38

»Du bist zornig und verwirrt, das habe ich schon verstanden«, sagte Sara sanft. »Ich weiß, dass du keine weiteren Tests oder Tabletten oder Hypnose mehr willst. Ich bin mit alledem auch fertig.«

Grays Blick zuckte zu ihr hinüber. Endlich hatte sie seine Aufmerksamkeit. »Kannst du mir noch dieses eine letzte Mal vertrauen?«, fragte sie ihn. Als er den Blick nicht abwandte, atmete Sara tief durch und fuhr fort: »Mein Freund Alexander hat angeboten, dir zu helfen.«

»Das stimmt, Mensch«, erklang eine starke, klare, männliche Stimme hinter Sara. »Du solltest dich besser bereitmachen, denn ich komme wegen deines Blutes.«

Sara blickte auf und sah Alexander den Raum betreten. Er hinkte noch immer leicht, da seine Verletzung, die er sich im Kampf der letzten Nacht zugezogen hatte, noch heilte. Dillon hatte ihn vor einer Stunde mit ihrem Atem geheilt, aber laut Leza hatte der Stich Knorpelgewebe durchtrennt, und es würde gute vierundzwanzig Stunden dauern, bis die Verletzung vollständig verheilt wäre.

»Meine Brüder werden mir helfen«, sagte Alexander zu Sara, obwohl sein Blick auf Gray ruhte. »Warum keine Feier daraus machen?«

»Eine Debütanten-Feier«, knurrte Lucian und schlenderte ins Zimmer, Nicholas hinter ihm, wobei beide Vampire wie Punchingbälle mit Augen wirkten.

Sara merkte, wie sich Grays Aufmerksamkeit von den geschwärzten Fenstern zu den dunklen Augen der Brüder verlagerte. »Brauchen wir wirklich alle?«

»Ja.« Alexander deutete auf seine Brüder. »Nicky, Lucian, haltet ihn fest.«

Sara sprang auf. »Nein, Alexander, bitte. Er hasst es, so eingeschränkt zu werden.«

»Vielleicht.« Alexanders Blick war auf Gray gerichtet. »Aber dieses Mal nicht. Schau.«

Die Ader an Saras Hals pochte, und sie wandte sich wieder zu Gray um. Sein Blick ruhte auf Alexander, das Kinn leicht gereckt, und seine Miene … Sie blinzelte. Was war das in seinen metallgrauen Augen? War das Interesse und ein Hauch von … Vertrauen? Ihr Herz machte einen Satz. Gott, wie lange war es her, seit er sie so angesehen hatte?

Alexander trat kopfschüttelnd neben Gray. »Er weiß, dass er zu kämpfen haben wird, aber er will, dass es geschieht.«

»Woher weißt du das?«, fragte Sara, deren Empfindungen in ihr tobten. Vor allem rangen Angst und Hoffnung miteinander.

»Bitte vertrau mir, Sara«, sagte Alexander.

Nicholas und Lucian versammelten sich um das Bett, und Nicholas legte eine Hand auf Grays Schulter. »Sei ganz ruhig, Bruder.«

Gray atmete tief ein und streckte den Brüdern die Arme entgegen, damit sie ihn festhielten. Saras Unterkiefer sank herab, und sie schüttelte den Kopf. Er wusste, er begriff, dass das, was auch immer ihm Alexander anbieten mochte, das einzig Hilfreiche war. Aber woher?

»Vielleicht möchtest du dich einen Moment umdrehen«, warnte Alexander sie, während seine Hände Grays Schädel umfassten.

»Auf keinen Fall«, sagte Sara und merkte, dass Lucian zu ihr blickte und seine teuflischen Augen vor widerwilligem Respekt aufblitzten.

Alexander schlug rasch zu, und Sara zuckte zusammen, als ihr Bruder die Luft einsog und sein Körper augenblicklich starr wurde. Bitte, flehte sie schweigend, und ihr eigenes Versagen kümmerte sie plötzlich überhaupt nicht mehr. Sie wollte einfach nur, dass Gray gesund wurde, wieder sprach, eine Chance auf ein wirkliches Leben bekam.

Sein Körper zuckte jäh, und als die Brüder seine Arme und Beine herunterdrückten, um ihn ruhig zu halten, schrie Gray auf und bekam regelrechte Krämpfe.

Anders als Trainers übles Blut und kranker Geist, war Grays Blut ungewöhnlich wohlschmeckend für einen Menschen, und sein Geist war offen und bereit. Alexander bewegte sich erfahren durch die Erinnerungen des Mannes, bahnte sich seinen Weg in der Zeit zurück und lief in großen Sprüngen, bis er unerwartet auf ein Bild stieß, das von emotionaler Last behaftet war. Es dauerte nur Sekunden, das von ihm Gesuchte zu finden und von dem geistigen Weg abzuweichen, um die beiden kleinen, unversehrten Kinder zu sehen, die er gesucht hatte: Gray und Sara. Beim Bild der kleinen Sara zog sich Alexanders Brust zusammen, und die Versuchung zu bleiben und zu beobachten, wie sie auf einen Baum kletterte, mit der Mühelosigkeit eines Äffchens barfüßig die Rinde hinauflief, war mächtig. Aber er hatte geschworen, im Kopf ihres Bruders sehr vorsichtig und rasch voranzugehen, und so drängte er vorwärts, flog durch Zeittüren, eine nach der anderen, bis er zu einem Spätsommerabend kam, an dem eine junge Sara mit einer Kerze in den Händen die Treppe hinauf in ein stockdunkles Haus ging.

»Geh wieder in dein Zimmer und hör auf, mir zu folgen, Gray«, flüsterte sie zu jemandem hinter sich.

Aber der Junge musste ihr weiterhin gefolgt sein, weil auch Alexander Sara die Treppe hinauf und einen Flur hinab folgte. An einer geschlossenen Tür legte sie einen Finger auf die Lippen. »Bleib hier«, flüsterte sie. »Ich bin gleich zurück.«

Sara öffnete die Tür und verschwand dahinter. Alexander spürte Grays Ungeduld, seine Sorge. Dann öffnete sich die Tür wieder, und Sara eilte heraus, ein Buch fest an sich gedrückt, die Kerze vergessen. »Ich habe es«, sagte sie aufgeregt. »Es war unter dem Bett.«

Gray lief ihr hinterher, die Treppe hinab und auf ihre Schlafzimmer zu. Sie waren erst einen Moment in ihren Zimmern, als im Haus Chaos ausbrach. Alles geschah gleichzeitig. Alexander roch Rauch und hörte einen Mann schreien. Er sah oben an der Treppe Feuer, wandte sich dann um und erblickte Sara. Ihr Gesicht war bleich und erschrocken, als sie erkannte, was sie getan hatte. Sie drängte sich an Gray vorbei und lief schreiend und weinend auf die Treppe zu. Aber eine Frau kam eilig aus einem anderen Raum herbei, packte sie und hielt sie fest.

Alexander sah nur das Profil der Frau, aber etwas an ihr hinderte ihn daran, sich auf Gray und das Bedürfnis des Jungen zu konzentrieren, die Treppe hinauf zu seinem Vater zu gelangen – etwas an der Frau ließ seinen Puls rasen. Er hielt die Erinnerung an, umkreiste sie, nahm einen Bestandteil nach dem anderen auf, bis er das Gesicht der Frau sah.

Nein. Sie war keine Menschenfrau.

Celestine.

Der Schock drückte Alexanders Lunge zusammen, er verlor die Konzentration und stürzte in die Vergangenheit zurück, während sein Geist darum rang zu verstehen, was er gerade gesehen hatte. Bilder prasselten auf ihn ein: Celestine, wie sie einen Balas aus ihrem Körper presste – einen neugeborenen Balas in den Armen hielt.

»Konzentriere dich, Alexander«, hörte er Nicholas streng drängen. »Nimm ihm die Erinnerung an das Feuer.«

Aber Alexander verweilte und konnte nicht aufhören, die Unreinen-Frau zu betrachten, die er ebenso gut kannte wie seine eigenen Brüder. Wie konnte das sein? Unmöglich. Und doch war sie dort. Nach ihrer Flucht aus der Credenti war Celestine fast zehn Jahre lang bei ihnen geblieben und hatte sich um sie gekümmert, während sie wiederum sie beschützt hatten. Dann war sie eines Tages losgezogen, um Blut zu suchen, und nie wieder zurückgekehrt. Sie hatten alle geglaubt, sie sei tot, und hatten sie jahrzehntelang betrauert, aber hier war sie – lebend und Mutter zweier Balas.

Oh Gott. Sara.

»Geh weiter, Duro«, sagte Nicholas nun ernst. »Du bleibst zu lange in seinem Geist.«

»Bitte, Alexander.« Das war Sara. Ihre ängstliche Stimme rüttelte ihn aus der bestürzenden Offenbarung, und er sprang rechtzeitig wieder vorwärts und suchte nach der letzten Szene, deren Zeuge er gewesen war.

Er sah Celestine, wie sie eine hysterische Sara zurückhielt. Er sah Gray auf die Treppe zulaufen, die Treppe hinauf, während seine Mutter ihm etwas hinterherschrie. Alexander lief geduckt mit dem Jungen durchs Feuer und hielt sich zurück, als Gray seinen Vater fand, dessen Körper im Flur von den Flammen vereinnahmt wurde. Er streckte schreiend beide Hände zu ihm aus …

Alexander zwang sich, die Empfindung und den tiefen Schmerz zu verlassen, umkreiste die Szene, konzentrierte sich und trank dann, nahm tiefe Schlucke der Feuererinnerung in seinen Mund. Es dauerte nur Sekunden, und als er sicher war, die gesamte Erinnerung entnommen zu haben, zog er sich aus Grays Schädel zurück und öffnete die Augen. Der Unreine – denn das war er – lag ruhig schlafend auf seinem Bett. Alexander presste seinen Daumen einige Augenblicke auf die Eintrittswunde. Dann trat er zurück, und sein und Grays Blut raste durch seine Adern.

»Lasst ihn schlafen«, sagte er sanft zu niemandem im Besonderen, während die schockierenden Bilder, deren Zeuge er gerade geworden war, in seinem Geist rotierten. »Wir werden nur allzu bald Bescheid wissen.«

»Alexander …«, begann Sara.

Aber Alexander hatte sich bereits erhoben und verließ den Raum. Er konnte nicht bleiben, Sara in die Augen sehen und vorgeben, er betrachte die Menschenfrau, für die er sie hielt. Noch nicht. Was er gesehen hatte, was er jetzt wusste, war erstaunlich, bemerkenswert. Celestine hatte überlebt, und ihre Balas – sowohl der Junge als auch das Mädchen – lebten in seinem Haus, standen unter seiner Obhut. Und beide hatten sie Vampirblut in ihren Adern.

Jesus. Sara könnte …

Er lief los, flog die Treppe hinab und auf die Tunnel zu. Er wollte sich an der vor ihm liegenden Möglichkeit erfreuen. Wäre er nur ein Reinblütiger, wäre das nicht möglich. Aber er war ein Abkömmling eines Breeding Male. Seine wahre Gefährtin musste ein Vampir sein, ja, aber sie konnte rein oder unrein sein. Sara durfte jetzt ihm gehören. Sie könnte seine wahre Gefährtin sein.

Er hätte hoffnungsvoll sein sollen, und doch empfand er nur Furcht.

Alexanders Brüder gingen nach seinem raschen Aufbruch ebenfalls bald. Aber Sara blieb an Grays Seite, kontrollierte alle fünfzehn Minuten seine lebenswichtigen Funktionen, döste in ihrem Sessel, wachte auf, um nachzusehen, ob er wach war, und fragte sich, was sie ihm sagen würde, wenn er aufwachte.

Wenn die Erinnerung verschwunden war, sann sie, wäre auch das Trauma vergangen. Aber er hätte immer noch vom Feuer verheerte Hände, und Fragen. Viele Fragen. Dann betrachtete sie die Kehrseite. Was wäre, wenn er genauso wäre wie zuvor? Oder noch schlimmer: Was wäre, wenn er überhaupt keine Erinnerung mehr hätte?

Sie war nervös und erhob sich, um erneut seine Werte zu überprüfen, nahm ihr Stethoskop hervor und horchte seine Brust ab. Plötzlich schoss eine Hand mit weißen Knöcheln empor und packte ihr Handgelenk.

»Sarafena.«

Sara keuchte und blickte in die geöffneten metallgrauen Augen ihres kleinen Bruders. Seine Stimme, nun tief und männlich, so unvertraut und doch so wunderschön, wogte über sie hinweg. »Gray. Oh Gott, ich kann es nicht glauben.« Sie berührte sein Gesicht, seine Stirn, sein Haar. »Wie fühlst du dich? Geht es dir gut?«

Er nickte zögernd, obwohl ein Ausdruck der Verwirrung über sein Gesicht huschte, während er versuchte, seine Vergangenheit, seine Gegenwart und das, was nur wenige Stunden zuvor in diesem Raum geschehen war, zu verarbeiten. »Sara«, sagte er und hob ihr die Hände entgegen, damit sie sie betrachtete. »Erklär mir das.« Er schluckte. »Wie?«

Sara ergriff seine Hände und setzte sich neben ihn, während sich ihre Kehle zusammenschnürte. »Alles zu seiner Zeit«, sagte sie. »Zunächst brauchst du Ruhe, okay?«

Er nickte erneut. »Wir werden später reden.«

»Natürlich.« Sie lächelte sanft. Sie würde ihm seine Erinnerung in kleinen Dosen offenbaren, bis er sie ohne das Trauma annehmen konnte. Dann würden sie sehen …

»Und du wirst ihm für mich danken?«, sagte Gray.

Ihm? Oh Gott, meinte er Alexander? Sie beugte sich zu ihm vor. »Du verstehst? Ernsthaft? Du wusstest, dass er dir helfen konnte?«

»Ja.«

»Woher, Gray?«, fragte sie flehend.

Der wunderschöne junge Mann vor ihr lächelte sanft. »Er hat zu mir gesprochen. In meinem Kopf. Über dich, über alles, was du getan hast, wie verzweifelt du warst.« Seine Augen wirkten einen Moment traurig. »Er sagte, es wäre an der Zeit, dass du und ich heimkehrten.«

Saras Augen füllten sich mit Tränen, und sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen. Alexander war wahrhaftig mehr als ein Liebhaber, mehr als nur der Mann, den sie liebte. Er war auch ein großartiger Freund.

»He, Mensch«, erklang eine Stimme hinter ihr.

Sara blickte zurück und sah Dillon vollkommen geheilt und lächelnd hinter sich stehen. »He, Vampirin.«

»Ich werde bei ihm bleiben.« Sie deutete mit dem Kinn zur Tür. »Sie sollten gehen und sich um den anderen kümmern, den Sie lieben.«

Ja. Sie brauchte ihn jetzt ebenso, wie er sie brauchte.

Sara drückte ihrem Bruder noch einmal die Hand, erhob sich und überließ Dillon ihren Platz. Als sie sich zum Gehen wandte, hätte sie schwören können, die Augen ihres Bruders interessiert aufblitzen zu sehen, als sich die Leibwächterin in dem Sessel neben seinem Bett niederließ.

Der Käfig war einst der Ort, an dem sein Hunger außer Kontrolle geraten durfte, wo er das Tier sein durfte, für das er sich hielt.

Nun hielt er ihn schlicht von dem Menschen fern, den er liebte.

Alexander lehnte sich vollkommen bekleidet an die Felswand und bekämpfte seinen Hunger nach ihr, während er auch gegen die Wahrheit dessen ankämpfte, was er in Grays Kopf gesehen hatte. Er atmete ein und runzelte die Stirn. »Geht es deinem Bruder gut, Sara?«

Die unverschlossene Metalltür schwang auf, und Sara trat ein, ihr starker Geruch und ihre reine Schönheit ein erschreckender Kontrast zu der abstoßenden Nüchternheit seiner Zelle. Ihre blaubeerfarbenen Augen suchten in der beinahe vollständigen Dunkelheit seine, und als sie ihn fand, trat sie zu ihm und kniete sich vor ihn hin. »Er hat mit mir gesprochen.«

»Da bin ich froh.«

»Er klingt so … alt. Wie ein Mann. Es fällt mir schwer, ihn als Mann zu sehen; für mich bleibt er der Junge, an den ich mich erinnere, weißt du?« Sie zuckte die Achseln, ihr Lächeln so strahlend, dass es ihm den Atem nahm. »Er bat mich, dir zu danken.«

»Ich habe es nur für dich getan. Kein Handel, keine Gegenleistung. Ich möchte dich einfach glücklich sehen.«

Sie rückte näher an ihn heran, bis sich ihre Beine berührten. »Er erzählte mir, was du zu ihm gesagt hast, in seinem Geist. Oh Alex …«

Die Liebe, die Alexander für sie empfand, schwächte sein Bedürfnis, sich zu züchtigen, augenblicklich, und er erlaubte es sich, die Worte zu sagen, die ihm auf der Zunge lagen. »Dass ich seinen Geist geheilt habe … Es war nicht deine Schuld, Sara. Du hättest ihm nicht helfen können – nicht auf die Art, wie du es wolltest.«

Sara neben ihm wurde still und zog die Augenbrauen zusammen. »Was meinst du?«

Er schüttelte den Kopf. »Seine Erinnerungen waren zu stark verwurzelt. Die Blutentnahme war die einzige Möglichkeit.«

»Was?«

Er zögerte und fühlte sich, als würde er sie mit einer Welt voller neuer Probleme belasten. Aber was war die Alternative? Sie würde es nur allzu bald erfahren.

»Alexander?« Ihre Augen beschworen ihn, ihr die Wahrheit zu sagen.

Er streckte die Hände aus und strich mit seinen Knöcheln über ihre Wange. »Ich habe deine Mutter gesehen.«

»Was?«

»In Grays Geist. Ich sah sie, als ich versuchte, das Feuer zu finden.«

»Okay. Nun, das ist logisch. Du hast sie gesehen, weil sie in seiner Erinnerung war.«

»Sara, ich habe sie erkannt.«

Totenstille in der Luft, die sie beide für einen Moment gefangen hielt. Dann schüttelte Sara zögernd den Kopf.

»Sie war Lehrerin in meiner Credenti«, fuhr Alexander fort, wohl wissend, dass es keine andere Möglichkeit gab, als die Wahrheit zu erzählen. »Diejenige, von der ich dir in der Nacht im Leuchtturm erzählt habe, erinnerst du dich? Sie war eine Unreine, ein Mischling. Der Orden hatte sie gerufen, wie sie es bei allen Unreinen tun – sie war an der Reihe, sterilisiert zu werden. Aber sie wollte ebenso ein neues Leben wie wir. Ich verhalf ihr zur Flucht.«

Sara sah ihn an und wirkte, als hätte er sie in den Bauch geboxt. »Das ist unmöglich.«

»Ich habe es genauso empfunden, als ich sie dort sah«, sagte Alexander sanft, aber er fürchtete, dass nichts die Schläge mildern konnte, die er bereits verteilt hatte, wie auch diejenigen, die er noch austeilen musste. »Sie hat für uns gesorgt: für Lucian, Nicholas und mich. Sie war wie eine Mutter für uns, auf eine Art, wie es unsere eigene Mutter niemals hatte sein können. Aber eines Tages verschwand sie – wir glaubten, sie wäre tot. Wir suchten sie, aber …«

»Meine Mutter ist ein Vampir!«, platzte Sara heraus, und ihre Worte hallten von den Felswänden wider.

Alexander beobachtete ihr fahles Gesicht, die Panik, den verzweifelten Versuch, in dem, was er ihr erzählt hatte, einen Sinn zu erkennen. Schließlich nickte er. »Ja.«

Sara senkte mit offenem Mund den Blick. »Mein Bruder …«

»Ja.«

Sie schwieg mindestens eine Minute, und Alexander wartete einfach ab, wartete darauf, dass sie dies alles verdaute. Wie würde sie reagieren? Würde sie verachten, was sie war – würde sie ihn dafür hassen, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte? Als sie schließlich sprach, war es ein leise geäußertes Wirrwarr von Gedanken. »Das erklärt alles, was mir widerfahren ist. Wie ich mich gefühlt habe, nachdem … wie verzweifelt ich dein Blut wollte … und dass ich nicht aufhören konnte, es zu wollen, dich zu wollen.«

Er hasste den Gedanken, dass er derjenige war, der ihr diese Last aufbürdete. »Es tut mir so leid, Sara.«

Sie blickte zu ihm hoch und schüttelte mit bebenden Nasenflügeln den Kopf. »Verdammt richtig. Es sollte dir leidtun. Du Dummkopf!«

»Ich weiß. Ich wünschte bei Gott, ich hätte niemals …«

Sie packte den Kragen seines Hemdes und brüllte: »Du hast gesagt, du liebst mich.«

»Das tue ich.« Was, zum Teufel …?

Sie schüttelte ihn, und er ließ es zu, obwohl sie erheblich weniger Kraft besaß als er. »Du hast erkannt, dass ich ein Vampir bin, und bist vor mir davongelaufen?«

»Du bist nicht verärgert darüber?«

»Nicht darüber, dass ich herausgefunden habe, was ich bin. Mist, ich bin erleichtert. Ich war mir bewusst, dass etwas mit mir geschah, dass sich etwas verändert hatte. Ich dachte, ich würde verrückt. Dann dachte ich, es wäre wegen deines Blutes, dass ich es doch getrunken hätte.« Sie schüttelte ihn erneut und ließ ihn dann los. »Ich ärgere mich über dich

»Was?« Er sah sie verständnislos an.

»Es war kein Problem, mir zu sagen, dass du mich liebst, solange du dachtest, ich sei nur ein Mensch. Solange du mich nicht haben konntest, musstest du es auch nicht riskieren, mir zu vertrauen.«

Er wurde bleich.

»Denn darum geht es hier in Wahrheit, oder?«, stieß sie zornig hervor. »Mir mit deinem Herzen zu vertrauen, mir mit deinem Hunger zu vertrauen?«

Alexander spürte, wie seine Fänge wuchsen. Oh verdammt, ihr Geruch. Je zorniger sie wurde, desto intensiver schwebte ihr Geruch heran. »Tu das nicht.«

»Tu was nicht?«, schrie sie ihn an. »Dir deine Fehler vorhalten?«

Alexander konnte nicht umhin. Er packte ihre Schultern und zwang sie auf den Rücken. Er ließ, über ihr aufragend, seine Fänge blitzen, während sein Geist raste, sein Blut sich nach ihr sehnte und sein Schwanz sich in der Hose aufrichtete. »Hör auf. Jetzt.«

Sara sah zu ihm hoch und spürte wieder die Hitzewelle, die sie stets durchlief, wenn sie auf dem Rücken unter Alexander lag. Sie kannte ihn inzwischen und wusste, dass er das Tier in sich niemals freilassen würde, sich ihr niemals völlig öffnen würde, solange sie ihn nicht an seine Grenzen drängte. Ja, sie war verärgert – zornig auf ihre Mutter, weil sie ihr nie die Wahrheit gesagt hatte, zornig auf sich selbst, weil sie nicht, nachdem sie Alexanders Blut zum ersten Mal geschmeckt hatte, zumindest eine vage Vermutung über diese Wahrheit angestellt hatte. Sie blickte in sein emotionsgeladenes, ausgehungertes Gesicht hinauf, in Augen, die tödlich und hungrig wirkten, aber von einem Schmerz erfüllt waren, den sie verstand, dem Schmerz, den ein Kind, eine Seele, ein Herz empfindet, wenn es sich der Liebe unwürdig fühlt. Und sie vergab ihm.

»Es war kein Zufall«, sagte sie weich, während ihr Paven Feuer über sie hinwegatmete, das Gesicht vor Empfindungen angespannt, sein Körper vor Verlangen bebend. »Wie wir uns begegnet sind, wie nahe wir einander gekommen sind. Die Wunde an deiner Schulter – wie sie sich geöffnet hat, wann immer ich in deiner Nähe war. Dein Blut kannte die Wahrheit, es hat mich gerufen. Es gehört zu mir, zu meinem Blut, damit es gemeinsam fließt.«

»Die Wunde hat sich wieder geschlossen.«

»Als wir nicht zusammen waren. So als hätte sich dein Herz mir geöffnet und sich dem Rest der Welt verschlossen. Wir haben einen Bund, der sich als unerschütterlich erwiesen hat. So soll es sein.« Sie hob den Kopf, küsste die schlüsselförmigen Brandmale auf seinen beiden Wangen und lächelte, als sein Körper als Reaktion zusammenzuckte. »Ich liebe dich, Alexander Roman. Es war mir immer schon bestimmt, dich zu lieben. Und dir war es bestimmt, mich zu lieben.«

Sein Stöhnen war sowohl von Qual als auch von Wonne durchsetzt, aber das war in Ordnung. Es war so, wie es sein sollte.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich werde mich niemals von dir fernhalten. Ich werde deine Liebe niemals wie Abfall wegwerfen.« Ihre Stimme bebte. »Und ich werde dich niemals verhungern lassen.«

Alexanders Augen glänzten. »Ich kann nicht.«

»Du kannst. Du musst.« Sie reckte das Kinn und küsste ihn, sanft und liebevoll und hungrig. Ihre Zunge glitt in seinen Mund und spielte mit seinen Zähnen, mit den Spitzen seiner Fänge. »Trink von mir. Kennzeichne mich. Nimm mich in Besitz.«

Ein Stöhnen rauer, verzweifelter Wonne entrang sich Alexanders Kehle an ihrem Mund. »Nicht hier drinnen.«

»Es muss hier drinnen geschehen.« Sie griff zwischen sie und begann sich auszuziehen. »Hilf mir.«

Alexander schien sich ihr einen Moment entziehen zu wollen. Dann trat er zurück und zog sie mit zitternden Händen aus.

Sara legte sich auf den kalten Felsboden zurück und winkte ihn zu sich. »Ich werde hierbleiben, bis du verhungerst«, sagte sie leidenschaftlich, »bis du begreifst, dass du mir vertrauen kannst, dass ich dir bedingungslos gebe, aus reiner Liebe. Ich werde hierbleiben, bis dieser Käfig ein Ort des Friedens und der Wonne wird – nicht mehr der Qual.« Sie wölbte eine Augenbraue. »Ich werde hierbleiben, bis du mir nicht mehr widerstehen kannst.«

»Ich könnte dir niemals widerstehen.« Seine Augen loderten vor kirschschwarzem Feuer.

»Gut. Ich verlasse mich darauf.«

»Warte! Nein … Sara!«

Er streckte eine Hand aus, um sie aufzuhalten, aber es war zu spät. Sara führte ihr Handgelenk an ihren Mund und bleckte die Zähne. Dann biss sie tief in ihr eigenes Fleisch und sog Luft ein, als zwei nadelspitze Öffnungen nicht nur Schmerzen, sondern auch Blutflecke offenbarten, die sie brauchte, um ihn zu verführen. Ein Knurren entrang sich Alexanders Kehle, während er ihr zusah, sein Blick auf das Blut gerichtet, und seine Fänge wuchsen noch weiter.

Sara schwelgte in dem sie durchströmenden Gefühl, strich mit einer Fingerspitze über die Haut ihres Handgelenks, hob den Finger an ihren Mund und strich mit dem Blut über ihre Unterlippe.

Alexanders Nasenflügel bebten, er verdrehte die Augen und schrie in der kalten Luft seines Gefängnisses: »Du bist meine wahre Gefährtin.« Er senkte den Kopf und sah ihr in die Augen. »Ich brauche keine Kennzeichnung, um das zu wissen.« Er leckte sich über die Unterlippe.

»Bitte, Alexander«, flüsterte sie, während die Leidenschaft sie durchströmte. Sie wusste, was sie wollte, und sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen wohl dabei.

Seine Augen glänzten vor Erregung und Begierde, während er dastand und rasch seine Kleidung ablegte. Als er sich über ihr ausstreckte, öffnete sie sich für ihn. Für immer. Er gehörte ihr für immer. Diese Vorstellung war unglaublich, unmöglich – aber sie wusste es besser, als dass sie diesem Wort zum Opfer gefallen wäre. Nichts war unmöglich. Ihre Liebe hatte das bewiesen.

Alexander drang mit einem Stoß in sie ein, tief, beschützt, dorthin, wo er hingehörte. Sara schlang die Beine um seine Taille und hielt ihn fest. Als er den Kopf senkte und ihre Brust liebkoste, wusste sie, was kam, und konnte es kaum erwarten. Sie wölbte sich ihm entgegen.

ICH LIEBE DICH.

Die Worte drangen in dem Moment in ihren Geist, als seine Fänge ihr Herz trafen.

Sara keuchte, bäumte sich auf und fühlte sich, als wäre sie von einer Kugel getroffen worden, aber der Schmerz ebbte innerhalb von Sekunden ab, und eine Wonne, die sie nie für möglich gehalten hätte, durchströmte ihren zitternden Körper.

Es fühlte sich so an, als saugte er an ihrer Klitoris und zöge sie in den intensivsten Höhepunkt ihres Lebens. Und sie konnte es nicht aufhalten. Sie kam, heftig und unkontrolliert, und als sie die Hüften anhob, trank Alexander, nährte sich, nahm tiefe Züge unmittelbar aus ihrem Herzen in seines.

Sara empfand die sich in ihr vollziehende Veränderung wie Honig, der von ihren Zehen bis in ihren Geist hinauffloss. Sie war sie selbst, aber auch noch so viel mehr. Sie gehörte ihm. Sie war unsterblich.

Alexander zog sich von ihrer Brust zurück, seine Augen von Liebe und einer Freude erfüllt, die nicht zu kontrollieren waren. Dann küsste er sie, und sie schmeckte ihr eigenes Blut an seiner Zunge, süß wie Nektar, süß wie das Versprechen einer langen, dauerhaften Zukunft mit dem Mann, den sie liebte. Er küsste sie immer wieder – ihre Wange, ihren Hals, ihr Schlüsselbein.

»Du gehörst mir«, murmelte er ihr ins Ohr und ließ sie erschaudern. »Für immer. Meine ewige Liebe.« Er biss sie sanft ins Ohrläppchen, leckte an der Wölbung und berührte dann mit der Zunge die empfindliche Stelle hinter ihrem Ohr. Plötzlich hielt er inne. Dann leckte seine Zunge. Einmal, zweimal, ein drittes Mal.

Seine Hände umschlossen ihr Gesicht, und er betrachtete ihr Ohr genauer. »Mein Gott.«

Sara zog sich zurück. »Stimmt was nicht? Was ist los?«

Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Schock und Verwunderung, Liebe und Begreifen. Er nahm ihre Hand und legte sie hinter ihr Ohr. »Fühlst du das?«

Ihre Finger streiften etwas. Etwas Kleines, Raues.

»Der Schlüssel«, sagte er und begann zu lachen, während sein Schwanz noch tiefer in sie drang. »Mein Brandmal, mein Kennzeichen. Es war verborgen, aber es war die ganze Zeit da.« Er sah ihr in die Augen und begann sich zu bewegen. »Oh Gott, meine Sara.«

»Ich liebe dich, Alexander«, sagte sie, schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn an sich.

»Und ich liebe dich. Meine wahre Gefährtin.« Er stieß in sie, ging so weit, wie ihr Körper es erlaubte, und als Sara ihre Begierde, ihren Hunger, nicht mehr kontrollieren konnte, biss sie in seine Schulter, in die Stelle, die ihr gehörte, die sie so viele Male gerufen hatte, und als sie die ewigwährende Süße ihres neuen Lebensblutes schmeckte, trank sie in tiefen Schlucken.

DER ANFANG

Minnesota

Die Weihnacht hatte Einzug gehalten in die Nachbarschaft seiner alten Freundin. Lichter strahlten von Dächern und um weiße Lattenzäune, und Schnee war meterhoch auf dem leblosen Gras aufgehäuft worden, um den Weg für die fünf Vampire freizumachen, die nun die Einfahrt hinaufschritten.

Alexander wandte sich Sara zu, der Hüterin seines Herzens, Blut von seinem Blut, und lächelte. »Bist du bereit, meine Liebe?«

»Ja.« Ihr nervöses Lächeln offenbarte ihre Schönheit sowie die Spitzen eines fast ausgereiften Paars eingezogener Fänge, die mit der Freude daran, sich von ihrem wahren Gefährten zu nähren, gewachsen waren.

Gray, der neben seine Schwester trat, drückte kurz ihre Schulter. »Mehr wollte sie nie, Sara. Dich wieder zu Hause haben. Du brauchst also nicht nervös zu sein.«

Alexander griff nach dem Messingklopfer, kam aber nicht dazu, ihn zu benutzen. Er brauchte es nicht. Die Tür wurde weit geöffnet, und dort stand die Frau, mit der er der Credenti vor so langer Zeit entflohen war. Celestine. Sie sah noch genauso aus wie früher, ihr dunkles Haar zu einem Knoten aufgesteckt, ihr herzförmiges Gesicht blass, aber klug. Ihre hellblauen Augen wanderten zuerst zu ihren Kindern, und sie biss sich auf die Lippen. »Sarafena. Grayson. Ihr seid zu Hause. Ich kann wieder leben.«

Alexander blickte zu seiner Gefährtin hinab und lächelte, als er sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten und sich ihre Hand nach der blassen Hand der älteren Frau ausstreckte. Es würde Zeit brauchen, wie es für alles Kostbare galt, aber er würde ihnen beiden helfen, in ihren Herzen Glück und Vergebung zu finden, wie sie beide auf ihre Art auch ihm geholfen hatten, ein neues Leben zu finden.

»Nun, jetzt …« Celestine erblickte die drei Männer hinter ihren Kindern. »Meine alten Freunde.«

»Im richtigen Leben«, sagte Alexander und nahm die andere Hand der Frau.

Celestine lächelte, und die Spitzen ihrer Fangzähne zeigten sich. »Kommt alle herein. Es gibt viel zu erzählen, vieles zu erklären.«

Alexander folgte Sara und Gray ins Haus, und Lucian und Nicholas folgten wiederum ihnen.

»Hast du unsere Nummer verloren, hm, Celie?«, witzelte der junge Albino beim Betreten des Raumes.

Celestine schnaubte. »Du bist also immer noch ein Witzbold, Luca.«

Alle lachten, aber der fröhliche Klang war nur kurzlebig. Die hellgrüne Wandfarbe des Raumes hatte sich zu bewegen, zu schwanken, zu pulsieren begonnen.

»Oh Gott, nein«, murmelte Sara leise.

Alexander knurrte und schirmte beide Frauen mit seinem Körper ab. Aber nichts konnte das aufhalten, was nun geschah, nichts konnte die beiden Worte auslöschen, die auf ihn zusprangen.

DARE LEBT.

»Alex.«

Alexander wandte sich auf Nicholas’ Ruf hin um. Der mittlere Bruder, der noch draußen stand, sank keuchend vornüber, die Hände von einem Gefühl zitternd, das Alexander nur allzu gut kannte. Der Paven würde bald von einem so heftigen und lähmenden Schmerz ergriffen werden, dass ihm der Atem aus der Lunge gerissen würde.

Dare lebte.

Und Nicholas Roman wurde gerade der Umwandlung unterzogen.