11
Es dauerte nur zwei Sekunden. Von Anfang bis Ende, von dem Moment an, der sich anfühlte, als hätten sie das Zentrum eines Tornados betreten, bis zu dem Moment, der sich anfühlte, als wären sie wieder ausgespien worden.
Sara starrte schwer atmend und mit zitternden Beinen auf ihre Wohnungstür. »Was war das?«, fragte sie und konnte die Realität dessen, was sie gerade erlebt hatte, kaum glauben. »Wie hast du das gemacht?«
Alexander, der neben ihr stand, ließ sie los und griff nach dem Türknauf. »Eine einfache Bitte des Geistes.«
»So in etwa wie ›Ich sehe im Geiste meine Wohnungstür, und los geht’s‹?«
Er lachte leise. »So ähnlich.« Er benutzte keinen Schlüssel, aber die Tür schwang dennoch weit für sie auf. »Wollen wir?«
Während der Wind ihr das Haar ins Gesicht peitschte, ergriffen Skepsis und Angst alle Muskeln ihres Körpers. Sie wollte nicht erneut dort hineingehen. »Warum sind wir hier?«
»Du musst sehen, mit wem und womit du es zu tun hast.« Er drängte sie sanft voran. »Komm, Sara.«
Sie betrat widerwillig das Apartment, wohl wissend, dass sie den Trost einer rationalen Existenz irgendwo dort im Krankenhaus zurückgelassen hatte. Gleichgültig, wie sehr sie es sich auch wünschte – es war unmöglich geworden vorzugeben, der Mann neben ihr sei ein Mensch, oder sie sei nicht in etwas gefangen, was sie unmöglich begreifen konnte und was latent lebensbedrohlich war. Und Letzteres wurde ihr in dem Moment bewiesen, als sie ihr Apartment von innen sah. Sie starrte offenen Mundes darauf. Der Raum war vollständig zerstört, und der frische Geruch des Todes hing in der Luft. Der Wohnbereich war in eine Art Anti-Vampir-Schrein verwandelt worden, mit roter Farbe auf den Wänden, den Sesseln und auf der Couch. Kruzifixe und Knoblauch hingen an Leuchtkörpern und Bilderrahmen, aber am meisten bestürzten sie die ungefähr ein Dutzend verstümmelten Fledermäuse, die, zusammen mit Tom Trainers Visitenkarte – einem kleinen toten Vogel in der Mitte – in einem perfekten Kreis auf dem Boden ausgelegt worden waren.
Sara konnte den Blick nicht von der Szene vor sich abwenden und fragte Alexander: »Weißt du, wann das geschehen ist?«
»Vermutlich ein paar Stunden, nachdem wir fort waren.«
»Du warst hier. Du hast das bereits gesehen.«
»Unmittelbar bevor ich zu dir kam.«
Da sah sie zu ihm hoch. »Ich muss die Polizei rufen, Alexander.«
»Sie können nichts für dich tun. Mein Bruder Nicholas ist ein erstklassiger Fährtenleser. Er wird Trainer finden. Inzwischen brauchst du einen Ort, wo du bleiben kannst. Irgendwo, wo es sicher ist.«
Sie wusste, was er meinte, wo er diesen sicheren Ort zu finden glaubte, aber das wollte sie nicht. »Ich bleibe bei Freunden«, erwiderte sie rasch.
Er wölbte die Augenbrauen. »Du willst diesen Mann zu deinen Freunden führen?«
Saras Augen wurden schmal. »Du treibst ein übles Spiel, Vampir.«
Alexander lächelte. »So spiele ich nun mal, Frau.«
Das heisere Timbre seiner Stimme, der raubtierhafte Blick, mit dem er sie ansah, ließen sie innerlich erbeben. »Ich verstehe es nicht. Warum kümmerst du dich so sehr um mich?«
»Was?«
Sie senkte die Stimme. »Was willst du von mir? Ich will nicht gerettet werden.«
In dem nun folgenden Schweigen zog ein Ausdruck über Alexanders Gesicht, der den strengen Ausdruck in seinen Augen dämpfte. Es war etwas der Leere bedrückend Ähnliches, und es ließ die in Saras Herz verbliebene Angst verfliegen.
»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er schlicht, mit sanfter Stimme.
Da sah Sara ihm fest in die Augen, und gegenseitiges Verstehen baute sich zwischen ihnen auf. Er wünschte sich, dasselbe für sie tun zu können.
»Aber du willst gegen mich ankämpfen«, sagte er. »Warum? Warum bist du so eigensinnig, Sara Donohue? Hast du es nie zugelassen, dass jemand sich um dich kümmert?«
Bei seinen Worten bildete sich ein Kloß in ihrer Kehle, aber sie verdrängte das Gefühl der Beklemmung. »Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert.«
Nun streckte Alexander eine Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über den raschen Puls an ihrer Kehle. »Vielleicht nicht, aber du wirst bei mir bleiben, bis dieser Mann gefasst ist.«
Sara rang um Selbstkontrolle, aber seine heiße Berührung spottete ihrer Entschlossenheit. Gottverdammt! Sie hatte ihr Leben jahrelang – eine Ewigkeit scheinbar – nur einem Zweck, einem Ziel, einer Person verschrieben. Es war ein angemessener Weg gewesen und war es immer noch. Aber Tom Trainer hatte sich seinen Weg in ihre Welt erzwungen, und sie musste sich mit ihm auseinandersetzen. Wäre er nicht mehr unterwegs und keine Bedrohung mehr, könnte sie in den Normalzustand zurückkehren, aber im Moment musste sie sich schützen. Dieser Mann, dieser Vampir, der so nahe bei ihr stand und sie so zart berührte, würde ihr den benötigten Schutz gewähren. Das wusste sie. Sie wusste es ebenso sicher, wie sie ihren eigenen Namen kannte.
Ihr Blick hielt seinen fest. »Wir werden einige Regeln aufstellen müssen.«
»Welche Regeln?«
»Ich habe ein Leben, Arbeit, Patienten, die mich brauchen und sich auf mich verlassen.«
Er trat wortlos von ihr fort zur Tür, die sich öffnete, noch bevor er auch nur in deren Nähe gelangte. Dort wandte er sich mit ernstem Tonfall und ernster Miene zu ihr um. »Deine Arbeit ist deine Sache«, sagte er. »Ich schwöre, dass ich dich nicht davon abhalten werde.«
Sie regte sich nicht. »Aber du wirst mich beobachten?«
Das harte, besitzergreifende Aufblitzen seiner merlotfarbenen Augen sagte alles.
Der üble Geruch des Todes in ihrem Apartment wurde jäh schlimmer, als wolle er sie zum Handeln zwingen. »In Ordnung, Vampir«, sagte sie und ging an ihm vorbei, hinaus in die frostige Nacht New York Citys. »Fliegen wir.«