Schließlich war es einfacher, als Sören gedacht hatte. Den ganzen Vormittag über hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie sich der Kontakt am unverfänglichsten herstellen ließe. Ein privater Besuch bei Ballin schied aus, und er zweifelte daran, dass er einen sofortigen Termin in der Direktionsetage der Hapag bekommen würde, wo er nicht einmal einen triftigen Grund vorweisen konnte. Am besten war es also, wenn er ihn ungezwungen und zufällig in ein Gespräch verwickelte. Aber bei welcher Gelegenheit? Martin hatte erwähnt, dass Ballin jeden Mittag gemeinsam mit seinem Freund Warburg die Börse aufsuchte. Max Warburg, den Direktor des gleichnamigen Bankhauses, kannte Sören ebenfalls nur flüchtig, aber dessen Bruder, den Kulturwissenschaftler Aby Warburg, hatte er im Hause Brinckmann kennengelernt, als er seine Mutter zu einem Empfang begleitet hatte. Sie hatten den ganzen Abend über gemeinsam an einem Tisch gesessen und sich angeregt unterhalten.
Aby Warburg war damals einer Einladung der Oberschulbehörde gefolgt und hatte tagsüber eine Vorlesung über Leonardo da Vinci gehalten. Clara Bischop, die zu der Zeit gemeinsam mit Justus Brinckmann und Senator von Melle Mitglied in einem Komitee zur Förderung kulturwissenschaftlicher Studien und Vorträge gewesen war, hatte Warburg bei der Gelegenheit einen kostbaren Atlas mit anatomischen Zeichnungen da Vincis aus dem Nachlass ihres Vaters geschenkt. Nicht ohne Hintergedanken, denn fortwährend war sie auf der Suche nach Spendern und Geldgebern für ihre zahlreichen Projekte. Tatsächlich hatte das Bankhaus M. M. Warburg kurz darauf nicht nur einen Betrag zum Bau eines Heims für gefallene Mädchen gespendet, sondern war dem Verein zudem noch mit einer Darlehenssicherheit für die Grundstückspacht behilflich gewesen. Ob es danach weitere Geschäftsverbindungen gegeben hatte, entzog sich Sörens Kenntnis. Soweit er sich erinnerte, war auch kein Vertreter des Bankhauses bei Claras Einäscherung zugegen gewesen, doch ein Kondolenzschreiben hatte man geschickt.
Sören brauchte nur wenige Minuten vor der Börse zu warten, bis sich ihm die gesuchte Gelegenheit bot. Warburg und Ballin verließen die Börse, in ein Gespräch vertieft. Sie schienen keinen Blick für die Umgebung zu haben, sondern gestikulierten mit ihren Händen die geheime Zeichensprache der Finanzwelt. Ein versehentlicher Rempler im Gedränge des Eingangs, und Warburgs Zylinder ging zu Boden.
«Oh, Verzeihung. Wie ungeschickt von mir …» Sören bückte sich schnell, hob den Zylinder auf und klopfte mit den Händen den Straßenstaub von der edlen Kopfbedeckung. Sein entschuldigender Blick bekam etwas Überraschtes. «Herr Warburg?»
Der Angesprochene reagierte etwas verlegen und nahm den Zylinder entgegen. «Das kann schon mal passieren.»
«So ein Zufall», begann Sören und stellte sich mit Namen vor. Er dankte Warburg für die Anteilnahme, und der Bankier überspielte gekonnt, dass er mit Sörens Namen ganz offensichtlich nichts anzufangen wusste. Auch wenn es überflüssig war, denn jeder Bürger der Stadt kannte den Mann an der Spitze der Hapag, stellte er seinen Begleiter Ballin höflich vor.
«Angenehm, wir hatten vor ein paar Jahren einmal flüchtig die Gelegenheit, uns kennenzulernen.» Er reichte Ballin, der ihn fragend anblickte, die Hand.
«Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als mein Personengedächtnis noch funktionierte.» Er lächelte Sören verschmitzt an. «Helfen Sie mir auf die Sprünge.»
«Sören Bischop. Advokat. Wir wohnen in der Feldbrunnenstraße gleich bei Ihnen um die Ecke. Meine Frau war damals häufiger bei Ihrer Gemahlin zu Gast. Es ging um diese Adoptionsangelegenheit.»
Ballin nickte und gab sich Mühe, seine Erinnerungslücke zu verbergen. Es war ja auch wirklich nur ein kurzer Kontakt gewesen. An Mathilda hätte er sich bestimmt erinnert, und wenn nicht er, dann seine Frau. Etwas verlegen zückte er ein Taschentuch aus seinem Wintermantel, wendete sich höflich ab und schnäuzte sich die Nase.
«Ich hätte mich in den nächsten Tagen so oder so an Sie wenden müssen … aus beruflichen Gründen.»
Ballin verstaute sein Taschentuch und blickte kurz zu Warburg. Dann zog er eine belustigte Grimasse. «Als Advokat? Ich hoffe nicht, dass ich bluten muss?» Wieder ein abschätzender Blick zu Warburg, dann stülpte er plötzlich die Innenfutter beider Manteltaschen nach außen. «Sorry. No money!»
Als Warburg in schallendes Gelächter ausbrach, musste auch Sören lachen. Ballin schien wirklich Humor zu haben. «Nein, eine lapidare Geschichte eigentlich. Einer meiner Mandanten, ein Zulieferbetrieb einer großen Werft in Danzig … Man beruft sich auf einen Vertrag, den die Werft angeblich mit der Hamburg-Amerika Linie hat. Bevor die Sache im Detail geprüft wird … Nun, ich dachte mir, es ist am einfachsten, wenn die Hapag einfach dazu Stellung nehmen könnte, ob Verträge existieren oder nicht. Man muss so etwas ja nicht an die große Glocke hängen …» Sören hatte absichtlich in Rätseln gesprochen, aber seine Andeutungen schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen.
Ballins Lachen gefror innerhalb von Sekunden. «Eine Danziger Werft?»
Sören tat gleichgültig. «Die Schichau-Werft.»
Es war nicht zu übersehen, wie der Weltmann darum kämpfte, nicht die Beherrschung zu verlieren – warum auch immer. Langsam knöpfte er seinen Mantel auf und zog eine Taschenuhr hervor. «Wissen Sie was? Kommen Sie doch einfach in einer guten Stunde in mein Büro am Dovenfleeth.»
Die Zentrale der Hamburg-Amerika Linie lag unweit vom Dovenhof an der Ecke zur Lembkentwiete. Noch, denn niemandem in der Stadt konnte entgehen, wie sich die Hapag zukünftig im Stadtbild präsentieren würde. Seit knapp zwei Jahren wuchs zwischen Alsterdamm und Ferdinandstraße der künftige Firmensitz, ein opulenter Bau mit einer repräsentativen, elfachsigen Fassade zur Binnenalster, dessen Größe die führende Position der Hapag auch baulich widerspiegeln würde. Bis auf den neuen Dammtorbahnhof gab es kein Bauprojekt in der Stadt, das an Größe und bestimmt auch an Kosten mit diesem Neubau vergleichbar gewesen wäre. Nicht einmal der erst vor kurzem fertiggestellte Bankpalast der Dresdner Bank am Jungfernstieg konnte es an Würde und Pracht mit dem Neubau der Hapag-Verwaltung aufnehmen.
Bezeichnenderweise war es immer wieder der gleiche Architekt, den man mit diesen hochkarätigen Repräsentationsbauten beauftragte: Martin Haller. Nicht erst seit er dem neuen Hamburger Rathaus maßgeblich Gestalt gegeben hatte, schien er der Erste seiner Zunft zu sein, der für solche Aufgaben in Frage kam. Er errichtete Firmensitze, Verwaltungsbauten und Kontorhäuser gleichermaßen wie repräsentative Villen rund um die Alster. Er war der unbestrittene Primus inter Pares. So hatte er etwa den neuen Firmensitz der Laeisz-Reederei gebaut, und auch hier unten am Zollkanal reihten sich von ihm entworfene Kontorhäuser wie Perlen an einer Schnur: Dovenhof, Nobelshof sowie der Neubau der Transport AG am Zippelhaus.
Bestimmt war er auch der Architekt des bisherigen Firmensitzes der Hapag am Dovenfleeth gewesen. Das folgerte Sören zumindest aus dem ganzen Renaissance-Zierrat, der über die Fassade verteilt war wie auf einer Hochzeitstorte. Spätestens die verspielte Dachlandschaft mit kleinen Giebelchen, Erkern und einem krönenden Eckturm verwies auf Haller. Und über allem wehte die Flagge der Reederei in leichten Windstößen. Unbeeindruckt blickte Sören an der Fassade empor. Ein einziges Fenster über dem Portal war von Bauschmuck eingerahmt wie das Herrscherzimmer einer fürstlichen Residenz. Mit ziemlicher Sicherheit hatte Albert Ballin genau dort sein Büro.
Sören sollte mit seiner Vermutung recht behalten, aber als er das Zimmer betrat, war er doch überrascht. Er musste nur wenige Minuten warten, bis er zu Ballin vorgelassen wurde. Der Raum wirkte überfrachtet und düster. Die Wände waren bis zur Schulterhöhe mit dunklen Holzpaneelen getäfelt und darüber mit grüner Seide bespannt. Obwohl es noch helllichter Tag war, brannten bereits die tulpenförmigen Gasleuchten, zwischen denen gerahmte Fotografien der bedeutendsten Hapag-Schiffe hingen. Beherrscht wurde der Raum von einer übergroßen Ledergarnitur im englischen Stil, gegenüber der selbst Ballins massiver Schreibtisch zierlich aussah. Albert Ballin wirkte fast verloren zwischen dem düsteren Mobiliar. Erst jetzt fiel Sören auf, wie klein der Mann doch war. Gerade, auf den Zehenspitzen stehend, hätte er über die hohen Rückenlehnen der messingbeschlagenen Ohrensessel hinwegblicken können. Ballin forderte Sören auf, Platz zu nehmen, und bat seinen Sekretär, einen Tee zu bringen.
«Zu klein, mein lieber Doktor Bischop. Einfach zu klein», antwortete Ballin auf die Frage nach dem Grund des bevorstehenden Umzugs. «Ich hoffe, wir können den Neubau am Alsterdamm Ende des Jahres beziehen. Wir platzen aus allen Nähten.» Er rückte seinen Rock zurecht und strich sich lachend über den Bauch. «Im wahrsten Sinne des Wortes: Den Wintermonaten muss man Tribut zollen. Wenn man schon von kleiner Statur ist, gereicht einem jedes Gramm zu viel zum Nachteil.»
Ballin hatte seine Verstimmtheit von vorhin ganz offensichtlich vergessen. Seine Augen blickten Sören prüfend an, als wollte er erkunden, wie die selbstironische Komik von seinem Gast aufgenommen wurde. Auf Distanz schien Ballin keinen Wert zu legen. Während er sprach, beugte er sich weit über den Tisch, wobei auffiel, dass er seinen Kopf stets etwas schief hielt. So, als könnte er auf dem einen Ohr nicht sonderlich gut hören. Seine Mimik war phänomenal. Mathilda hatte recht gehabt, die Natur hatte es mit diesem Mann wirklich nicht gut gemeint. Nicht nur, dass er gnomenhaft klein wirkte, nein, seine Gesichtszüge wurden durch die dicken, geschwollenen Lippen und die fast kürbisartige Nase entstellt. Ganz im Gegensatz zu dieser Hässlichkeit stand der sanfte, fast ständig fragende Blick aus seinen freundlichen, dunkelbraunen Augen. Auch der Wohlklang seiner sonoren Stimme mochte nicht zum Rest seiner Erscheinung passen.
«Die Hapag hat im vergangenen Geschäftsjahr annähernd fünf Millionen Kubikmeter Frachtladung transportiert. Die Größenordnung ist so gewaltig, dass mir kein räumlicher Vergleich einfiele, der das Volumen auch nur annähernd verständlich machen könnte.» Ballin gab einen kurzen Seufzer von sich. «Es fällt mir zunehmend schwer, alles im Blick zu behalten. Das war bislang meine Devise.»
Sein Versuch, mit den Schultern zu zucken, erinnerte Sören an die mechanisch eingeschränkte Bewegung eines hölzernen Hampelmanns. Ballins große Hände und seine viel zu kurzen Arme schienen für den Bruchteil einer Sekunde außer Kontrolle zu geraten, und Sören erwartete bereits, sie könnten über seinem Kopf zusammenschlagen, aber die Geste endete nur mit dem Verrutschen von Ballins Weste. «Wahrscheinlich tanzen wir inzwischen einfach nur auf zu vielen Hochzeiten. Mit diesem Vorwurf werde ich fast täglich konfrontiert. Aber was soll ich machen? Angefangen hat alles mit der Aufnahme der Ostasienfahrten, dem Paketdienst. Das ist ja nicht gleich um die Ecke. Um die Zustände vor Ort kontrollieren und einschätzen zu können, bedarf es Wochen … was rede ich, es gehen Monate ins Land. Ich muss einfach lernen, unseren Agenten in Übersee Vertrauen zu schenken, wie sie die Lage einschätzen …»
Es klang, als wollte Ballin ihm sein Herz ausschütten, und Sören wagte es nicht, seinen Redefluss zu unterbrechen. «Und dauernd fragt mich jemand, ob ich nicht für dieses und jenes Amt zusätzlich zur Verfügung stehen würde. Mitte letzten Jahres habe ich mich dazu hinreißen lassen, den Vorsitz des Vereins Hamburger Reeder zu übernehmen.» Ballin machte eine rhetorische Pause und schüttelte verständnislos den Kopf. «Ein undankbarer Job, mein lieber Doktor Bischop. Die meisten Reedereien in der Stadt sind ja immer noch Familienunternehmen und glauben, man könne ohne das Reich überleben.» Er rieb sich die Hände und schlug sich auf die Schenkel wie ein kleiner Junge, der gerade beim Ditschen gewonnen hatte. Dann lachte er fast gehässig auf. «Einige der noblen Herren bereuen es wohl schon, dass man den kleinen Juden gerufen hat.»
«Durch Ihre Position als Direktor sollten Sie über den Dingen …»
«Generaldirektor», verbesserte Ballin und erhob sich kurz, als wolle er den Sitz seiner Kleidung kontrollieren. «Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Direktor und einem Generaldirektor?» Er ließ Sören keine Zeit zu antworten und imitierte mit einem spöttischen Grinsen auf den wulstigen Lippen einen militärischen Gruß.
«Als Generaldirektor ist man General. Da wird nicht mehr hinterfragt, ob eine Entscheidung sinnvoll ist oder nicht. Mit diesem Rang hat man mehr als ein Mitspracherecht – vor allem gegenüber den ostelbischen Bürokraten im Reich. Letztendlich ist es heute nur noch die Religion, die einen auf eine andere Stufe stellt. Bei Hofe wird vielleicht darüber hinweggesehen, zumindest bei offiziellen Anlässen. Aber sonst? Der Teufel steckt im Detail, mein lieber Doktor Bischop. Es ist der alltägliche Antisemitismus, der einem begegnet. Selbst hier in dieser weltoffenen Stadt. Man möchte in der Öffentlichkeit nicht mit einem Juden an einem Tisch sitzen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede …»
Sören dachte an die Speisehallen in der Auswandererstadt. Hatte Ballin nicht selbst dafür gesorgt, dass Juden und Christen ihr Essen in getrennten Räumlichkeiten zu sich nahmen? Oder war es vielleicht genau umgekehrt? Wollte man es den jüdischen Auswanderern nicht zumuten, gemeinsam mit jemandem an einem Tisch zu sitzen, der Schweinefleisch und unkoscher zubereitetes Essen zu sich nahm? Handelte es sich um die Besänftigung der Gemüter unterschiedlicher Kulturen, oder war es reiner Geschäftssinn gewesen, der ihn dazu veranlasst hatte, die Religionen räumlich voneinander zu trennen?
«Man muss der Realität Rechnung tragen.»
«In der Tat, mein Lieber, in der Tat. Aber ich langweile Sie mit meinen kleinen Sorgen. Sie sind ja aus einem anderen Grund gekommen.» Ballin nahm abrupt eine geschäftsmännische Pose ein. «Es ging um die … Schichau-Werft. Richtig?»
Er erhob sich und ging zu seinem Schreibtisch, wo er einem Ordner ein paar Blätter entnahm, die er rasch überflog. So schnell, dass man davon ausgehen konnte, dass er ihren Inhalt bestens kannte.
Ballin nahm seinen Klemmer vom Nasenrücken und schüttelte den Kopf. «Nein, wie ich bereits vermutete. Es gibt keinen aktuellen Vertrag mit Schichau in Danzig.»
Sören überlegte, mit welchem Stichwort er Ballin ein paar Informationen entlocken konnte. Viel wusste er ja nicht, und den Namen Otte wollte er keinesfalls selbst ins Spiel bringen. «Es hat wohl etwas mit dem Dampfer Kaiser Friedrich zu tun.»
«Ach.» Ballin klatschte in die Hände. «Das hätten Sie gleich sagen müssen, dass es um den Schnelldampfer geht. Wir nennen den Kahn nur noch Turtle. Kennen Sie die Geschichte?»
Sören schüttelte den Kopf.
«Der Kaiser Friedrich wurde vom Norddeutschen Lloyd bei Schichau in Auftrag gegeben. Ursprünglich sollte die Vulcan-Werft in Stettin den Auftrag erhalten, aber Schichau konnte deren Baupreis deutlich unterbieten. Und wie das dann so ist: Nach den ersten Probefahrten 1897 war schon klar, dass der Schnelldampfer die erforderliche Höchstgeschwindigkeit von über 21 Knoten nicht erreichen konnte. Das aber war vertraglich zwischen Lloyd und Schichau festgelegt. Die Werft hat mehrmals versucht, das Schiff umzubauen, aber der Pott kam einfach nicht in die Hufe. Tja – der Lloyd hat das Schiff letztendlich nicht abgenommen. Warum auch. Inzwischen war ja der Kaiser Wilhelm der Große in Stettin vom Stapel gelaufen. Und das Schiff ist nun wirklich schnell. Von Southampton nach Sandy Hook hat der Lloyd nur fünf Tage und zwanzig Stunden benötigt. Das war natürlich ein Desaster für Schichau.»
«Und was hat die Hapag mit dem Schiff zu tun?»
«Wir hatten das Schiff vor zwei Jahren für einige Fahrten unter Charter. Aber es war eine Katastrophe: zu langsam, zu hoher Verbrauch, und die Ausstattung ließ auch zu wünschen übrig.»
Sören erinnerte sich, in Ottes Papieren etwas von 24 Knoten und 50 000 PS gelesen zu haben. «Wird es denn in absehbarer Zeit eine Neuauflage der Transatlantik-Wettfahrten zwischen Hapag und Lloyd geben?»
«Wie kommen Sie darauf? Nein, ganz sicher nicht. Die Schnellpassagen überlässt die Hapag schon seit einiger Zeit dem Lloyd. Für uns heißt die Devise: Fracht vor Passagierfahrt. Außerdem ziehen wir mit dem Lloyd inzwischen an einem Strang. Der ruinöse Ratenkrieg zwischen den Gesellschaften hat ein Ende. Seit zwei Jahren fahren wir sogar im gemeinsamen Liniendienst nach Ostasien. Im Wechsel. Natürlich geben wir das Passagiergeschäft nicht ganz auf, aber die Passagen auf unseren Schnelldampfern gehören nicht mehr zum Kerngeschäft. Entsprechend gibt es auch keine Wettfahrten mehr. Als der Lloyd den Kaiser Wilhelm der Große in Dienst stellte, haben wir die ersten P-Dampfer geordert.» Ballin deutete auf ein Foto an der Wand.
«Es sind in erster Linie Frachtschiffe, auf denen wir aber auch eine begrenzte Anzahl vorzüglicher Kabinen haben. Da wir die Reisegeschwindigkeit und damit auch den Kohleverbrauch herabgesetzt haben, können wir unsere Kapazitäten wesentlich effizienter nutzen und haben uns gleichzeitig eine neue Klientel gesichert, die mehr Wert auf Luxus und Reisekomfort legt als auf eine möglichst schnelle Überfahrt. Die halsbrecherischen Fahrten auf den Schnelldampfern sind ja häufig genug mit gewissen Einbußen verbunden, was das körperliche Wohlbefinden der Passagiere betrifft. Es ist eben nicht jedermanns Sache, mit mehr als 20 Knoten Geschwindigkeit durch kabbeliges Meer zu stampfen. Ich selbst empfinde dabei auch häufig genug Unbehagen.»
Ballin ging zu einer anderen Fotografie, die ein kleineres Schiff mit dem eleganten Bug eines Klippers zeigte. «Ein ganz anderer Sektor, auf den wir uns in Zukunft noch mehr konzentrieren wollen, ist die Lust- und Promenadenfahrt. Dafür lassen wir First-Class-Dampfer wie die Prinzessin Victoria Luise bauen.»
Sören ging näher an die Abbildung heran und betrachtete das Schiff. Dann fiel ihm ein, dass Martin vorhatte, im nächsten Monat eine Kreuzfahrt auf so einem Schiff der Hamburg-Amerika Linie zu machen. «Und diese Schiffe lassen Sie auch nicht bei der Schichau-Werft bauen?»
Ballin reagierte etwas zu heftig. «Herr Doktor Bischop. Ich wiederhole mich nur ungern. Es gibt zurzeit keinerlei Verträge zwischen der Hapag und der Schichau-Werft.» Ballins Augen blitzten nervös auf. «Unsere P-Dampfer geben wir seit Anbeginn auch bei Harland & Wolff in Belfast in Auftrag, und unser Kreuzfahrer ist hier im Hafen bei Blohm + Voss vom Stapel gelaufen. So, wie die meisten unserer Schiffe. – Darf ich Sie jetzt fragen, wer auf die Idee kommt, es gäbe irgendwelche vertraglichen Vereinbarungen zwischen der Hapag und der Schichau-Werft?» Ballin fixierte Sören ungeduldig.
«Ich möchte meinen Mandanten, wie Sie sicher verstehen werden, nicht namentlich ins Spiel bringen, aber es handelt sich um ein Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Schiffsmotoren versteht. Vor einiger Zeit gab es eine Anfrage der Schichau-Werft bezüglich der Kosten für ein neumodisches Antriebsaggregat, dessen Einsatz man für den Bau eines größeren Schiffes in Erwägung ziehen würde. Als Kommittenten des in Aussicht gestellten Auftrags nannte die Werft meinem Mandanten gegenüber die Hapag, und da sich das Auftragsvolumen in einer Größenordnung bewegt, die selbst für einen Kostenvoranschlag gewisse Vorinvestitionen erforderlich macht, bat man mich um eine wohlwollende Prüfung.»
Ballins Gesichtsausdruck hatte sich schlagartig verändert. «Das ist absurd», reagierte er merklich. Auch wenn er sich Mühe gab, seinem Gast gegenüber höflich zu bleiben, war nicht zu übersehen, dass er verärgert war. «Und was hat der Kaiser Friedrich damit zu tun?»
Sören hatte den Eindruck, dass Ballin die Sache zu schaffen machte. «Der Name des Schiffes fiel in diesem Zusammenhang. Für meinen Mandanten klang es jedenfalls so, als wenn es zwischen der Werft und Ihrem Unternehmen bezüglich dem Kaiser Friedrich irgendwelche Vereinbarungen gäbe.» Spätestens jetzt hätte Ballin den Briefwechsel mit Waldemar Otte anführen müssen. Aber er tat es nicht.
«Eine völlig haltlose Behauptung.» Innerhalb weniger Minuten hatte sich Ballins Miene vollständig verändert. Das gutmütige Lächeln war aus seinem Gesicht entschwunden. Seine Mundwinkel zuckten nervös, und der Blick signalisierte eine gefährliche Mischung aus Missmut und Feindseligkeit.
Die Situation war Sören unangenehm, und die raschen Stimmungsschwankungen machten ihm den Mann unheimlich. Aber Ballins Launenhaftigkeit zielte anscheinend nicht allein auf Sören ab. In diesem Augenblick öffnete Ballins Sekretär die Tür und kündigte einen Mr. Pirrie an, der soeben eingetroffen sei und im Vorzimmer warte.
«Nicht jetzt!», zischte ihm Ballin scharf entgegen, und der Sekretär schloss die Tür sofort wieder.
Sören erwartete jeden Augenblick, dass Ballins Erregtheit in einen Tobsuchtsanfall wechseln könnte, und er beschloss, sich zu empfehlen. «Jedenfalls konnten wir uns so einen komplizierten Briefwechsel zu einer lapidaren Angelegenheit ersparen.» Sören stand auf und dankte Ballin für seine Offenheit.
«Ich nehme doch wohl an, dass sich das Ganze damit erledigt hat», erwiderte Ballin, während er seinem Gast die Hand schüttelte. «Und falls es noch weitere ungeklärte Fragen geben sollte, dann zögern Sie nicht, mich erneut aufzusuchen.»
Sören war sich sicher, dass er schneller auf dieses Angebot zurückkommen würde, als es Ballin recht sein würde.