25

»Sogar bei uns Erwachsenen bilden sich noch ständig neue Gehirnzellen. Das Beispiel der Zellen dieses Mannes hat gezeigt, dass das Gehirn, während sein Arzt versuchte, sein Vergangenheitstrauma mit gewissen nichtinvasiven Behandlungen zu unterdrücken, eine ganze Reihe neuer aktiver Zellen bekam. Ich möchte das mit dir ausprobieren und dich dann für die sieben Tage ins MRT zurückbringen.«

Sara stand neben Grays Bett, im Mantel, die Tasche über der Schulter. Es war spät, und sie war müde, aber sie hoffte, dass ihre Worte, ihre Bitte eine Wirkung auf ihn hätten. Allein schon ein Hinweis auf Hoffnung in seinem resignierten Gesicht würde ihr im Moment genügen. Leider war, während Gray zu ihr blickte, nichts als Verdrossenheit in seinen Augen erkennbar.

»Verstehst du denn nicht«, sagte sie und bemühte sich verzweifelt, enthusiastisch zu klingen. »Wenn genug neue, junge Zellen geschaffen würden, vielleicht könnten sie die Erinnerung dann vernichten oder neu schreiben.«

Er blickte auf seine vom Feuer verheerten Hände hinab und schüttelte den Kopf. In diesem Moment spürte Sara einen Felsblock der Verzweiflung.

»Es kümmert dich einfach nicht mehr, oder?«, sagte sie, sah aus dem Fenster in die schwarze Nacht und auf die Lichter der Stadt und schließlich wieder zu ihrem Bruder. »Nun, in Ordnung. Ich werde mich einfach weiter um dich kümmern müssen.«

Sie sah, wie er den Kiefer und auch die Fäuste anspannte, und nickte.

»Okay, ich gehe. Ich sehe dich morgen früh.«

Sie verließ den Raum und lief zu den Fahrstühlen. So schwer war ihr Herz seit vielen Jahren nicht mehr gewesen. Gewiss hatte sie während ihrer Schulzeit und in den ersten Jahren von Grays Therapie stets Zorn und Verdrossenheit und Schuld empfunden, aber sie waren auch die Grundlage ihres Studiums und gaben ihr einen Grund, bezüglich ihrer Fähigkeiten optimistisch zu sein.

In letzter Zeit jedoch umgab sie dieses Gefühl bevorstehenden Unheils und möglichen Scheiterns …

Die Nacht ballte sich kalt und schwarz zusammen, als sie das Krankenhaus verließ. Als sie die Limousine an der Kurve stehen sah, eilte sie erleichtert darauf zu, und ein dankbares Lächeln spielte um ihren Mund. Es war ein langer, schwieriger Tag gewesen, und der Gedanke daran, nach Hause zu Alexander zu gehen, erfüllte sie mit einem tiefen Gefühl der Hoffnung und der Freude.

Der Fahrer nickte, als sie einstieg und den Platz gegenüber von Dillon einnahm, die ein weißes Hemd, einen dunkelgrauen Hosenanzug und schwarze Lederschuhe mit hohen Absätzen trug und die Nase, wie immer, tief ins Wall Street Journal versenkt hatte. Die Veana liebte Zeitungen eindeutig.

»Sie werden mit jedem Moment schlauer, Mensch«, sagte Dillon gedehnt.

Sara lehnte sich in das Lederpolster zurück und riss ihren Schal herab. »Vielen Dank, Dillon.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch – ich bewundere Ihre Hingabe, wenn es darum geht, Ihre Rolle als Nervensäge auszufüllen; aber dass ich Sie nicht zum Einsteigen zwingen muss, erleichtert mir die Arbeit ungemein.«

»Nun, ich gefalle gerne.«

»Wirklich?«

»Nein.«

Dillon schnaubte und warf die Zeitung dann auf den Sitz neben sich. »Was tun Sie also den ganzen Tag lang in diesem Krankenhaus? Köpfe schrumpfen?«

»Das ist ein Menschenwitz. Sind Sie sicher, dass Sie so tief sinken wollen?«

»Ich kann nichts dafür. Das liegt an der Gesellschaft, in der ich mich zurzeit aufhalte.«

»Nun, Sie beobachten mich. Sie sehen, was ich tue.«

Dillon zuckte die Achseln. »Für mich sieht es danach aus, als würden Sie dauernd Papiere verschieben und überflüssige Tabletten verteilen.«

Sara neigte den Kopf zur Seite und sah Dillon aus schmalen Augen an. »Wohin gehen Sie wirklich, wenn Sie mich eigentlich beobachten sollten? Zu Starbucks?«

Dillons kurzzeitiges Lächeln schwand. »Sie verbringen viel Zeit mit diesem Mann.«

»Mit welchem Mann?«, fragte Sara und blickte aus dem Fenster, als sie an einem ihrer liebsten Feinkostgeschäfte vorbeifuhren.

»Der Junge«, fuhr Dillon fort. »Mit dem dunkelblonden Haar und den ungeduldigen Augen.«

Sara wandte sich wieder um. Normalerweise beschrieben die Menschen Gray, indem sie seine Verbrennungen erwähnten und nicht den Ausdruck in seinen Augen beschrieben. Aber andererseits war Dillon weder ein Mensch noch normal. »Er ist ein Patient, und einige Patienten brauchen mehr meiner Zeit und Aufmerksamkeit als andere.«

»Das ist alles, ja?«, sagte Dillon in beiläufigem Tonfall.

»Natürlich. Was sollte es sonst sein?« Bevor Dillon weiter spekulieren konnte, wechselte Sara das Thema. »Wie geht es mit dem Training voran?«

»Mit den Jungs?«

»Ja.«

Dillon zuckte die Achseln und wirkte gelangweilt. »Sie sind nicht völlig unfähig.«

Sara lachte. »Das ist gut. Haben Sie also die ganze Zeit mit ihnen gearbeitet, oder hatten sie ein wenig Auszeit? Machen sie auch Pausen?«

Die Augen der Veana verengten sich. »Die Romans brauchen keine ›Pausen‹.«

»Okaaay. Gut zu wissen.«

»Höchstens, um die Waffen zu wechseln.«

Sara strahlte. »Haben sie in der Zeit auch miteinander geplaudert?«

»Geplaudert?«, wiederholte Dillon und betonte das Wort bewusst. »Aber klar doch. Ungefähr zur Teezeit, kurz bevor der Unterricht im Seilspringen losging.«

Dillons Sarkasmus brachte Sara zum Grinsen. »Ich wollte nur wissen, ob er etwas über mich gesagt hat, okay?«

»Wer?«

»Alexander.«

»Oh verdammt.« Dillon sank in ihrem Sitz zurück, als der Wagen jäh an einer Ampel hielt. »Ich würde sagen, jetzt sind wir endgültig quitt, er und ich.«

Sara hob ergeben die Hände. »Vergessen Sie es. Tut mir leid, dass ich gefragt habe.« Sie wandte sich ab und blickte aus dem Fenster.

Sie fuhren die letzten fünf Blocks schweigend dahin, und als der Wagen vor dem Haus hielt, stieg Sara rasch aus und lief eilig den Gehsteig hinauf. Dillon folgte ihr. Als sie die Haustür erreichten, atmete sie erleichtert aus. »He, Mensch.«

Sara blickte über die Schulter. »Was?«

Die Veana schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, was sie da im Begriff war zu tun. »Er sagte: ›Wenn ihr irgendetwas geschieht, dann kette ich deine Fänge an und setze deinen Hintern für ein Jahrhundert in Mondrar fest‹.«

»Was ist Mondrar?«

»Eine Art Gefängnis für Vampire. Vom Orden kontrolliert.« Sie schüttelte erneut den Kopf und fügte angespannt hinzu: »Es ist nicht gut.«

Sara lächelte erfreut. »Wirklich? Das hat er gesagt? Er sagte, dass er Ihnen das antun würde?«

Dillon schnaubte. »Als ob er das überhaupt schaffen könnte.«

»Danke, Dillon«, erwiderte Sara lachend.

Die Veana drängte sich fluchend an ihr vorbei und öffnete die Haustür. »Wissen Sie, Sie sind beide verrückt«, murrte sie und wartete, dass Sara eintreten würde. Es war keine Bitte.

»Ja, ich weiß.« Sara wölbte die Augenbrauen, während Dillon die Tür schloss. »Sehe ich Sie später?«

»Nicht wenn ich Sie zuerst sehe«, rief diese zurück und eilte ins Wohnzimmer.

Brooklyn wimmelte an diesem Abend gegen neun Uhr von Fahrzeugen und Fußgängern, aber auf der Clark Street in Boerum Hill gingen nur Prostituierte und diejenigen an Ethan Dares Wohnsitz vorüber, die auf Drogensuche waren. Sein dreistöckiges Stadthaus schien ein mit Brettern vernageltes Drogenhaus zu sein, einschließlich Schläuchen, kleinen Plastiktüten und schmutzigen Löffeln, die im schneebedeckten Vorgarten herumlagen.

Alexander stand auf der anderen Straßenseite im Schatten eines Kirschbaums und bewunderte die Fähigkeit des Mischlings, nicht nur mit einer Gruppe Tischgäste zu verschwinden, sondern auch das Äußere seines Hauses so gut zu tarnen. Wie es dem kleinen Unreinen-Mistkerl gelang, etwas zu vollbringen, was eigentlich nur ein umgewandelter Reinblütiger konnte, blieb Spekulation – vielleicht würde Alexander ihn fragen, bevor er ihn tötete.

»Lass uns mit gezogenen Waffen hineingehen«, bemerkte Lucian neben ihm. »Ich bezweifle, dass es jemanden in diesem Block kümmern wird.«

Nicholas schnaubte. »Sie würden vielleicht sogar denken, wir wären Cops.«

»Wir gehen schnell und still hinein«, sagte Alexander in knappem, geflüsterten Befehlston. »Ein Ziel. Ethan Dare. Ich will, dass sein Leichnam noch heute Nacht dem Orden übergeben wird.«

Nicholas nickte mit angespanntem Kiefer.

Lucian ebenfalls. »Ja, Sir.«

Sie flogen beinahe über die Straße. Sie mieden die Vorderseite des Hauses und liefen stattdessen zu einem Seitenfenster herum, wo Nicholas rasch seine Klinge benutzte und eine dicke Schicht Pappe durchtrennte. Er riss den braunen Karton zurück und legte dahinter eine Wand aus Holzplanken frei, die verdammt stabil wirkte. Ein leises Knurren entrang sich seiner Kehle. Ja, dies würde Drogensüchtige fernhalten und die Vampire im Inneren schützen. Er gab Lucian ein Zeichen, und als Nicholas zurücktrat, die Glock im Anschlag, traten sie beide die Holzplanken ein, bis eine ausreichend große Öffnung entstand, dass sie hindurchgelangen konnten.

Nicholas streckte den Lauf seiner Waffe im Handumdrehen durch die Öffnung, bereit für das, was auch immer sie dort drinnen erwartete. Alexander nahm Herzschläge wahr, verzog den Mund zu einem bösen Lächeln und bedeutete seinen Brüdern, ihm zu folgen.

»Zielt gut und verschont alle Unschuldigen«, flüsterte er, als er vornübergebeugt durch die Öffnung und schließlich in den Raum kroch. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, indem seine Netzhäute ein inneres Licht entzündeten – ein Vorteil seiner Art.

»Verdammt unglaublich«, stieß Lucian hervor, während er den Art-déco-Raum mit seinem prachtvollen Inventar, den kostspieligen Möbeln und den Kristallleuchtern in sich aufnahm. »Genau wie unser Haus. Außen marode und innen ein Palast.« Er wandte sich um und sah Alexander an. »Wie ist das möglich? Dare muss Hilfe von einem Reinblütigen bekommen.«

Alexander stimmte ihm zu, hatte aber keine Zeit, gerade jetzt Ideen beizusteuern. Er spürte Geschäftigkeit und langsame Herzschläge um sich herum. Reinblütige hatten keinen Puls, Unreine schon. Und er spürte auch Menschen – er konnte sie riechen. Er machte Nicholas ein Zeichen. »Wir sehen in jedem Stockwerk gemeinsam nach. Gebt mir Deckung. Und Lucian, du hältst Nicky den Rücken frei.«

Alexander nahm die Glock von seinem Gürtel und übernahm die Führung, während sie alle Räume im Erdgeschoss inspizierten, nur für den Fall, dass sich Dare verbarg. Als sie nichts und niemanden fanden, eilten sie auf die Treppe zu. Ja, sann Alexander, während er die Treppe hinaufstieg, hier wurden die Herzschläge und der Geruch stärker. Sein Finger lag nahe am Abzug. Er war ein guter Schütze und würde Dare keinesfalls verfehlen, vorausgesetzt er und seine Rekruten verschwanden nicht wieder.

Die Brüder stiegen lautlos wie Schatten die Treppe hinauf. Als sie das erste Stockwerk erreichten, prallten sie unmittelbar mit einem großen Unreinen zusammen. Der Mann war so verdammt geschockt, sie zu sehen, dass er sich umwandte und davonlaufen wollte, aber Lucian packte ihn am Arm und schlug ihn bewusstlos, bevor er die Chance hatte zu reagieren oder seine Kameraden durch einen Schrei zu warnen. Leider hallte das Geräusch seines auf den Boden stürzenden Körpers im Flur wider, und innerhalb von Sekunden stürmten bereits drei Unreine auf sie zu.

Dann kommt, dachte Alexander düster. Sehen wir mal, was ihr ohne euren Befehlshaber zustande bringt.

Lucian und Nicholas stoben in verschiedene Richtungen auseinander, während Alexander auf den großen schwarzhaarigen Unreinen zielte, der ihn mit zwei Schwertern in den Fäusten angriff, und schoss. Aber nur Sekunden, nachdem Alexander den Abzug betätigt hatte, verschwand der Unreine. Blitzartig. Genau wie im Restaurant.

Ein Knurren entrang sich Alexanders Kehle, erstarb jedoch schnell wieder. Jemand atmete ganz nahe bei seiner Schulter. Er wirbelte herum. Eine Faust prallte gegen seine Nase und schleuderte ihn zurück. Der Unreine war wieder erschienen! Wie, zum Teufel, machten sie das? Und das innerhalb des verdammten Hauses!

Alexanders Geist wurde von unmittelbarem Zorn gepackt, und er griff, ohne sich um den Lärm zu kümmern, den er verursachen würde, nach dem Unreinen, der sein Schwert wieder über die Schulter zurückgezogen hatte und die Klinge in Alexanders Herz versenken wollte. Alexanders Hände schlossen sich im Handumdrehen um die Kehle des Mannes und brachen ihm das Genick. Er ließ den Leichnam fallen und blickte zu Lucian hinüber. Der grimmige Albino hatte einen Unreinen im Schwitzkasten, den Dolch gezogen, bereit, ihm die Kehle durchzuschneiden.

Auch dieser Unreine verschwand. Blitzartig!

»Sie verschwinden einfach!«, rief Alexander. »Wir müssen sie rasch töten!«

Er lief um seine Brüder herum und deckte sie, bereit, hinzuzuspringen, wenn der nächste Unreine auftauchte. Und schon erschien Lucians Unreiner unmittelbar hinter Nicholas. Alexander drückte den Lauf seiner Glock in den Rücken des Unreinen und schoss. Der Unreine, dessen Herzschlag ausgelöscht war, fiel wie ein Sack Steine zu Boden und schloss sich seinem Kameraden im Tod an.

»Danke, Duro«, sagte Nicholas, dessen schwarze Augen vor Blutgier blitzten.

Alexander lächelte. »Gerne.«

Die Brüder wandten sich um und sahen Lucian auf die Handgelenke und Kehle des dritten Unreinen einschlagen und ihn dann zu Boden werfen, wobei er praktischerweise den Befehl vergaß, schnell zu töten.

Lucian packte die Kehle des Mannes, legte seine Handfläche auf den tödlichen Schnitt, wodurch nur noch wenig dickflüssiges Blut hervordrang, und sagte: »Wo ist dein Vorgesetzter, Unreiner?«

Der Mann sah blinzelnd zu ihm hoch. Er hatte eindeutig starke Schmerzen, aber sein Blick blieb ebenso herausfordernd, wie sein Mund stumm blieb.

Lucian höhnte. »Du willst es mir nicht sagen? Ein großer Fehler.«

Der Unreine sprach gurgelnd. »Du wirst … ihn niemals kriegen, reinblütiger Witte

»Wir werden ihn kriegen, Unreiner. Aber du wirst nichts mehr davon mitbekommen.« Lucian stieß den Mann von sich, stand dann da und beobachtete, wie das Blut rasch aus seinem Hals floss und das Lebenslicht innerhalb von Sekunden in seinen Augen erlosch.

»Hinauf«, befahl Alexander. »Sucht jeden Raum nach Dare ab.«

Leise, verlockende Musik schwebte ihnen entgegen, als sie das oberste Stockwerk des Hauses erreichten. Alexander hatte das Gefühl, als käme die Musik hinter jeder geschlossenen Tür hervor, fülle jeden Riss und Spalt aus und dränge bis in den Flur, als wäre sie ein körperliches, lebendiges Wesen. Dieses Mal versperrte ihnen kein Unreiner den Weg, und die Brüder liefen mit pantherartiger Schnelligkeit den Flur hinab, machten an jedem Raum Halt und durchsuchten jede Ecke nach Dare. Aber es war keine Spur von ihm zu sehen.

Alexander hielt bei der letzten Tür inne. Er roch sowohl Menschen- als auch Unreinengeruch und noch etwas, das sich in seiner Intensität wie eine Droge anfühlte. Er nickte den Brüdern mit gezogener Waffe zu. Lucian versetzte der Tür einen Tritt und kauerte sich dann angriffsbereit hin. Aber das, was die Brüder auf der anderen Seite vorfanden, ließ sie innehalten.

»Heilige Scheiße«, knurrte Nicholas leise und senkte seine Waffe. »Was ist das für eine Feier?«

Lucian schnaubte. »Von wegen Feier. Das ist eine Orgie.«

»Ist Dare da drin?«

Alexander schüttelte den Kopf, und sein Schwanz regte sich angesichts der Szene vor ihm. Männer und Frauen, mindestens zwanzig – Unreine, Reine und Menschen gleichermaßen –, lagen nackt ineinander verschlungen da. Einige schliefen, andere bewegten sich rhythmisch und so zeitlos wie der Tanz der Sonne und der Sterne. Sie alle waren sich der Anwesenheit der Roman-Brüder nicht bewusst. Tatsächlich, dachte Alexander, während er den Mangel an Regung in ihren Augen beobachtete, schienen sie in einer Art Trance zu sein.

Alexanders Blick schweifte zu mehreren Frauen, die allein auf Betten auf einer Seite schliefen. Ihre Bäuche waren unterschiedlich dick. »Er macht weitere Unreine.«

»Was?«, fragte Nicholas mit lüsternem Blick, während er die Szene beobachtete.

»Er schafft ein Heer, genau wie der Orden gesagt hat.«

»Um die Kontrolle über die Credenti zu erlangen? Oder um die Reinblütigen-Rasse vollständig zu vernichten?«

Alexander zuckte die Achseln. »Vielleicht beides.«

Lucian höhnte: »Nun, was auch immer er tut, auf diese Art wird es ein Jahrhundert dauern, bis er es erreicht hat.«

»Die Frage ist, was tun wir jetzt?«

»Dare finden und ihn töten«, stellte Lucian schlicht fest. »Zu mehr wurden wir nicht verpflichtet.«

Stimmt. Und doch … Alexander deutete mit dem Kinn auf die Menge und auf die auf den Betten schlafenden schwangeren Frauen. »Was ist mit ihnen?«

»Sie haben wesentlich mehr Spaß als wir«, murrte Lucian.

»Das glaube ich kaum, Lucian«, sagte Nicholas angewidert.

Alexander nickte. »Einige von ihnen wurden aus ihren Credenti gerissen und hierhergebracht, um entweder Stößel oder Mörser zu sein.«

Lucian zuckte die Achseln. »Das ist nicht mein Problem.«

Alexander und Nicholas sagten nichts.

Sie brauchten auch nichts zu sagen. Lucians Blick schweifte durch den Raum und verweilte auf den Frauen und ihren Bäuchen. Er presste die Lippen zusammen. »Verdammt. Ich rette keine.«

Alexander wusste, dass Lucian der Gedanke verhasst war, weiterhin nicht nur dem Orden, sondern nun auch noch Mitgliedern der Credenti zu helfen, aber er begriff sehr wohl, welch tiefen Schmerz eine erzwungene Schwangerschaft und ein ungewollter Balas verursachten. Er schob sich ärgerlich an Nicholas vorbei, der nun unbewegt die Orgie vor sich betrachtete, und strebte zu den Frauen auf der anderen Seite des Raumes. Er hatte den Raum noch nicht zur Hälfte durchquert, als er erstarrte und fluchte. »Ich kann nicht zu ihnen gelangen«, rief er über die Schulter. »Etwas blockiert die Luft um sie herum.«

Alexander schloss die Augen und versuchte, den unsichtbaren Schild mit der Macht des Umgewandelten zu beseitigen, aber er konnte nichts spüren. Er öffnete stirnrunzelnd die Augen. Dies war nicht der Auftrag, dem er zugestimmt hatte, zu dem er gezwungen worden war. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und spürte, wie seine Male zu brennen begannen. Gleichgültig, wie sehr er seine Art und den Orden verachtete, der sie beherrschte, er konnte diesen unschuldigen Frauen und den Balas, die sie trugen, doch nicht den Rücken kehren.

»Zurück«, befahl er, wich von der Tür fort und eilte den Flur hinab auf die Treppe zu. Er überlegte fieberhaft. Er wusste, was getan werden musste. Er würde heute Nacht tief in seinen Geist eintauchen, und obwohl seine Haut vor Abscheu brannte – und obwohl Cruen ihn davor gewarnt hatte –, würde er versuchen, wieder Kontakt mit dem Orden aufzunehmen.

Die Untersuchung war an Ratten durchgeführt worden, aber egal, sann Sara, die sich im zweiten Stock der Bibliothek der Roman-Brüder in einen Sessel gekuschelt hatte, es gab immerhin einen Ansatzpunkt. Schockbehandlungen, um Angst auszulösen, gefolgt von einer Droge, die vorübergehend Amnesie bewirkte, gefolgt von einer neuen, milden Erinnerung an deren Stelle. Ein leichter Schauder durchlief sie. Was wäre, wenn das die Antwort war? Oder es sie ihr zumindest entschieden näher brachte? Sara blickte auf die Uhr an der Wand. Es war fast Mitternacht. Morgen würde sie die Idee kurz mit Pete besprechen und seine Meinung hören. Grays Erinnerung an das Feuer würde irgendwie verstärkt werden müssen, simuliert werden müssen, was ziemlich belastend wäre; aber andererseits war das Leben, das er jetzt führte, auch belastend. Die Amnesie, dachte sie – würde sie harte Medikamente einsetzen müssen? Sie wollte nicht wieder Drogen verwenden, noch nicht. Sie könnte mit Hypnose oder Natrium-Amytal arbeiten, aber wäre beides stark genug, um das Angstzentrum in seinem Gehirn zu beruhigen? Ihr Blick streifte an einer Reihe von Büchern vorbei, sah aber nicht wirklich mehr als uralte Leinenrücken. Hypnose war eine Idee, aber andererseits kämpfte Gray stets gegen einen entspannten Zustand an – Himmel, er kämpfte derzeit gegen alles an. Er weigerte sich noch immer, ins MRT geschoben zu werden.

Sara beruhigte sich und neigte den Kopf zu einer Seite, als höre sie etwas. Aber da war nichts, jedenfalls nichts, das ihre Ohren registriert hätten. Dann befiel sie jähe Beklommenheit, ein so mächtiges Angstgefühl, dass sie aufstand und fortlief. Sie fragte sich einen Moment, ob ihre Reaktion wegen Gray erfolgte, wegen der Gedanken an Tests und Medikamente und der stets gegenwärtigen Furcht, dass mit der Erinnerung an das Feuer auch alle anderen Erinnerungen Grays ersterben würden und er ohne Vergangenheit bliebe. Aber die Angst verging so rasch wieder, wie sie gekommen war, und ein berauschendes Gefühl der Freude umhüllte ihren Körper stattdessen wie eine Decke.

Alexander.

Sie sprang praktisch die Treppe hinab und lief aus der Bibliothek. Da sah sie Evans aus dem Wohnzimmer kommen und den Flur hinabeilen und rief ihn.

Er blieb stehen, wandte sich um und wirkte ein wenig zerstreut, als er sagte: »Dr. Donohue?«

»Ist Alexander zu Hause?«

»Nein, aber er sollte bald zurückkehren. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

Sie schüttelte enttäuscht den Kopf. »Nein, nein danke.«

Er wirkte erleichtert, wandte sich rasch ab und eilte weiter den Flur hinab.

»Warten Sie einen Moment! He, Evans?«

Sie holte ihn ein und bemerkte eine leichte Verdrossenheit in den Tiefen seiner Augen. »Ja, Doktor?«

Sie seufzte. »Ich weiß nicht, woher ich es weiß, aber Alexander ist hier. In diesem Haus.«

Evans wurde blass. »Was?«

»Ich kann ihn spüren.«

Schock zeigte sich in seinen Augen.

Sara preschte voran. »Ich muss ihn sehen.«

Evans schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.«

»Warum?« Sie zuckte die Achseln, und ihr Blick beschwor ihn zu antworten. »Was ist los? Warum können Sie mir nicht sagen, wo er ist?«

Es dauerte einen Moment, während Evans nach den richtigen Worten suchte. »Er würde es nicht wünschen.«

Ihr Herz verkrampfte sich. »Hat er das gesagt? Hat er gesagt, er will mich nicht sehen?«

»Bitte, Doktor. Er wird zu Ihnen kommen, wenn er bereit ist.«

Sara öffnete den Mund zu einer Antwort, versagte sie sich aber. Sie konnte Menschen sehr gut beurteilen und wusste, wann es an der Zeit war nachzugeben. Sie würde einen treuen Angestellten nicht zu Antworten drängen, die ihn in Schwierigkeiten bringen könnten. Sie presste die Lippen ergeben aufeinander und nickte. »Tut mir leid. Sie haben Recht, Evans. Es ist kein Problem. Ich sehe ihn dann morgen.«

Evans lächelte ihr dankbar zu. »Sehr gut, Doktor.« Dann wandte er sich um und nahm seinen Weg den Flur hinab wieder auf.

Sara sah ihm nach, und als er weit genug entfernt war und ihre Schritte nicht mehr hören konnte, folgte sie ihm.