Epilog

«Die Personen und die Ereignisse sind unauflöslich miteinander verbunden; davon abzuweichen, etwas zusammenzufassen oder zu unterdrücken, würde beim Leser den Eindruck von einem ausgekochten Schwindel erwecken. Tatsächlich betrat ich noch gewagteren Boden, indem ich darauf bestand, dass die Geschichte so ausführlich und eingehend wie möglich sein müsse, freimütig und ehrlich, um zu unterhalten und so einen großen Leserkreis anzuziehen. Selbst Anonymität sei unerwünscht. Dennoch seien gewisse Vorsichtsmaßnahmen zwingend notwendig …»

 

Erskine Childers, The Riddles of the Sands, Vorwort 1903

 

Wie bereits in meinen vorangegangenen historischen Romanen sind auch in der «Schattenflotte» Dichtung und Wahrheit eng miteinander verwoben. Es ist eine Gratwanderung zwischen historischer Realität und Fiktion, wobei das Jahr der Handlung bisher jeweils durch jene historischen Eckdaten bestimmt wurde, die für die Entwicklung Hamburgs eine besondere Bedeutung gehabt haben. Im vorliegenden Roman, dessen Handlung am Neujahrstag 1902 beginnt, ist dieser Sachverhalt anders.

Die Vorgänge, um die sich meine Geschichte rankt, sind von nationaler wie internationaler Bedeutung. Aber die Fortsetzung der Geschehnisse, die schließlich in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mündet, liegt für meine Protagonisten, fiktive wie auch reale Personen, noch in weiter Ferne und ist – sosehr sie auch von Gefahren und Risiken sprechen – zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht vorhersehbar; sie erscheint erst aus heutiger Sicht plausibel.

Unbestritten ist, dass die Hochrüstung der Reichsmarine unter Wilhelm II. als Drohgebärde gegenüber England entscheidend zur Konfrontation zwischen beiden Ländern und zum Ausbruch des Weltkriegs beigetragen hat. Auch wenn die Beweggründe Wilhelms eine gewisse Interpretationsvielfalt zulassen, so hatte er den Weg, den Deutschland beschreiten sollte, seit 1900 (Hunnenrede in Bremerhaven), spätestens jedoch mit den Worten eindeutig vorgegeben, die er anlässlich einer Unterelbe-Regatta 1901 formulierte: «Wir haben uns einen Platz an der Sonne erkämpft (…), unsere Zukunft liegt auf dem Wasser.» In Admiral Tirpitz fand Wilhelm II. schließlich denjenigen, der seine Allmachtsphantasien propagandistisch zu vermarkten und unter dem «Deckmantel» Risikoflotte auch politisch zu legitimieren wusste. Nicht nur bei den Unternehmen des Reichs, die wirtschaftlich von der Aufrüstung zur See profitierten (Krupp, Borsig, AEG), sondern auch in den weltweit führenden Reedereien (Lloyd und Hapag) fanden Wilhelm II. und Tirpitz willige Kooperationspartner, denen eine Flotte zum Schutz ihrer wirtschaftlichen Interessen gelegen kam.

Schon vor 1900 wurden vor allem in England Stimmen laut, die behaupteten, Unternehmen wie die Hapag seien in Wirklichkeit Werkzeuge des Deutschen Reichs und deren Schnelldampfer seien unter der Vorgabe konstruiert worden, sie im Kriegsfall schnell in Hilfskreuzer umwandeln zu können. Auch wenn diese Behauptung stets abgestritten wurde, verifizieren lässt es sich kaum, da die Hapag stets penibel darauf geachtet hat, die Namen ihrer Aktionäre nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Es sei mir also verziehen, wenn ich mir diesen Umstand zunutze gemacht habe, die Verstrickungen von Handels- und Kriegsmarine als Erklärungsmuster der Geschehnisse in einem Kriminalroman zu verwenden. Gerade Hamburg bietet sich nicht nur aufgrund seiner topographischen Lage als Ort für eine solche Verdichtung an, sondern vor allem dank seiner wirtschaftlichen Infrastruktur. Die Werft Blohm + Voss entwickelte sich in den Folgejahren zu einem Rüstungsbetrieb par excellence, und der Leitspruch der Hamburg-Amerika Linie (Hapag) lautete ganz unbescheiden: Unser Feld ist die Welt.

Generalsekretär der Hapag war Albert Ballin (1857  1918), der das Unternehmen wie kein Zweiter verkörperte und durch seine bilateralen Beziehungen gleichwohl zur tragischen Figur wurde. Der Frage, inwieweit es Naivität oder wirtschaftliche Interessen waren, weshalb sich Ballin so lange hatte blenden lassen, soll hier nicht nachgegangen werden. Festzustellen bleibt, dass er Wilhelm II. und Admiral Tirpitz sowie die Flottenrüstung lange Zeit mit vollem persönlichem Einsatz unterstützte. Nach 1908, als die Fakten und der eigentliche Zweck der Hochrüstung für jedermann erkennbar waren, versuchte Ballin noch zu schlichten und bis zum Ausbruch des Weltkriegs zu vermitteln, aber die Fäden waren ihm längst entglitten. Dem Untergang des Reichs folgte der Zusammenbruch des Unternehmens – einem Kapitän gleich blieb Ballin auf dem sinkenden Schiff: Einen Tag nachdem Mitglieder des revolutionären Arbeiter- und Soldatenrates auch das Verwaltungsgebäude der Hapag am Alsterdamm besetzt hatten, starb Ballin, angeblich durch eine unabsichtliche Falschdosierung seiner Medikamente.

Von 1884 bis 1885 hatte Albert Ballin an der Moorweidenstraße gewohnt, danach zog er in die Heimhuderstraße. 1902 bezog er mit seiner Familie ein Haus in der Badestraße, bis er sich 1908 eine große Villa in der Feldbrunnenstraße bauen ließ, in der auch Wilhelm II. bei seinen Besuchen in Hamburg häufig zu Gast war. Trotz der freundschaftlichen Beziehungen zum Monarchen (zusammen mit James Simon, Fritz von Friedländer-Fuld u. a. gehörte Ballin zum Kreis der sogenannten Kaiserjuden) blieb Ballin auf dem gesellschaftlichen Parkett der Stadt stets ein Außenseiter. Obwohl man den Erfolg seiner Arbeit entsprechend zu würdigen wusste, war Ballin zu keinem Zeitpunkt Mitglied in einem Gremium der Stadt. Er stand lediglich für kurze Zeit an der Spitze einiger Handels- und Seefahrtvereinigungen, so des Hamburgischen Vereins Seefahrt, der Kolonialgesellschaft sowie des Vereins Hamburger Reeder. Deutlich mehr Aktivitäten zeigte Ballin als Vorsitzender der Hamburger Sektion des Flottenvereins.

Der Flottenverein war am 30. April 1898 durch Wilhelm Fürst zu Wied und Alfred Tirpitz gegründet worden, um die Flottenbaupläne Wilhelms II. im Reich populär zu machen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte der Verein mehr als eine Million Mitglieder, und vor allem in bürgerlichen Kreisen entwickelte sich über die Jahre fast eine Flottenmanie, die darin gipfelte, kleine Kinder mit Matrosenanzügen und ebensolchen Kleidern auszustaffieren. Der mit der Flottenrüstung einhergehende wirtschaftliche Aufschwung und die damit verbundene Schaffung neuer Arbeitsplätze erklären die euphorische Stimmung und die breite Unterstützung des Flottenprogramms, hinzu kamen die Aufstiegschancen in Form der höheren militärischen Laufbahn, die den bürgerlichen Kreisen zumindest im Heer bislang verwehrt geblieben war. Die Schiffe Seiner Majestät mussten nicht nur gebaut, sondern auch besetzt werden. Schon nach wenigen Jahren begann durch das Bauprogramm ein kaum mehr zu kontrollierender Wettlauf um immer stärkere, größere und effizientere schwimmende Festungen.

Das in diesem Roman fiktiv mit Turbinenantrieb und Schlingertanks ausgestattete Superschiff Kaiser Karl der Große wurde wenige Jahre später in England Realität: die 1906 in Portsmouth fertiggestellte Dreadnought war 160 Meter lang, hatte 22 800 BRT, eine bis zu 30 Zentimeter starke Armierung, Geschütze mit einem Durchmesser von 30,5 Zentimeter und war dank eines Antriebs mittels Parsons-Turbinen über 21 Knoten schnell. Quasi über Nacht waren dadurch alle Schiffe des Reichs veraltet. Aber die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und die Dimensionen wuchsen weiter. Der 1913 bei Blohm + Voss gebaute Panzerkreuzer Derfflinger war schließlich über 200 Meter lang und 29 Meter breit und erreichte mit einer Maschinenleistung von 63 000 PS eine Geschwindigkeit von 26,5 Knoten. Nach Kriegsbeginn wurden 1915 auf derselben Werft über 30 Meter breite Linienschiffe mit Geschützen von 38,1 Zentimeter Durchmesser gebaut. In weiser Voraussicht der zukünftigen baulichen Dimensionen hatte man bereits 1907 den Kaiser-Wilhelm-Kanal, der vorher nur für Schiffe von maximal 135 Meter Länge, 20 Meter Breite und einem Tiefgang von 8 Metern passierbar war, den Bedürfnissen angepasst, damit die nun mehr als 50 Millionen Goldmark teuren Linienschiffe der Marine den strategischen Verkehrsweg nutzen konnten. Gegenüber diesen Kosten wirkten die von Tirpitz 1898 vom Reichstag eingeforderten 409 Millionen Reichsmark, um den Bau von 65 Schiffen in sechs Jahren zu finanzieren, fast wie eine Kleinigkeit.

Alfred Tirpitz (1849  1930) war 1892 zum Stabschef der Marine ernannt worden. 1897 bis 1916 war er Staatssekretär im Reichsmarineamt (ab 1898 Marineminister), wurde 1900 geadelt und 1911 zum Großadmiral befördert. Die Hochrüstung der deutschen (Angriffs-)Flotte «verpackte» er geschickt als Notwendigkeit, England vom Risiko einer militärischen Intervention abzuhalten (Risikoflotte). Dabei verstand er es nicht nur, mit einer entsprechenden Propagandamaschine (Reichsnachrichtenbüro des Reichsmarineamts, Flottenverein) die Massen für die Flottenpolitik des Reichs zu begeistern, sondern ebenfalls namhafte Großindustrielle wie Friedrich Alfred Krupp als Investoren zur Finanzierung der Flotte zu mobilisieren. Ob es dazu – wie in diesem Roman geschildert – geheime Konten gegeben hat und ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen ist, darüber gibt es keine verlässlichen Quellen. Der hier dargestellte Sachverhalt ist zwar eine denkbare Variante, bleibt allerdings Spekulation. Auch die in diesem Zusammenhang erwähnte Verstrickung der Bankhäuser und Wirtschaftsunternehmen ist von mir frei erfunden, wobei ich es mir herausgenommen habe, die damaligen Geschäftsführer dieser Institute bei ihrem richtigen Namen zu nennen, um die im Roman geschilderten historischen Bezüge glaubwürdig darstellen zu können. Es gibt allerdings keine Beweise dafür, dass Max Schinckel (Norddeutsche Bank), Max Warburg (Bankhaus Warburg), Carl Fürstenberg (Berliner Handelsgesellschaft), Salomonsohn (Diskontogesellschaft), Arthur von Gwinner sowie Karl Hellferich (Deutsche Bank Berlin), Adolf von Hansemann (Diskontobank), Paul von Schwabach, James Simon oder Fritz von Friedländer-Fuld in irgendeiner Weise in derartige Geschäfte oder Transaktionen verwickelt waren.

Ähnlich verhält es sich mit allen historisch verbürgten Personen, die natürlich nicht mit einer von mir frei erfundenen Handlung in Verbindung gestanden haben können. So etwa die Angestellten der Werft Blohm + Voss, Wroost, Stössel, Kaufmann, Masur, Dreyer und Winter, deren Namen tatsächlich überliefert sind, sowie die auf der Überführungsfahrt des Kaisers Karl des Großen anwesenden Militärs von Heeringen, von Koester, Hans Zenker, Hipper, Strasser, Scheer und Raeder, wobei die Person des Feldwebels von Bachtingen allein meiner Phantasie entsprungen ist. Die Überführungsfahrt des Kaisers Karl des Großen hat hingegen tatsächlich am Morgen des 9. Januar 1902 stattgefunden – nachdem Werftkapitän Wahlen das Schiff bei der ersten Überführungsfahrt 1901 vor Neumühlen so auf Grund gesetzt hatte, dass es teilweise demontiert und in die Werft zurückgeschleppt werden musste. Die Zeit der Überholung wird hier zum Anlass genommen, den «geheimen» Umbau des Schiffes zu erklären, der natürlich in der dargestellten Form nie stattgefunden hat, obwohl dies technisch durchaus denkbar gewesen wäre.

Zu dieser Zeit gab es in Deutschland bereits Versuche, den Turbinenantrieb bei kleineren Schiffen einzusetzen. Die auf der Krupp-Germania-Werft und bei AEG entwickelten Anlagen schafften es hingegen nie zur Serienreife, und auch die Experimente der Schichau-Werft in Danzig, Torpedoboote mit eigens entwickeltem Turbinenantrieb zu realisieren, scheiterten. Erst Jahre später wurden Parsons-Turbinen unter Lizenz von der Turbinia AG Mannheim, später Turbinia-Deutsche Parsons Marine AG Berlin sowie Brown Boveri & Cie in deutschen Schiffen verbaut. Für alle Privatwerften, die Verträge zum Bau von Schiffen der Marine unterzeichneten, so etwa die Vulcan-Werft in Stettin, die Schichau-Werft in Danzig, Blohm + Voss in Hamburg oder die Seebeckwerft in Geestemünde, gab es Geheimhaltungsklauseln, deren Einhaltung von der Marine scharf kontrolliert wurde.

Der Arbeitsablauf der Nieterkolonnen auf den Werften entsprach der hier geschilderten Methode, wobei die einzelnen Gangs örtlich unterschiedlich zusammengesetzt gewesen sein mögen. Ab 1887 gab es vereinzelte Versuche mit hydraulischen Niethämmern auf Wasserdruckbasis, der Einsatz von Presslufthämmern setzte sich jedoch erst nach 1902 durch. Die Schlingertanks, welche die Neigung «rollender» Schiffe in schwerer See von üblichen 16 Grad auf bis zu 5 Grad reduzierten, waren eine Erfindung von Hermann Frahm, einem Neffen des Werftgründers Ernst Voss, der an der Technischen Hochschule Hannover Allgemeinen Maschinenbau und Schiffbau studiert hatte und seit 1898 bei Blohm + Voss in der Abteilung für Wissenschaftliches Versuchswesen arbeitete. Aufgrund seiner Entwicklungen wurde Frahm 1904 zum Technischen Direktor der Werft ernannt. Die Frahm’schen Schlingertanks wurden offiziell erst 1908 der Öffentlichkeit vorgestellt, aber es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass erste Experimente mit den Tanks – insbesondere auf Wunsch der Marine – deutlich früher zu datieren sind.

Die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (Hapag) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Schifffahrtsgesellschaft der Welt. Bereits vor der Jahrhundertwende hatte man gemeinsam mit dem Norddeutschen Lloyd die traditionelle britische Vorherrschaft zur See im Bereich der Handelsmarine gebrochen. Die größten, schnellsten und luxuriösesten Dampfer auf den Weltmeeren trugen am Heck die Flagge Schwarz-Weiß-Rot. Einen Großteil des Umsatzes erwirtschafteten Hapag und Lloyd dabei mit dem Transport von Auswanderern nach Amerika. Eigens zu deren Unterbringung hatte die Hapag 1892 Logierhäuser (Baracken) am Amerika-Kai eingerichtet, aber aufgrund der Choleraepidemie verhängte der Hamburger Senat gegenüber dem Unternehmen rigide Restriktionen, da man einen Zusammenhang zwischen dem Ausbruch der Seuche und den vornehmlich aus Russland stammenden Emigranten befürchtete. Erst nachdem Albert Ballin damit drohte, das Unternehmen notfalls nach Bremen zu verlegen, lenkte der Senat ein und überließ der Gesellschaft zum Bau einer in sich abgeschlossenen Anlage für Auswanderer ein Areal auf der Veddel. In diesem Zusammenhang wurde das Unternehmen in «Hamburg-Amerika Linie» umbenannt. Die Auswandererstadt wurde im Dezember 1901 eingeweiht und bis 1907 mehrfach erweitert. Trotz der vorbildlichen hygienischen Bedingungen und einer eingehenden medizinischen Untersuchung, welcher die Emigranten während ihrer zweiwöchigen Quarantäne gleich mehrfach unterzogen wurden, kam es dennoch immer wieder dazu, dass Auswanderern an den amerikanischen Kontrollstationen aufgrund vermuteter Krankheiten die Einreise verwehrt wurde. Vor allem eine ansteckende Bindehautentzündung (Trachoma) galt den amerikanischen Behörden dabei als Ausschlussgrund.

Seit 1880 hatten die Dampfer der Hapag ihren Liegeplatz am Amerika-Kai. Der Ausbau der Handelsflotte zog allerdings einen schnell wachsenden Platzbedarf nach sich, sodass der Großteil der Dampfer von 1893 bis 1903 am Petersenquai im Baakenhafen abgefertigt wurde. 1897 nahm das Unternehmen zudem den benachbarten O’Swaldkai im Hansahafen in Beschlag, und nachdem 1903 die seit 1898 im Ausbau befindliche Hafenanlage auf Kuhwärder fertiggestellt worden war, besetzte die Hapag fast ein Viertel der gesamten Hamburger Hafenanlage. Dem stetigen Wachstum des Unternehmens wurde auch durch den Bau immer größerer Verwaltungsbauten Rechnung getragen. Bis 1890 hatte die Reederei in der Deichstraße residiert, danach bezog man das seit 1887 geplante Gebäude Dovenfleet 18  20 zur Ecke Lemkentwiete, das genau wie der spätere Firmensitz am Alsterdamm (1903 fertiggestellt), dem heutigen Ballindamm, von Martin Haller entworfen wurde.

Der hier im Roman erwähnte Übernahmeversuch der Hapag durch den amerikanischen Großunternehmer und Bankier John Piermont Morgan (Spitzname Jupiter) konnte 1902 durch geschicktes Taktieren von Ballin abgewendet werden. Zuvor hatte die von Morgan eigens zu diesem Zweck gegründete International Mercantile Marine Co. (IMMC) bereits diverse europäische Reedereien aufgekauft. So auch die britische White-Star-Linie, die unter anderem im Besitz von William Pirrie war, dem Chef der nordirischen Werft Harland & Wolff, bei der auch die Hapag seit 1897 ihre ersten P-Dampfer bauen ließ. Tatsächlich waren Pirrie und Ballin, der fließend englisch sprach, miteinander befreundet. Eine Verbindung dieser Freundschaft zu den Geschehnissen in diesem Roman ist hingegen von mir erfunden. Nicht erfunden ist die Geschichte des von der Danziger Schichau-Werft 1898 gebauten Schnelldampfers Kaiser Friedrich. Das Schiff, das aufgrund mangelnder Geschwindigkeit vom Norddeutschen Lloyd nicht abgenommen wurde, war von der Hapag 1899 für zehn Fahrten gechartert worden und lag danach elf Jahre unbenutzt in Bremerhaven, Danzig und Hamburg.

Die Strukturierung und personelle Besetzung der Hamburger Polizeibehörde entsprach dem in diesem Roman geschilderten Zustand. Leiter der Behörde war seit 1893 Dr. Gustav Roscher (1852  1915). Roscher war ausgebildeter Jurist, und unter seiner Führung war das bisherige Konstablerkorps zur militärisch ausgerichteten Schutzmannschaft umstrukturiert worden. Die Polizeiräte Schön und Rosalowsky standen an der Spitze der Kriminal- und Politischen Polizei. Die antropometrische Kartei wurde unter Roscher eingeführt, sie bildete das Herzstück der polizeilichen Fahndung jener Jahre. Die in diesem Roman am Rande erwähnten Fälle und gerichtlichen Verfahren sowie die Namen der Staatsanwälte am Landgericht sind Berichten der damaligen Tagespresse entnommen. Oberwachtmeister Völsch, Leutnant Rosskopf, Hauptmann Beck und Georg Willich sind Produkte meiner Phantasie.

Ebenso von mir erfunden sind natürlich Sören Bischop und dessen familiäres und persönliches Umfeld, Martin Hellwege sowie die namentlich genannten Sozialdemokraten um Willi Schmidlein. Auch einen Simon Levi oder Waldemar Otte hat es in diesem Zusammenhang niemals gegeben. Genauso kann die Beteiligung aller namentlich genannten Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben der Stadt mit meiner fiktiven Geschichte nicht stattgefunden haben. Aus diesem Grund ist auch die Freundschaft zwischen Sören Bischop und Adolph (Adi) Woermann (1847  1911) sowie deren gemeinsame frühere Schulzeit fiktiv. Als erfolgreicher Hamburger Kaufmann und Reeder galt Woermann bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts als «King of Hamburg». Er war Mitglied der Bürgerschaft, Reichstagsabgeordneter, Präses der Handelskammer und einige Jahre stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat bei Blohm + Voss. Durch den Afrika-Handel seiner Firma waren seine politischen Interessen stark durch den Kolonialisierungsgedanken geprägt, weshalb er auch die Interessen des Reichs und die nationale Begeisterung für Kolonien tatkräftig unterstützte. Den Firmensitz an der Großen Reichenstraße (Afrika-Haus) ließ sich Woermann 1899/​1900 nach einem Entwurf der Architekten Martin Haller und Herrmann Geißler erbauen. Frisch renoviert, präsentiert sich das Gebäude heute noch eindrucksvoll dem Betrachter.

Auch der ehemalige Grenzgang zwischen Altona und St. Pauli ist in Rudimenten noch erhalten. Die Namensgebung der Straßenzüge wurde mit dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937/​38 vereinheitlicht. Die Gerüchte, dass es im späteren Chinesenviertel rund um die heutige Schmuckstraße geheime Keller und Tunnel zwischen den Häusern gegeben haben soll, halten sich bis heute. Gefunden werden konnte bislang keiner von ihnen