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Der Mann war nicht groß, hatte aber breite Schultern und sah unleugbar gut aus. Sein langes blondes Surfer-Haar, die Grübchen und die hellblauen Augen standen in starkem Kontrast zu seinem Verhalten, das verschlossen und schlicht fragwürdig wirkte.

Sara traute ihm nicht über den Weg.

Sie stand ihm in Pearls Zimmer gegenüber und erklärte ihm erneut, warum sie ihn hinauswarf. »Eigenmächtige Besuche sind nicht erlaubt, Mr. Barnes.«

»Alistair. Bitte.« Er lächelte ihr angespannt zu. »Das Kind braucht einen Elternteil, denken Sie nicht?«

»Ja, aber leider ist dieser rechtmäßige Elternteil nicht hier.«

»Doktor …«

»Ich habe mehrfach versucht, Sie zu erreichen, ebenso wie die Sozialarbeiterin.« Saras Blick schweifte zu Pearl, die auf der Bettkante saß und erhitzt und beunruhigt wirkte. »Pearl, weißt du, wo deine Mutter sein könnte? Wie ich sie erreichen kann?«

Pearl konnte nicht einmal den Mund öffnen, als Alistair sich schon einschaltete. »Ihre Mutter kann mit der belastenden Situation leider nicht umgehen. Sie hat mich gebeten, auf Pearl aufzupassen, und …« er sah sie direkt an, »… darauf zu achten, wie Sie sich um sie kümmern.«

Was war es nur?, dachte Sara und betrachtete ihn genau. Da war etwas höchst Vertrautes an seinem Tonfall und dem Ausdruck in seinen Augen. Sie fragte sich einen Moment, ob er ein Patient gewesen war.

Er fuhr fort, mit dem Rücken zu Pearl gewandt: »Und ich darf sagen, dass Sie sich gut um unser Mädchen kümmern.«

»Ich tue mein Bestes«, versicherte Sara ihm.

»Dessen bin ich mir sicher.« Er schien um einige Zentimeter zu wachsen, als er nun auf Sara hinabblickte.

Sara blinzelte nicht einmal. »Und ich werde nicht aufhören, mich um sie zu kümmern, bis sie … nun, wieder sie selbst ist.«

Seine Augen wurden schmal. »Gut zu wissen.«

Sie sahen einander einen Augenblick an, und Sara fragte sich, ob der Mann auch eine Art Verbindung zu ihr spürte. Was, zum Teufel, war das? Als könnte er ihre Gedanken hören, verdunkelte sich Alistairs Blick von himmelblau zu saphirfarben, und seine Nasenflügel bebten, als rieche er etwas Unangenehmes.

»Ich sollte gehen«, sagte er.

Sara hörte Pearl gereizt etwas murmeln, nickte dem Mann aber zu. »Ich bringe Sie hinaus.«

Nachdem sich Alistair von Pearl verabschiedet hatte, folgte Sara ihm aus dem Raum und den Flur hinab. Ihr Pieper erklang, und sie blickte darauf, um die Nachricht zu lesen. Die Tests, die sie für Gray angeordnet hatte, konnten beginnen, während Pearls Blutergebnisse, auf die sie gewartet hatte, noch immer nicht aufzufinden waren. Was, zum Teufel …? Ihre Konzentration war höchstens zehn Sekunden abgeschweift, aber als sie wieder aufblickte, war Alistair Barnes verschwunden.

Alexander bewegte sich lautlos den Flur hinab, an der Leichenhalle vorbei. Er glitt in eine Nische, in der er sich verbergen und Sara dennoch durch eine kleine Glasscheibe frei beobachten konnte.

»Wollen Sie meine Deckung auffliegen lassen?«, flüsterte Dillon neben ihm sarkastisch. »Sie wissen doch, dass ich das nicht mag.«

»Ich musste sie sehen.«

»Nun, da ist sie. Sie haben sie gesehen. Und jetzt verziehen Sie sich wieder ins Kellergeschoss.«

»Sie sollten besser aufpassen, Dillon«, warnte Alexander leise.

»Ja?«

»Ja, denn Sie klingen allmählich wie eine besitzergreifende Geliebte.«

Sie wandte sich um und boxte ihn genau auf das Bein, das sie vor einer Stunde geheilt hatte. »Halten Sie den Mund.«

Er grinste in der Dunkelheit. »Denken Sie nicht, dass ich es nicht merken würde.«

»Was merken? Sie sprechen in Rätseln.«

»Sie mögen sie.« Alexander beobachtete, wie Sara mit ihrem Bruder sprach, der mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. »Ich erkenne, wie Sie sie ansehen.«

»Die Umwandlung hat Sie falsch geschaltet, wissen Sie das?«, fragte Dillon.

Alexander zuckte die Achseln. »Ich werde es Ihnen nicht vorwerfen. Sie ist ein besonderer Anblick.«

»Sind wir hier fertig?«

»Ihre geheime Scham ist Ihre Sache, Dillon. Paven, Veana, was auch immer Sie diese Woche begehren wollen, ist mir egal. Das war es schon immer. Sara gehört jedoch mir.«

Dillon fluchte. »Sie wollen diese Aufgabe übernehmen?«

»Sie wissen, dass ich das nicht kann.«

»Dann schweigen Sie besser, bevor ich gehe und meine Schuld für vollkommen beglichen erkläre.«

Alexander lachte leise, obwohl seine Aufmerksamkeit weiterhin dem Raum galt, den er kaum einsehen konnte, und der Frau darin, die zu berühren er sich ersehnte. »Das ist also der Bruder.«

»Sein Name ist Gray.«

»Sie sehen sich ähnlich.«

»Sie sind Geschwister, Sie Genie.«

»Was macht sie mit dem Filmprojektor?«

»Sie hat eine Theorie entwickelt, wie sie eine alte Angst in seinen Geist zurückführen und die vorübergehende Amnesie dann dazu benutzen kann, diese alte Angst durch eine neue, angenehme Erinnerung zu ersetzen. Ich hörte, wie sie heute Morgen mit ihrem Chef darüber sprach.«

Es geschah im Handumdrehen. In dem einen Moment spürte Alexander noch nichts, aber im nächsten Moment prickelte jeder Zentimeter seiner Haut vor Leben. Er blickte mit geweiteten Augen durch die Glasscheibe, direkt zu Sara. »Sie will eine Erinnerung loswerden?«

»Darum ist ihr Bruder hier«, sagte Dillon sarkastisch, als nähme sie an, er wüsste es bereits und wollte sie nur mit Fragen ärgern. »Schon seit Jahren. Es ist ihre Lebensaufgabe, eine traumatische Erinnerung aus seinem Gehirn zu löschen. Wissen Sie, das Feuer, das sie versehentlich gelegt hat, als sie …« Dillon schwieg jäh, wandte sich dann um und schüttelte den Kopf. »Nein, Alexander.«

Alexander antwortete nicht, den Blick noch immer auf die Frau gerichtet, die nicht nach Hause kommen wollte, die Frau, die er nicht aus seinem Leben gehen lassen wollte.

Dillon schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht tun.«

»Was tun?«

»Oh bitte!«

»Beruhigen Sie sich, Dillon.«

»Sie sind ein selbstsüchtiger Mistkerl, wissen Sie das?«

Er wandte sich zu ihr um und knurrte: »Es wäre ein Geschenk, das für sie zu tun.«

»Ein Geschenk?« Sie schnaubte.

»Ja.«

»Ohne weitere Bedingungen, richtig?«, fragte sie sarkastisch.

»Ich muss gehen.«

»Gut.«

»Ich habe Training.«

»Vielleicht sollten Sie sich zuerst nähren, den Kopf klären.«

»Das habe ich bereits.« Er stieß sich von der Wand ab und eilte ohne ein weiteres Wort auf die Tunnel zu.

Nicholas stand herausfordernd auf dem Rasen vor Dares Stadthaus und atmete seine beiden Lieblingsdüfte ein: Sex und Drogen. Sein Körper verlangte vehement nach beidem, drängte ihn hineinzugehen und beides zu suchen.

Aber er musste diesen Drang verbergen, ihn unterdrücken.

Er holte sein Handy hervor und wählte.

Lucian nahm ab, bevor das erste Klingeln verklungen war. »Ist Dare wieder unterwegs?«

»Dieses Mal auf lange Zeit«, antwortete Nicholas. »Er ist fort. Sie alle sind fort. Einschließlich Trainer, von dem ich früher einmal dachte, er wäre leichter zu töten als eine Fliege.«

»Verdammt. Hast du das ganze Haus inspiziert? Alle Schlafzimmer?«

Er vermutete richtig. Tatsächlich war Nicholas in jedem einzelnen zu lange geblieben. »Ich wette, sie sind in ein Versteck abgetaucht. Sie wissen nach Alexanders Minimassaker, dass wir es ernst meinen. Dare muss uns jetzt wirklich fürchten.«

»Bestimmt.« Lucian schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Du weißt, dass wir nur noch wenig Zeit haben – du hast nur noch wenig Zeit.«

»Wir werden ihn finden.«

»Wir sollten die ›Augen‹ kontaktieren.«

Nicholas zog sich in sich selbst zurück, und der Geruch nach Sex und Drogen aus dem Inneren des Stadthauses stieg ihm erneut in die Nase. »Ihnen werden wir niemals vollkommen vertrauen können.«

»Das ist jetzt unwichtig. Wir brauchen ihre Hilfe, sie sehen alles.« Er konnte fast hören, wie Lucian die Achseln zuckte. »Aber es ist deine Entscheidung. Diese Straßengang gehört zu deiner Vergangenheit. Wenn wegen des Kontakts zu ihnen dein Bedürfnis nach Gravo wieder einsetzt, oder …«

»Nein«, unterbrach Nicholas ihn schroff. »Sie haben jetzt keine Macht mehr über mich. Ich werde es tun.«

Nachdem Nicholas das Gespräch beendet hatte, steckte er sein Handy wieder ein, wandte sich von dem Stadthaus ab und ging auf seinen Wagen zu. Der Gedanke an Gravo ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das getrocknete, vergiftete Blut war eine verdammte Bedrohung für die Vampirgesellschaft. Es hatte seine Mutter vernichtet, ganz zu schweigen von seiner Zeit als Balas, aber es verging kein Tag, an dem er nicht daran dachte, und keine Nacht, in der er sich nicht nach der vollständigen Stille aller Empfindungen und dem zutiefst abstumpfenden Schmerz, den das mit sich brachte, sehnte.