteren Schädelplatte.»

Sören beugte sich über den Toten und inspizierte die Wunde. Ein süßsaurer Geruch stieg ihm in die Nase, eine Mischung aus organischen Sekreten und Formalin. Der Duft des Todes, wie es einer seiner Professoren einmal genannt hatte. Eine Sache hatte ihn schon immer fasziniert, und auch jetzt konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Mit der Fingerspitze drückte er die Haut des Toten am Oberarm. Es sah aus, als wenn sich Haut und Fleisch in Wachs verwandelt hätten. Die Vertiefung an der Druckstelle blieb. Sören widmete sich wieder der Wunde. Zwischen den Knochensplittern konnte er Teile der Hirnmasse erkennen.

«Der Täter muss zweimal zugeschlagen haben», erklärte Doktor Reuter. «Mit einer Eisenstange oder einem anderen stumpfen Gegenstand.»

Sören drehte den Kopf des Toten zur Seite und untersuchte sein Kinn. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte.

«Ein leichtes Hämatom», bestätigte der Mediziner. «Vielleicht von einer Schlägerei. Für uns unmaßgeblich.»

Wie es aussah, hatte David ihn nicht angelogen. «Findet das in Ihrem Bericht Erwähnung?»

Reuter nickte. «Ich werde den Bericht heute im Laufe des Tages schreiben.»

«Der Mann wurde also von hinten erschlagen. Irgendwelche sonstige Auffälligkeiten?», fragte Sören.

Der Mediziner schüttelte den Kopf. «Nein, keine weiteren körperlichen Auffälligkeiten bis auf seine Beschneidung, aber das ist bei Juden als normal anzusehen.»

«Wurde der Leichnam fotografisch festgehalten?»

«Von uns nicht», erklärte Reuter. «Dafür sehe ich auch keine Notwendigkeit. Ob die Polizei eine Aufnahme am Tatort gemacht hat, entzieht sich meiner Kenntnis.»

«Und die Kleidung des Toten sowie die Habseligkeiten, die er bei sich führte?»

«Verwahren wir natürlich.» Reuter griff unter den Wagen und zog einen Wäschesack hervor. «Was den Ausweis und sonstige Dokumente betrifft, müssen Sie sich allerdings an die Polizei wenden.»

 

Die Kleidung des Toten sowie die wenigen Dinge, die er in dessen Taschen gefunden hatte, brachten keine neuen Erkenntnisse. Bemerkenswert war allenfalls die Tatsache, dass die Schuhe von Simon Levi nass und schlammverschmiert waren, seine restlichen Kleidungsstücke hingegen trocken und weitgehend sauber. Aber das konnte alle möglichen Gründe haben. Während er die Seewartenstraße entlangging, studierte Sören die beiden Lotteriescheine, ausgestellt von Julius Gertig, welche die Polizei übersehen haben musste. Er hatte sie in der Westentasche des Toten gefunden. Dem Aufdruck nach unterhielt Gertig drei Ausgabestellen, am Steindamm, am Großen Burstah und hier an der Reeperbahn. Gegenüber vom Köllisch Universum am Spielbudenplatz wurde Sören schließlich fündig. Simon Levi hatte die Scheine tatsächlich hier erworben, wie das Mädchen am Stand anhand der Losnummern feststellte, aber sie konnte Sören nicht sagen, wann die Lotteriescheine genau verkauft worden waren. Sören bedankte sich und kaufte am Nachbarstand ein druckfrisches Exemplar des Hamburger Fremdenblattes. Auf der ersten Seite ging es mal wieder um die Koweitfrage und die militärischen Drohgebärden zwischen England und Russland am Persischen Golf. Wenn der Hafen von Koweit nicht der Endpunkt der geplanten deutschen Bagdadbahn hätte werden sollen, hätte sich bestimmt niemand in der Stadt dafür interessiert, mutmaßte Sören und blätterte weiter.

Er überlegte, wie er an ein Foto des Toten gelangen konnte. Ursprünglich hatte er es David zur Identifizierung vorlegen wollen. Aber durch das Hämatom am Kiefer des Toten war die Möglichkeit, dass der Mann, den David geschlagen hatte, vielleicht gar nicht Simon Levi war, hinfällig geworden. Solche Zufälle gab es nicht. Dennoch war ein Foto für die weiteren Nachforschungen einfach notwendig.

Zwei Seiten weiter stolperte Sören über eine Anzeige der Hamburger Gaswerke, die grobe Cokes im gehäuften Maass per Doppelhektoliter frei auf den Wagen für nur zwei Mark anboten, und er überlegte, wie viel Vorrat sie noch im Keller hatten. Wenn es weiterhin so mild blieb, brauchte er sich darum keine Sorgen zu machen. Hinter den veröffentlichten Spendenlisten zahlreicher Vereine und Stiftungen sowie der Ablösung der Neujahrskarten fand er endlich, wonach er gesucht hatte. Die offiziellen Hamburg-Altonaer Fremdenlisten, eine Aufstellung aller in der Stadt verweilenden Fremden, die in einem Hotel abgestiegen waren, sortiert nach Hotel und Familiennamen. Diese Listen waren ein exzellentes Hilfsmittel, wenn man einen Auswärtigen in der Stadt finden wollte. Schon häufiger hatte Sören von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Sofern Waldemar Otte mindestens ein Hotel zweiter Klasse bewohnte, war es eine Kleinigkeit, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Allerdings waren es fast vier Seiten. Sören setzte sich ins Café Melgenberger und bestellte ein Kännchen Kaffee mit zwei belegten Rundstücken. Das Frühstück war heute Morgen ausgefallen, weil Agnes am Donnerstag immer Frühdienst in Eimsbüttel hatte und bereits gegen vier Uhr früh das Haus verließ, und nun knurrte sein Magen.

Eigentlich war der heutige Tag ganz anders geplant gewesen. Vor allem Ilka hatte ein enttäuschtes Gesicht gemacht, als er ihr erklärt hatte, dass es mit dem versprochenen Besuch der Eisbahn auf dem Heiligengeistfeld schon wieder nichts werden würde. Die Schlittschuhe, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, waren immer noch nicht eingeweiht, dabei freute sie sich schon so sehr, sie endlich ausprobieren zu können. Erst war es der überraschende Tod seiner Mutter gewesen, der all ihre Planungen zunichte gemacht hatte, und nun diese Geschichte mit David. Ein Kind in Ilkas Alter hatte für die Sorgen und den Kummer, die solche Dinge mit sich brachten, natürlich kein Verständnis. Andererseits war es gerade dies kindliche Gemüt und die unbekümmerte Ausgelassenheit seiner Tochter, die Sören darüber hinweghalfen, dass er seine Mutter verloren hatte. Zudem hatte Clara Bischop ein erfülltes Leben gehabt, und sie hatte nicht leiden müssen. Sören versuchte, die schmerzhafte Erinnerung und den Kloß im Hals herunterzuschlucken. Dann musste er an David denken. Es sah wieder einmal so aus, als ziehe ein schreckliches Ereignis gleich das nächste nach sich. Sören hätte sich, wenn überhaupt, wirklich jede andere Ablenkung von seiner Trauer gewünscht. Zum Beispiel mit Tilda und Ilka auf die Eisbahn zu gehen. Wären es andere Beweggründe gewesen, hätte er vielleicht ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber so … Tilda hatte die Tränen ihrer Tochter gerade noch mit einem improvisierten Alternativprogramm bändigen können, als Sören kurz vor Sonnenaufgang das Haus verlassen hatte. Das Fahrrad hatte er zu Hause gelassen, denn für die geplante Fahrt auf die Veddel war der Weg bei den Temperaturen doch zu weit.

Sören hatte es schon fast aufgegeben, aber schließlich entdeckte er den gesuchten Namen doch noch. Waldemar Otte aus Danzig, wohnhaft im Hotel Victoria am Hühnerposten. Er überlegte einen Moment, welche Folgen es haben konnte, wenn er einen Zeugen befragte, ohne ein Mandat vorweisen zu können, und ob es nicht gescheiter wäre, ihn offiziell in die Kanzlei zu laden. Bei dem, was er ausgesagt hatte, war es zwingend erforderlich, ihn noch einmal zu befragen, denn seine Schilderung des Geschehens wich deutlich von dem ab, was David ihm erzählt hatte. Da man nicht wusste, wie lange Otte sich in der Stadt aufhielt, war es besser, wenn er keine Zeit verstreichen ließ. Vielleicht konnte er ihm auf dem Rückweg von der Veddel einen Besuch abstatten. Aber zuerst musste er klären, was es damit auf sich hatte, dass Simon Levi überhaupt in der Stadt gewesen war. Soweit er wusste, durften die Bewohner der neu erbauten Auswandererstadt das Gelände bis zu ihrer Abreise aus Gründen der Quarantäne nicht verlassen. Sören zahlte und machte sich auf den Weg zur nächsten Haltestelle.

Auf halbem Weg vernahm er hinter sich schon das laute Rattern einer Straßenbahn, die in seine Richtung fuhr, und automatisch hob er den linken Arm, um den Fahrer zum Halten zu bewegen. Im gleichen Augenblick fiel ihm ein, dass es den Fahrern inzwischen verboten war, Fahrgäste zwischen den Haltestellen aufzunehmen. Durch das ständige Halten und Anfahren war es in den letzten Jahren immer wieder zu schweren Unfällen mit Passanten gekommen, die beim Queren der Straße zwischen die Waggons und häufig genug unter die Räder geraten waren. Der Volksmund nannte die Bahn seither Straßenguillotine. Dennoch hielt die Straßenbahn, und er stieg zu. Früher waren fünf Pfennig neben dem Billettpreis der normale Kurs fürs Halten gewesen. Die Fahrer spielten das Spiel anscheinend immer noch mit, denn sie wussten, dass die Schaffner aufgrund ihres geringen Lohns auf dieses Trinkgeld angewiesen waren.

Ratternd setzte sich die Bahn wieder in Bewegung, und der Schaffner ließ die Geldstücke in die Rocktasche gleiten. «Zweimal umsteigen», erklärte er mit einem freundlichen Lächeln, als Sören ihn nach der besten Verbindung fragte. An die Nummerierung der einzelnen Linien, mit der man im vorletzten Jahr begonnen hatte, hatte sich Sören immer noch nicht gewöhnt. Ständig kamen neue Linien hinzu. «Einfacher ist es, wenn der Herr am Berliner Bahnhof in die Dampfbahn wechselt», ergänzte er noch. «Aber ich weiß nicht, ob Sie dort Anschluss haben.»

 

Die Auswandererhallen waren erst im Dezember eröffnet worden, und Sören war gespannt, was ihn erwartete. Obwohl er schon mehrere Zeitungsberichte darüber gelesen hatte, war er bislang noch nicht vor Ort gewesen. Es hieß, es sei eine richtige kleine Stadt, mit Kirche, Empfangsgebäude, Verwaltung, Speisehallen. Bei den Unterkünften sollte es sich um einfache Baracken mit großen Schlafsälen für die mittellosen Auswanderer sowie um Logierhäuser für die Passagiere der zweiten und dritten Klasse handeln. Soweit er wusste, galten für alle diese Auswanderer jedoch die gleichen, strengen Quarantänevorschriften.

Seit der großen Choleraepidemie vor zehn Jahren befürchtete man nicht nur in der Stadt ein erneutes Auftreten der Seuche. Vor allem in der Neuen Welt, dem Ziel fast aller Auswanderer, die sich von Hamburg aus auf den Weg machten, fürchtete man ansteckende Krankheiten. Auf Ellis Island, der kleinen Insel vor New York, wo die Passagiere erneut in Quarantäne genommen wurden, hatte man seither die Kontrollen für die Einreiseerlaubnis verschärft. Nicht nur die medizinischen. Die Immigranten mussten zahlreiche Prüfungen über sich ergehen lassen und Fragebogen ausfüllen, damit Sprache, Bildung und Herkunft kontrolliert werden konnten. Neuerdings überprüfte dort eine Armada von Polizeiinspektoren die Ausweispapiere der Einwanderer an den Landungshäfen, nicht nur um Anarchisten fernzuhalten. Die Kontrollen waren verschärft worden, seit der amerikanische Präsident Roosevelt in einer öffentlichen Rede die übermäßige Zahl chinesischer Einwanderer thematisiert hatte. Man befürchtete, dass die billigen Arbeitskräfte aus Asien das Lohnniveau im Lande maßgeblich beeinflussen könnten.

Wie dem auch war, die Bedingungen für die Auswanderer hatten sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Und damit natürlich auch die Vorgaben für diejenigen, die am Auswanderergeschäft verdienten. In erster Linie waren das die Reedereien, in der Stadt namentlich die Hapag, die Hamburg-Amerika Linie, die den Großteil der Auswanderer mit ihren Dampfern in die Neue Welt brachte. Von daher war es verständlich, dass man alle Risiken ausschließen wollte. Und aus diesem Grund hatte die Hapag auch die Auswandererhallen erbaut. Auf einem Terrain abseits der Stadt, aber dennoch nahe genug an den Liegeplätzen ihrer Schiffe.

Schon in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, wie sich das Unternehmen ursprünglich genannt hatte, eigene Unterkünfte für die Auswanderer erbaut. Es waren einfache Baracken gewesen, die man direkt am Amerikaquai aufgestellt hatte. Aber mit dem Ausbruch der Cholera im Jahr 1892 war das Auswanderergeschäft zum Erliegen gekommen. Und auch in den Folgejahren tat man sich in der Stadt schwer damit, der Hapag die erforderlichen Genehmigungen zu erteilen. Die Reederei hatte die Abfertigung ihrer Schnelldampfer erst nach Southampton, dann nach Wilhelmshaven verlegt, und die Zwischendecker, jene Auswanderer, welche die kostengünstigste Überfahrt gewählt hatten, wurden in Stettin an Bord der Schiffe genommen. Erst als die Direktion der Hapag öffentlich damit drohte, das gesamte Geschäft notfalls nach Bremerhaven zu verlegen, knickte der Hamburger Senat ein. Kein Wunder, war die Hamburg-Amerika Linie doch ein kapitalträchtiges Unternehmen. Löhne und Steuern zusammen genommen ließ die Hapag Jahr für Jahr mehr als sechzig Millionen Mark in der Stadt. Dieses Argument wog weit mehr als alles andere.

Wie von der Hapag verlangt, stellte die Stadt dem Unternehmen das Terrain für den Bau der Auswandererstadt kostenlos zur Verfügung. Noch im selben Jahr errichtete die preußische Regierung entlang der deutsch-russischen und der österreichisch-ungarischen Grenze mehrere Kontrollstationen für Auswanderer und übergab sie den Vereinten Dampfschiffsgesellschaften, das waren in erster Linie der Norddeutsche Lloyd aus Bremen und eben die Hapag, zur Verwaltung. Bereits nach wenigen Jahren lief das Geschäft besser als je zuvor. Die Hapag verlegte ihre Abfertigung an den Petersenquai im Baakenhafen, erwarb am O’Swaldkai noch zusätzliche Anlagen im Hansahafen und baute seit 1898 die riesigen Seehäfen auf Kuhwärder aus, die im kommenden Jahr in Betrieb genommen werden sollten. Man hätte denken können, das Unternehmen wolle langsam den gesamten Hamburger Hafen verschlingen.

«Sie wünschen?» Der uniformierte Beamte musterte Sören aufmerksam. Wahrscheinlich war ihm aufgefallen, dass Sören nun schon zum zweiten Mal die Anlage umrundet hatte, wobei er vor allem dem hohen Bretterzaun, der die Auswandererstadt palisadenförmig umschloss, seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

«Ich habe am Petersenquai an einer Schiffsbesichtigung teilgenommen», log Sören, «und man sagte mir, auch hier gebe es Führungen für Interessierte.» Nicht nur die Hapag, nein, auch die Stadt selbst warb inzwischen mit der vorbildlichen Anlage. Neben dem neuen Rathaus, dem Panopticum, einer Alsterfahrt, der Stadtwasserkunst mit den neuen Filtrierbecken und den Filtrationsanlagen, dem Hafenblick vom Stintfang aus sowie Hagenbecks Tierpark am Neuen Pferdemarkt hatte man die Auswandererstadt sofort in die offizielle Liste der städtischen Sehenswürdigkeiten aufgenommen.

Der Mann rückte seine Uniform zurecht. «Dafür melden Sie sich bitte in der Verwaltung.» Er deutete auf einen hell verputzten, zweigeschossigen Bau mit flachem Walmdach. Dann zog er eine Taschenuhr hervor. «Sie haben Glück. In einer halben Stunde sollte wieder eine Führung beginnen.»

Kurze Zeit später fand sich Sören in einer Gruppe von Besuchern wieder, die von einem forsch dreinblickenden, ebenfalls uniformierten Beamten der Reederei begrüßt wurde. Den zweireihigen Uniformrock mit den auffallend großen silbernen Knöpfen trug er offensichtlich mit dem gleichen Stolz wie die Schirmmütze, an deren Spitze ein kleiner Anker glänzte. An seiner Seite standen zwei Männer in Zivil, ihrer Erscheinung und Körperhaltung nach zu urteilen, gehörten sie ebenfalls zum Personal der Reederei. Beide trugen eine schlichte schwarze Melone, der Ältere der beiden zudem einen langen weißen Kittel über dem Rock.

«Wir dürfen Ihnen nun mit einem Rundgang durch die Anlage Schritt für Schritt den Weg zeigen, den auch die Auswanderer während ihres Aufenthalts in dieser vorzüglichen Einrichtung durchschreiten. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass Sie im Bereich der unreinen Seite keinen Körperkontakt mit Auswanderern haben dürfen. Ebenso ist es nicht erwünscht, Gespräche mit den fremdländischen Individuen zu führen. Sollten Sie Fragen zum Ablauf bestimmter Dinge sowie zu technischen Details haben, wenden Sie sich bitte an Herrn Müller vom Verwaltungsbüro oder an Dr. Framke, der für die hygienischen Einrichtungen sowie die medizinische Versorgung verantwortlich ist.» Die beiden Männer blickten wortlos in die Runde. «Sollten Herrschaften von der Presse zugegen sein, erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass wir am Ende des Rundganges einige Broschüren in gedruckter Form vorbereitet haben. Wenn Sie mir nun bitte folgen wollen …»

Direkt gegenüber der Verwaltung begann die Führung. Dort, wo der Palisadenzaun unterbrochen war und ein kleines, hölzernes Wachhaus stand, befand sich das Empfangsgebäude, ein nach außen einfach gehaltener Bau in Form einer eingeschossigen Baracke, an dessen angedeutetem Giebel in großen Lettern der Name der Reederei stand: Hamburg-Amerika Linie. Sie betraten die Empfangshalle durch eine der beiden Türen und standen in einem kargen Raum mit Bänken und Tischen, von dem zu beiden Seiten Flure abgingen. Vor den Korridoren und am Ende der Halle gab es mehrere hölzerne, hüfthohe Absperrgatter, die den Weg markierten, den man zu gehen hatte. «Die Männer rechts, die Frauen nach links», erklärte der Beamte. «Es wird auf strikte Trennung der Geschlechter Wert gelegt.»

Sören betrachtete die Gestalten, die, zusammengekauert und in dicke Mäntel oder Decken gehüllt, an den Tischen saßen und darauf warteten, dass man sie aufrief und zu den Schreibpulten vorließ, wo Männer mit weißen Hemden und gestärkten Kragen standen und die Personalien in die Bücher übertrugen.

«Formalitäten, die allein deshalb sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, da viele des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind. Vor drei Stunden ist ein Zug mit sechzig Auswanderern aus Russland angekommen, vornehmlich jüdischer Religion. Darauf werde ich im Laufe des Rundgangs noch mehrfach zu sprechen kommen. Wir haben Dolmetscher eingestellt, welche die wichtigsten Dinge übersetzen können, damit den Leuten die Angst genommen wird. Sie kommen von weit her und wissen nicht, was sie hier erwartet, bevor sie ihr Schiff besteigen können», fuhr der Beamte fort. «Die Hapag holt sie mit speziellen Zügen von den Kontrollstationen an den Grenzen direkt hierher, aus Bajohren, Eydtkuhnen, Iltosso, Prostken und Ottlotschin.»

Einige der Wartenden blickten kurz auf, als er die Namen aufzählte, dann senkten sie wieder ihren Blick. «Die Züge fahren mit speziellen Waggons, und die Fahrt über werden die Reisenden von Mitarbeitern der Reederei begleitet. Der Transport hierher ist im Passagepreis inbegriffen. Da die Auswanderer an den Kontrollstationen bereits medizinisch untersucht wurden», erläuterte er weiter, «beschränkt sich die hiesige Gesundheitsinspektion auf die wesentlichen Verdachtsfälle. Wir befinden uns hier im unreinen Bereich der Anlage. Nach Aufnahme der Personalien und Zuordnung der Unterkünfte und Schiffe, also der Registrierung, durchlaufen die Auswanderer das Prozedere der Desinfektion und einer nochmaligen Untersuchung, bevor sie den reinen Teil der Anlage betreten dürfen.»

Er wendete sich dem rechten Korridor zu und forderte die Gruppe auf, ihm zu folgen. Überall standen uniformierte Mitarbeiter und kontrollierten, wer wohin ging. Sie passierten eine Gruppe Stiefel und Pelzkappen tragender Männer mit mächtigen Bärten, die in Reih und Glied vor einer kleinen Tür warteten. «Doktor Framke, wenn Sie so freundlich wären …»

Der Mann mit dem weißen Kittel trat vor die Besucher und räusperte sich mehrmals. Dann öffnete er eine weitere Tür, hinter der eine Art Waschküche lag. «Bei der Desinfektion arbeiten wir mit den allerneuesten Produkten. Sie sehen hier unsere Schimmel’schen Desinfektionsapparate, die mit strömendem Dampf arbeiten und so vor allem eine hohe Durchgangsrate ermöglichen. Pro Stunde lassen sich mit dieser Anlage mehr als fünf Doppelzentner textiler Kleidung desinfizieren.»

Es folgte ein weiterer Vortrag über die hauseigenen Dampfmaschinen sowie die gesamte Energie-, Strom- und Wasserversorgung der Anlage. Die Duschen, Wannen und Umkleideräume waren von der Besichtigung ausgeschlossen, da sie gerade in Benutzung waren. Nachdem sie einen Blick in die medizinischen Untersuchungsräume geworfen hatten, erklärte ihnen Dr. Framke, worauf die vier angestellten Ärzte der Hapag besonders achteten: Trachoma. Es handelte sich um eine bestimmte Art einer ansteckenden Bindehautentzündung, die vor allem bei der Einreise in Amerika kontrolliert wurde. Deshalb reichten hier bereits leicht gerötete Augen, um vorerst auf der Untersuchungsstation unter Beobachtung zu bleiben.

Endlich verließen sie das Empfangsgebäude und gelangten auf die reine Seite der Auswandererstadt. Sören war überrascht, wie viele Menschen sich zwischen den Gebäuden im Freien aufhielten. An einigen Stellen herrschte ein regelrechtes Gedränge; Männer und Frauen jeglichen Alters, die meisten trugen ihre Habseligkeiten in hellen Leinensäcken oder Stoffbündeln bei sich. Bärtige Männer mit seltsamen Kopfbedeckungen, breitkrempigen Hüten oder Fellkappen, viele von ihnen Pfeife rauchend, die Frauen fast ausschließlich bunte Kopftücher tragend, häufig ein oder mehrere Kinder an der Hand oder Kleinkinder auf dem Arm. Aber nicht nur die merkwürdige Kleidung verwies auf ihre Herkunft, auch in den Gesichtern spiegelten sich die fremdländischen Kulturen entfernt gelegener Regionen, und in ihren Blicken erkannte Sören die ganze Bandbreite zwischen Hoffnung und Angst, Stolz und Ungewissheit.

Während sie die Gassen zwischen den einzelnen Pavillons durchschritten, erklärte der Verwaltungsbeamte die baulichen Vorzüge der neuen Anlage. Wie ein Hufeisen gruppierten sich die einzelnen Bauteile um einen Platz, in dessen Mitte eine Kirche stand. An fast jedem Gebäude hingen Schilder in mehreren Sprachen und verwiesen auf Sinn und Zweck bestimmter Anlagen oder belehrten in Auszügen über die Hausordnung. Russisch und Hebräisch waren allein durch ihre Schriftzeichen zu identifizieren, bei den anderen Sprachen musste es sich um Polnisch und Ungarisch handeln, spekulierte Sören.

Mit neugierigen Blicken beäugte man die Besuchergruppe, andere blickten verschämt zu Boden. Zwischen all den Auswanderern patrouillierten immer wieder Beamte der Hapag und wiesen die Menschen auf dieses oder jenes hin. Sören beobachtete, wie ein Aufsichtsbeamter mit Hilfe eines Dolmetschers einer Gruppe verwegen dreinblickender Männer zu erklären versuchte, dass es nicht erlaubt sei, auf dem Boden Feuer zu machen. Die jungen Männer, der Kleidung nach Kosaken aus der Ukraine, schüttelten verständnislos die Köpfe.

«Wer es sich leisten kann, zahlt hier eine Mark pro Tag für Zimmer, Verpflegung, Bad und Desinfektion sowie die ärztliche Behandlung. Für diejenigen, die nichts außer der bezahlten Passage besitzen, übernimmt die Hapag die Kosten des Aufenthalts», erklärte Herr Müller und beantwortete die erste Frage, die an ihn gestellt wurde. «In der Regel bleiben die Auswanderer vierzehn Tage in der Anlage. Sollte es aus medizinischen Gründen notwendig sein, auch länger.»

Sie warfen einen kurzen Blick in eine der Doppelbaracken, in denen die Auswanderer untergebracht waren. Durch einen Windfang gelangte man in den Aufenthaltsraum, von dem zu beiden Seiten jeweils zwei Schlafsäle mit 22 Betten abzweigten. Vom Aufenthaltsraum aus gelangte man auch zu den sanitären Anlagen, über welche je zwei Pavillons miteinander verbunden waren. «Es wird bei der Unterbringung natürlich auf die strikte Trennung der Geschlechter geachtet», kommentierte Müller und fügte hinzu, dass die Menschen nach Möglichkeit auch nach Herkunft und Religion getrennt untergebracht würden, da sich das Unternehmen von dieser Maßnahme weniger Auseinandersetzungen zwischen den Auswanderern versprach. «Fast die Hälfte der Auswanderer ist jüdischen Glaubens. Von daher haben wir auch zwei voneinander getrennte Speisehallen, zu denen ich Sie jetzt begleiten darf.»

Als sie die Logierhäuser passierten, welche die Speisehalle zu beiden Seiten flankierten, und Müller darauf hinwies, dass dort die betuchteren Reisenden in Vierbettzimmern untergebracht seien sowie die alleinstehenden Frauen, für deren Tugend man extra Hausmütter zur Betreuung angestellt habe, konnte sich Sören die Frage, ob es den Bewohnern gestattet sei, die Anlage zu verlassen, nicht mehr verkneifen. «Nein», antwortete Müller, schränkte aber sogleich ein, dass das Unternehmen darüber nachdenke, den Reisenden der zweiten und dritten Klasse das Verlassen der Anlage zukünftig zu gestatten, soweit sie nicht aus russischen Gebieten kämen, denn für Transitreisende aus anderen Ländern gebe es ja auch keine Unterbringungspflicht in der Auswandererstadt. Dann hielt er einen kurzen Vortrag darüber, dass es früher häufig so gewesen sei, dass Auswanderer in städtischen Logierhäusern und durch überhöhte Preise in Nippes- und Warengeschäften sowie Spelunken regelrecht um ihre Ersparnisse gebracht worden seien und sie sich schließlich die Passage in die Neue Welt nicht mehr hatten leisten können und mittellos in der Stadt herumvagabundiert seien. Den Versuchungen der Stadt habe man mit dieser vorbildlichen Anlage ebenfalls einen Riegel vorgeschoben.

Der Vortrag klang ein wenig wie ein auswendig gelernter Text aus einer Werbebroschüre, fand Sören und verzichtete auf weitere Fragen. Die Tugend alleinreisender Frauen, die strikte Trennung der Geschlechter, die Berücksichtigung der Religionen, alles zum Wohl der Auswanderer und natürlich alles auf Kosten der Hapag. Wahrscheinlich kamen häufig Presseberichterstatter von auswärts, denen man mit solchen Aussagen das ach so selbstlose Anliegen des Unternehmens verkaufen wollte. Die Realität sah sicher anders aus. Wahrscheinlich verdiente die Reederei an den Passagepreisen so viel, dass es keine Rolle mehr spielte, ob man hier noch eine Mark pro Tag zusätzlich Gewinn machen konnte. Simon Levi war im Besitz einer Zwischendeckpassage gewesen. 160 Mark hatte er dafür bezahlt, inklusive des Transfers von der russischen Grenzstation hierher. Und ihm war gelungen, was angeblich nicht möglich war: Er hatte die Anlage verlassen.

Wie, das musste herauszufinden sein. Sören hatte vorhin schon im Verwaltungstrakt der Anlage gesehen, dass es eine eigene Polizeistation in der Auswandererstadt gab. Er war einigermaßen überrascht, dort auf ein ihm bekanntes Gesicht zu stoßen.

«Oberwachtmeister Völsch, wenn ich mich richtig erinnere?» Völsch war vor einigen Jahren bei der Aufklärung eines Falles behilflich gewesen, bei dem man einem seiner Mandanten unterstellt hatte, bei Reparaturarbeiten Feuer auf einem auf Halde liegenden Schiff gelegt zu haben. Bei den Nachforschungen hatte sich der junge Oberwachtmeister der Hafenpolizei selbst in Lebensgefahr gebracht, aber letztendlich hatte er herausfinden können, dass es in Wirklichkeit ein Heizer gewesen war, der wertlose Reste von Diebesgut im Kohlenbunker des Schiffes hatte verschwinden lassen wollen.

«Sie erinnern sich richtig, Dr. Bischop. Nur dass ich inzwischen im Rang eines Polizeileutnants stehe.» Er reichte Sören die Hand. «Habe die Ehre.»

«Na dann, Gratulation, Herr Polizeileutnant. Und bei der Hafenpolizei sind Sie auch nicht mehr.»

«Aber den Schiffen immer noch sehr nah. Welches Anliegen führt Sie hierher?»

«Ein Verbrechen, Polizeileutnant. Sagt Ihnen der Name Simon Levi etwas?»

Völsch nickte spontan. «Ja, wir wurden gestern Abend informiert. Simon Levi aus Haus 4. Die Kollegen von der Kriminalen waren bereits hier und haben sich seine Sachen aushändigen lassen.»

«Hat Levi hier Angehörige?»

«Nein, soweit wir wissen, war er alleinreisend. Er kam mit der zweiten Gruppe für die Pretoria. Abfahrt am 12. Januar.» Völsch verzog das Gesicht. «Schreckliche Sache.»

«Was mich interessiert», sagte Sören, «Simon Levi muss die Auswandererstadt verlassen haben. So etwas sollte doch eigentlich nicht möglich sein.» Er betonte dabei das Wort eigentlich.

Völsch presste die Lippen aufeinander. Seine Worte klangen etwas verlegen: «Ja, das kann sich hier auch niemand erklären.»