19

Die Sonne war bereits am Untergehen, als die Brüder die Treppen zu den Tunneln unter SoHo hinabliefen. Sie hatten den Tag damit verbracht, sich Strategien zu überlegen, zu versuchen, Dares Versteck ausfindig zu machen und mehrere Bereiche der Stadt auf einer Karte abzustecken. Dies war eine völlig andere Aufgabe, als sie die letzten siebzig Jahre erfüllt hatten. Nachdem sie Unternehmen gegründet und genug Kapital angehäuft hatten, um hundert Lebenszeiten zu überstehen, waren sie nun sogar erfreut darüber, die tägliche Arbeit aufgeben und erneut aufs Schlachtfeld zurückkehren zu können.

Alexander ließ sich mit übertriebenem Schwung auf der letzten Treppenstufe nieder und atmete den vertrauten kalten, staubigen Geruch ein. Es drängte ihn, sich nach rechts zu wenden und zu seinem Käfig zu eilen. Er musste sich nähren, bevor sie wieder hinaufstiegen; und ob es ihm gefiel oder nicht, er würde niemals dieses Rinderblut zu sich nehmen, wenn er nicht dazu gezwungen war, weil er in diesem verdammten Stahlkäfig steckte.

Er runzelte die Stirn. Er war wirklich mies dran, oder? Völlig abhängig von diesem abscheulichen Metallmeister.

»Es ist lange her, seit wir im Namen des Krieges Blut vergossen haben«, sagte Nicholas, der gerade neben ihn trat und eine Hand auf seine Schulter legte, um ihn von dem zu seinem Käfig führenden Tunnel fortzugeleiten.

»Zu lange«, murmelte Lucian, trat um sie beide herum und übernahm die Führung.

»Ich hatte gehofft, dass wir eine Möglichkeit finden würden, wieder an die vorderste Front zu gelangen«, fuhr Nicholas fort. »Ich hatte nur nicht gedacht, dass es im Auftrag des Ordens geschehen würde.«

»Wir dienen nur uns selbst«, sagte Alexander. Lucian vor ihnen lachte leise. »Ja, das sagst du dir ständig.«

Nicholas knurrte, was nur selten geschah. »Hör zu, Luca, wenn wir uns erst auf diesen Kampf einlassen, ist Alexander dein Befehlshaber, und du wirst gehorchen.«

Da wandte sich Lucian zu ihnen um, eine helle Augenbraue gewölbt. »Ich dachte, das wäre eine Demokratie, Jungs.«

»Ich meine es ernst, kleiner Bruder. Respektlosigkeit wird nicht geduldet. Und wir werden mit dir genauso verfahren wie beim letzten Mal, als wir in den Krieg zogen.«

»Wann war das noch?« Lucian blieb mit gefurchter Stirn stehen. »Im Ersten Weltkrieg? Bei den eingeborenen Fährtenlesern? Das war eine verdammt gute und blutige Zeit.« Er wandte sich erneut um und schritt weiter den Tunnel entlang, wobei er über die Schulter rief: »Du hattest diese Lanze sehr genau gesetzt, Nicky, wenn sich mein Arsch richtig daran erinnert.«

Nicholas schüttelte den Kopf, lachte leise und lief dann neben Alexander weiter, der gelassen blieb, als sie an den Wächtern vorbeistolzierten. »Ist der Hunger zurückgekehrt, Duro?«, fragte Nicholas. »Du wirkst angriffsbereit.«

Es war ein Hungergefühl vorhanden, dachte Alexander, während er rasch seine Stimmung sondierte, aber es war nicht nur der Hunger nach Blut – es war auch die Sehnsucht nach ihr, der Frau. Und vielleicht eine Schwäche, als fühlte er sich nicht ganz vollständig, wenn sie nicht in seiner Nähe war, wenn er ihre Stimme nicht hören konnte … nicht einmal per Telefon. »Ich mache mir Sorgen um Sara«, sagte Alexander, und seine Stimme klang ebenso angespannt, wie es die Fäuste an seiner Seite waren. »Wenn etwas geschieht …«

»Du hast jemanden zu ihrem Schutz abgestellt?«, fragte Nicholas.

»Ja.«

»Wen?«

»Dillon.«

Nicholas brummte überrascht, so dass sein Atem in der kalten Luft der Tunnel sichtbar wurde. »Wie hast du das bewerkstelligt?«

»Ich habe eine Schuld eingefordert.«

»Arbeitet Dillon nicht für diesen Menschen-Senator aus Maine?«, rief Lucian vor ihnen. Der Vampir hört sehr gut, wenn er wollte. »Kümmert sich um seine Sicherheit?«

»Sie haben vorübergehend einen Ersatzmann eingestellt«, sagte Alexander und schritt an weiteren Wächtern vorbei den letzten Gang hinab. Er musste dorthin gelangen, die kühlen Metallwaffen in seinen Händen spüren und seinen Jagdtrieb auf die einzige Art stillen, die für ihn akzeptabel war.

»Da sind wir«, verkündete Lucian, legte seine Handfläche an das Pad und wartete darauf, dass das Identifikationssystem seinen Fingerabdruck lesen würde.

Zweimaliges lautes Summen ertönte, dann glitt die Metalltür auf, und die Brüder betraten den zehn mal zehn Meter großen Raum. Ihre Blicke wanderten blitzschnell über alle Regale, um sicherzugehen, dass ihr Waffenvorrat unangetastet war. Pistolen, Messer, Schwerter, Bajonette, Munition – von der alten bis zur neuen Welt gab es alles und jedes, was nötig war, um das Leben von entweder Menschen oder Unreinen auszulöschen.

Alexander nahm einen uralten ägyptischen Dolch in die Hand, eine seiner Lieblingswaffen, und steckte ihn in seinen Hosenbund. Dann ergriff er zwei Glock-Pistolen und wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu seinen Brüdern um. »Wählt euer Gift, Duros, und dann los. Wir müssen Dare so schnell wie möglich aufspüren, sonst müsst ihr beiden auch aufs Sonnenlicht verzichten und werdet bis in alle Ewigkeit vom Orden beobachtet werden.«

»Gut gesprochen«, erwiderte Nicholas und versah sich mit Munition.

»Schön, wenn man nicht unter Druck gesetzt wird«, knurrte Lucian, während er einen handgefertigten Stammesspeer in den Bund seiner Hose steckte.

Sara fuhr mit dem Aufzug in die Lobby und fragte sich, was sie erwarten würde, sobald sie aus dem Metallkasten trat – wenn sie überhaupt etwas erwartete. Alexander hatte gesagt, sie würde beschützt, aber das nur während des Tages, oder? Bedeutete das, dass vielleicht er selbst auftauchen würde, um sie nach Hause zu bringen? Dass er mit einem Blumenstrauß in der Lobby stünde, wie Männer es manchmal am Flughafen taten? Reiß dich zusammen, Donohue. Mensch. Sara lachte leise in sich hinein und schüttelte über ihre pubertären Gedanken den Kopf. Ja, Blumen und nach Hause bringen, weil sie beide in der Junior High waren. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich, und sie betrat zusammen mit mehreren anderen die Lobby. Als Erstes sah sie den roten Schein des Sonnenuntergangs durch die Fenster hereinströmen und auf die weißen Bodenfliesen auftreffen. Die Sonne ist noch nicht untergegangen. Selbst wenn Alexander es gewollt hätte, würde er nicht auf sie warten können.

Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge auf den Ausgang zu. Wo war er also dann? Zu Hause und machte die heiße kleine Vampirin im Nebenzimmer an? Und wenn dem so wäre, dachte sie, während sie die Doppeltüren durchschritt, könnte sie es ihm dann vorwerfen? Eine wunderschöne, großartige Persönlichkeit, von derselben Art, die glaubte, sie seien füreinander bestimmt. Wenn man dann noch die fantastischen Brüste bedachte, war sie die perfekte Gefährtin.

Die kalte Winterluft blies Sara unmittelbar ins Gesicht, und sie hielt rasch ihre Jacke am Hals zusammen. Sie dachte einen Moment darüber nach, nicht in das Haus in SoHo zurückzukehren, es für sie alle leichter zu machen. Sie war immerhin keine Frau, die zur Dramatik neigte, und der Gedanke an eine Art Dreiecksbeziehung ließ eindeutig auf eine pathetische, verzweifelte junge Frau schließen. Aber sie konnte auch nicht nach Hause gehen. Es wäre dumm und unverantwortlich, zwei Eigenschaften, die sie nicht besaß. Sie könnte sich ein Hotelzimmer mieten – aber dann wäre sie ungeschützt. Sie war keine Närrin. Entweder sie ging zu Alexander oder zur Polizei, und letztere Chance hatte sie bereits verpasst. Wenn sie jetzt zu den Cops ginge, würden sie sie als verrückt bezeichnen und ihren vampirverliebten Hintern wieder auf die Straße befördern.

Sie ging bis zur nächsten Kreuzung, um ein Taxi anzuhalten, aber bevor sie die Hand heben konnte, hielt vor ihr am Bordstein ein schnittiger schwarzer Wagen. Sie wich davor zurück und ging weiter den Bürgersteig hinab, blickte aber ständig zurück, um den Wagen zu beobachten. Plötzlich öffnete sich die rückwärtige Tür, und eine Frau stieg aus. Sie wirkte wie eine Anwältin oder vielleicht wie jemand, der an der Wall Street arbeitete. Sie trug Geschäftskleidung und hatte schulterlanges kastanienbraunes Haar, das sich an den Spitzen hübsch nach innen wellte. Ihr ovales Gesicht wirkte blass, und als sie ihren Blick auf Sara richtete, waren ihre haselnussbraunen Katzenaugen verengt. »Guten Abend, Dr. Donohue.«

Sara hatte in weniger als fünf Sekunden ihre Handtasche geöffnet und hielt das Pfefferspray in der Handfläche. »Kenne ich Sie?«

»Ich bin die Assistentin von Alexander Roman.«

Sara war dankbar für den regen Straßenverkehr, als die Frau auf sie zukam. »Wobei assistieren Sie ihm?«

»Bei Ihnen.«

»Sie sind diejenige, die auf mich aufpasst?«

Sie nickte kurz und deutete dann auf die Limousine. »Bitte. Steigen Sie ein.«

Sara lachte, aber es klang wenig humorvoll. »Ja, das war zu erwarten.«

Die Frau wölbte eine gepflegte Augenbraue. »Sie werden mir doch keine Schwierigkeiten machen, oder?«

»Das könnte ich.«

Das Gesicht der Frau blieb unbewegt, aber ihre haselnussbraunen Augen zeigten Härte.

»Hören Sie«, begann Sara und gab der Frau gegenüber die coole Städterin, »wer auch immer Sie sind …«

»Dillon.«

»Okay. Dillon. Sie sind eine Frau, richtig?«

»Eine Veana

Großartig, noch ein weiblicher Vampir. »Was auch immer. Wie klug wäre es von mir, mit jemandem, den ich nicht kenne, in einen mir unbekannten Wagen zu steigen?«

»Sie nehmen ständig Taxen, oder? Das ist dasselbe.«

Nein. Das ist überhaupt nicht dasselbe. Sara hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Danke, aber nein danke. Ich werde laufen.«

Die Veana fluchte leise. »Alex hat mir nicht gesagt, wie schwierig Sie sind.«

Alex? Wie gut waren sie befreundet? »Das ist zu schade. Es hätte Ihnen die Mühe erspart hierherzukommen.«

Sara wandte sich um und ging weiter, wobei der eiskalte Wind seinen Weg in ihre Jacke fand. Sie hörte mehrere Sekunden lang nur Straßenlärm, aber dann erklangen hinter ihr, in der Nähe ihres linken Ohrläppchens, die geflüsterten Worte: »Seien Sie keine Närrin.«

Sie wirbelte mit hämmerndem Herzen herum. Die Frau stand vor ihr und atmete langsam und mühelos.

Wie, zum Teufel …?

Dillon neigte den Kopf zur Seite und sagte leise und drohend: »Mein Auftrag lautet, Sie zum Anwesen der Romans zurückzubringen, und ich erfülle meine Aufträge immer. Wenn Sie also glauben, heute Abend irgendwo anders hingehen zu können als dorthin, dann denken Sie lieber noch einmal darüber nach.«

Angst pulsierte in Saras Blut. Dillon, ruhig und würdevoll, wirkte absolut nicht groß oder hart, aber Sara spürte instinktiv, dass sie ebenso tödlich war wie eine Waffe am Kopf.

»Sie und Alexander …?«, begann Sara, aber Dillon wusste, worauf sie hinauswollte, und unterbrach sie.

»Wir sind nichts.«

»Freunde?«

»Nein.«

Sara kaufte ihr das nicht ab. »Warum tun Sie das dann?«

»Ich schulde ihm etwas.«

»Er hat Ihnen in Vietnam das Leben gerettet?«

»Nein. Im spanischen Bürgerkrieg.«

»Was?«

Dillons Gesicht verhärtete sich. »Gehen wir, Doktor.«

Sara wusste nicht, ob der weibliche Vampir log oder die Wahrheit sagte, aber es war auch nicht wirklich wichtig. Ihr Hauptanliegen war es, jegliche potenziell gefährliche Situation zu überstehen, damit sie sich um Gray kümmern konnte. Wenn sie fort wäre, würde Grays Behandlung in andere Hände gelegt, und das würde sie niemals zulassen. Diese Veana vor ihr hatte die Aufgabe übernommen, Saras Sicherheit zu garantieren, und davon würde die Vampirin anscheinend nicht abzubringen sein.

»Gut«, sagte Sara und reckte das Kinn. »Ich fahre nach SoHo zurück.«

»Wunderbar«, murrte Dillon und wandte sich um.

»Aber«, rief Sara noch, »nicht in diesem Wagen.«

Der weibliche Vampir hielt inne und knurrte: »Verdammte New Yorker Frauen«, und eilte dann auf die schwarze Limousine zu.

Nachdem Sara ihre Schultertasche zurechtgerückt hatte, wandte sie sich um und nahm ihren Weg die 12. Straße hinab Richtung SoHo wieder auf. Das leise Brummen eines Automotors hinter ihr erinnerte sie daran, dass Dillon ihr im Schneckentempo folgte.