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Das Blut, das sie gegeben hatte, war ein großer Verlust für sie, ein Kompromiss mit ihrem Moralkodex, und doch hatte es ihr die Antworten gegeben, die sie im Haus der Romans hatte finden wollen.

Bronwyn nahm das letzte Kleidungsstück aus der Schublade des Schrankes und legte es in ihre Tasche. Edel saß bereits draußen im Wagen und wartete, um sie zu ihrer Credenti, zu ihrer Familie, zu ihrer Arbeit zurückzubringen. Sie hatte hier genug Zeit verschwendet, war zu lange ein unwillkommener Gast gewesen. Ihr Stolz hatte einen Schlag erlitten.

Sie nahm ihre Tasche auf und eilte zur Tür. Der älteste Roman-Bruder hätte ihr gehören sollen, aber sie hatte ihn genährt, hatte ihn von sich trinken lassen, und er war davongegangen, ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, auch ihren eigenen Hunger zu stillen. Sie hatte ihm gegenübergesessen, als er schwor, ihr Nähren als Geheimnis zu behandeln, während jedes Molekül ihres Körpers die Wahrheit schrie – Alexander Roman war nicht ihr wahrer Gefährte.

Sie trat auf den Flur hinaus und eilte zur Treppe. Sie hatte bei ihren Recherchen Fehler gemacht, hatte die genetischen Kennzeichen aus irgendeinem Grund falsch gedeutet. Alexander gehörte nicht zu ihr, aber sie musste herausfinden, wer zu ihr gehörte. Und sie hatte keine Zeit zu verlieren.

»Laufen Sie davon, Prinzessin?«

Lucian stand in Schwarz gekleidet dort, wo gestern noch ein Wohnbereich gewesen war, wo es heute aber wie eine Kampfzentrale aussah, und betrachtete sie, zwei ziemlich große Dolche in den zusammengeballten Fäusten.

Er wirkte kampfbereit.

»Ich gehe nach Hause«, sagte sie.

»Aber ich hatte kaum Zeit, meine Aufgabe zu erfüllen«, sagte er gedehnt.

»Was denn für eine Aufgabe?«

»Alexander als Ihren möglichen Gefährten zu ersetzen.« Er lächelte sündhaft. »Ich habe mich wirklich darauf gefreut.«

Sie reckte das Kinn. »Ich denke, Sie werden darüber hinwegkommen.«

»Und ich denke, Sie täten klug daran, den ganzen Wahrer-Gefährte-Mist aufzugeben.«

»Oh, ich gebe ihn nicht auf«, sagte sie rasch, entschieden. »Ich werde weiterhin Ausschau halten. Nur nicht mehr hier.«

Lucian brummte, wandte sich um und rammte beide Klingen mitten in einen der Leinensäcke. »Schließen Sie sich nur immer hübsch ein, Prinzessin. Hier schleichen gefährliche Männer herum.«

Ihr Blick schweifte über ihn hinweg, und sie nickte. »Da haben Sie verflucht Recht.«

Seine glühenden Augen verengten sich, aber Bronwyn hätte schwören können, einen Funken Belustigung in deren Tiefen gesehen zu haben.

Ja, es war richtig, nach Hause zu gehen. »Leben Sie wohl, Lucian.« Sie wandte sich um, riss die Tür auf und flüsterte: »Seien Sie vorsichtig«, bevor sie die Tür leise wieder hinter sich schloss.

Die zehn Ältesten des Ordens waren zur Höhle zurückgekehrt. Sie saßen am Glastisch, die Hände gefaltet, und ihre Blicke – die linken Augen mit einem dünnen schwarzen Kreis gebrandmarkt – folgten Alexander, während er über den glatten, weichen Sand auf sie zukam.

»Du hast versagt, Sohn des Breeding Male«, sagte Cruen, sein lodernder blauer Blick tödlich. »Es hat weniger Verschleppungen gegeben, das stimmt schon, aber Ethan Dare läuft immer noch frei herum.«

»Ihr seid hier die Versager«, erwiderte Alexander aufgebracht. »Ich kam zu euch und habe euch gesagt, dass der Mischling die Kräfte und Fähigkeiten eines reinblütigen umgewandelten Mannes hat, aber ihr wolltet es nicht glauben. Was denkt ihr, warum ihr ihn nicht aufspüren konntet? Er wird beschützt.«

Kollektives Keuchen erklang unter den Mitgliedern, ein Rascheln roter Gewänder, während sie sich umwandten und ihren Nachbarn panisch zuflüsterten: »Was heißt das?«, »Unmöglich!« und: »Wie könnte das sein?«

Cruen erhob sich und bat unter seinen Gleichrangigen um Ruhe, und als er ihre Aufmerksamkeit hatte, verzog er die Lippen zu einem angespannten Lächeln, in dem kein Funken Humor lag. »Ich will es noch immer nicht glauben.« Er sah sich zu seinen Leuten um. »Alexander Roman lügt. Er lügt, um sein Versagen zu rechtfertigen.«

Alexander fluchte in der alten Sprache, seine Knöchel weiß, die Fäuste bereit, dem alten Paven ins knochige Gesicht zu schlagen. »Dare kann sich mit Geisteskraft bewegen und seine Rekruten ebenso. Er hat sein Blut benutzt, um in die Credenti zu gelangen.«

Der Paven lachte leise. »Unreine können nie mehr sein, als sie sind – eine Verschwendung von Blut.«

Alexander schnaubte. »Dann bist du ein Unreiner, Cruen?«

Etwas zwischen einem Knurren und einem Schrei löste sich jäh aus Cruens Kehle, und er öffnete weit den Mund und zeigte seine ziegelroten Fänge.

Alexander schritt zum Tisch hinüber und stellte sich vor den Reinblütigen. »Wenn du die da nicht benutzen willst«, fauchte er, »dann zieh sie wieder ein und sage mir, warum ich hier bin.«

Cruen wollte sich erheben, aber die Veana mit dem langen, schneefarbenen Haar neben ihm legte eine Hand auf seinen Arm. Er zischte ihr etwas zu, blieb aber sitzen, hob dann den Blick, und Alexander sah die wahre Macht des Bösen in jenen blassblauen Augen.

»Dies ist das letzte Mal, dass wir dich gerufen haben, Sohn des Breeding Male«, spie Cruen. »Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit, Dare zu uns zu bringen, sonst wird Nicholas Roman umgewandelt. Vielleicht wird er uns das bringen, was wir wollen.«

Sara konnte den Raum eine Stunde lang nutzen.

Hoffentlich brauchte sie nicht mehr.

Als sie einen Blick auf ihren Bruder wagte, der auf dem Krankenhausbett lag, das sie im Medienraum im ersten Stock des Walter Wynn aufgestellt hatte, bemerkte sie, dass sein Körper vollkommen starr war und er die Augen geschlossen hielt.

Sie versuchte es erneut, und trotz der trägen Gelassenheit in ihrer Stimme hörte sie die tiefe Angst heraus, die sie durchströmte. »Du bist entspannt, Gray. So entspannt, dass die Muskeln in deinen Füßen, deinen Knöcheln, deinen Knien, deinen Beinen so schwer sind, dass du sie nicht mehr anheben kannst. So entspannt, dass dein Bauch, deine Brust und deine Schultern ins Bett einsinken. So entspannt, dass dein Hals, dein Gesicht und deine Augen willenlos sind.« Sara schaltete den Projektor ein, und die kahle Wand vor Grays Bett wurde strahlend erhellt. Es war kein Laut zu hören, nur Visionen waren zu sehen. Nur Bilder von Feuern, eines nach dem anderen nach dem anderen.

Sie wandte sich zu Gray um und sagte leise: »Öffne die Augen.«

Sein Gesicht zuckte, als wolle er den Kopf schütteln, aber seine Muskeln waren zu schwach.

»Öffne jetzt deine Augen«, sagte Sara erneut, dieses Mal ein wenig nachdrücklicher.

Wie ein Liebender, der sich einem Kuss entgegenlehnt, oder wie ein Fisch, der sich seiner Nahrung nähert, presste Gray seine Lippen nach vorn. Er sprach – auf die einzige Art, auf die er es konnte, und Sara erkannte, was die Bewegung bedeutete.

Nein.

Normalerweise hätte sie an diesem Punkt aufgegeben, hätte ihn in Ruhe gelassen. Aber nicht heute. Sie hatte weder die Zeit noch die Geduld für seine Launenhaftigkeit. Sie beugte sich nahe an sein Ohr und flüsterte kurz: »Öffne die Augen, verdammt!«

Er zuckte zusammen, öffnete die Augen aber zögernd und blickte auf den Bildschirm. Er keuchte nicht, wandte sich nicht ab, schrie nicht und regte sich in keiner Weise auf, wie sie es erwartet hatte – wie sie es von ihm erhofft hatte, damit sie mit dem nächsten Schritt der Behandlung beginnen könnte. Er starrte zu den Bildern hinauf, ohne zu blinzeln, so als betrachte er eine Szene aus »Clockwork Orange«, während Tränen in seine Augen stiegen und dann seine Wangen hinunterliefen.

Verdammt. Verdammt sei Gray, und verdammt sei ich selbst.

Sara schaltete den Projektor aus und stellte sich, aufgewühlt wie schon seit Tagen, vor ihn hin. »Sieh mich an, du sturer Bastard.«

Das tat er, seine Augen von den Tränen einer gequälten Seele glänzend. Sie erkannte diesen Blick, hatte ihn schon bei mehr als einer Gelegenheit im Spiegel gesehen.

»War es das?«, fragte sie ihn und schüttelte den Kopf. »Wirst du mich dir jemals helfen lassen? Oder bin ich mit meinem Latein am Ende? Willst du, dass ich mit meinem Latein am Ende bin?«

Er sah sie an.

»Denn ich bekam ein Angebot. Kein schönes und wahrscheinlich ein sehr schmerzhaftes, aber es gibt jemanden, der dir auf eine Weise helfen kann, wie ich es anscheinend nicht kann.«

Gray wandte den Blick ab.

Wie er es immer tat.

Sara biss die Zähne zusammen, weil wieder diese gottverdammten Tränen in ihren Augen aufstiegen, stieß sich vom Bett ab und trat in den Flur hinaus. »Bringen Sie ihn wieder hinauf«, befahl sie dem Krankenwärter. »Ich bin fertig.«

Sara eilte mit erschöpfter Seele zur Treppe, zu ihrem Büro und zu den zwanzig verbliebenen Patienten, die tatsächlich ihre Hilfe wollten.

Am Washington Square wurden am helllichten Tag Drogen verkauft, und auch Körper, und der Geruch von beidem erregte Nicholas. Er schob das BlackBerry in seine Jackentasche, die Nachricht von Alexander sorgfältig in seinem Geist eingeprägt. Vierundzwanzig Stunden, bis er kein Sonnenlicht mehr ertragen würde. Hmm. Wie sehr kümmerte es ihn? Sein Leben spielte sich überwiegend nach Sonnenuntergang ab. Ginge es nicht um Lucian und die sehr reale Möglichkeit, dass er nach seiner Umwandlung der nächste Breeding Male würde, vom Orden eingesperrt und auf die Probe gestellt, könnte er diesen ganzen Kampf vielleicht einfach vergessen, den Orden auffordern, seinen Roman-Arsch zu küssen, und dem Kobold vor sich nun sagen, er solle zu seiner Brücke zurückkehren.

»Was bekommen wir dafür, wenn wir den Romans helfen?« Das kleine, haarige »Auge« vor ihm grinste, seine Fänge abgenutzt von zu viel Gravo.

»Ich kann dir Geld oder Blut anbieten«, sagte Nicholas. »Was von beidem willst du?«

»Ich würde sagen, ich will dich, Nicholas«, sagte das »Auge« keckernd. »Aber du bist jetzt ohne Meister unterwegs, oder?«

Nicholas stand mit unbewegtem Blick ganz still da.

»Deine geriffelten Fänge waren schon als junger Paven etwas Besonderes.« Das »Auge« beugte sich näher heran, und sein Atem erinnerte an einen Dekaden alten Mülleimer. »Ich bin neugierig – was machst du mit all dem Geld? Du hast doch nicht noch eine Veana, für die du Gravo kaufen musst, oder?«

Nicholas hielt dem »Auge« ein Messer an den Rücken, bevor er auch nur den nächsten Atemzug tun konnte. »Ich frage dich noch einmal, bevor ich dich vom Hals bis zum Arschloch aufschlitze – Geld oder Blut?«

Ein zirpender Laut entrang sich der Kehle des »Auges«, und er antwortete mühsam: »Dreihundert Riesen für den Aufenthaltsort des Unreinen.«

»Heute Abend.«

»Einverstanden.«

»War nett, dich zu sehen, Whistler.« Nicholas schlug dem Paven auf den Rücken, schob den Dolch in den Hosenbund seiner Jeans zurück und verschwand im Park.