15
„Ich kann es nicht fassen, dass ihr sie dazu überredet habt”, knurrte Thomas, der Inez im Cafe auf der anderen Straßenseite nicht aus den Augen ließ. Er hatte sie dorthin begleitet und auf dem Weg mit ihr noch eine Buchhandlung besucht, um ein paar Bücher zu kaufen, damit es nach einem ganz normalen Spaziergang aussah. Im Cafe hatten sie zwei Cappuccino bestellt, und nach etwa zehn Minuten warf er einen Blick auf die Uhr und stand auf, als habe er irgendetwas vergessen. Er verließ allein das Cafe und kehrte zurück zu ihrem Quartier, bog nach zwei Blocks aber in eine Seitenstraße ein und ging parallel zur Hauptstraße zurück, bis er eines der wenigen neueren Häuser in York erreichte.
Auf dessen Dach war er dann mit Bastien und Etienne zusammengetroffen, die von dort aus das Cafe im Auge behielten. Die drei Männer lagen bäuchlings auf dem Flachdach und beobachteten das Lokal auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das es wegen seiner großen Fenster möglich machte, alle Tische und jeden Gast im Auge zu behalten. Für Thomas, der sich vor wenigen Minuten zwischen Etienne und Bastien gelegt hatte, gab es allerdings nur einen einzigen Gast, den er sehen wollte: Inez.
„Wir haben sie nicht dazu überredet”, widersprach ihm Bastien von rechts. „Sie hat sich unseren Plan angehört, hat ihn für gut gehalten und war damit einverstanden.”
„Dann hätte ich verhindern müssen, dass ihr Inez euren Plan erklärt”, herrschte Thomas ihn an. „Ich hätte sie mit nach oben nehmen und sofort wandeln sollen.”
„Und warum hast du dann zugelassen, dass sie ihn sich anhört?”, konterte Etienne von links. „Mich hat sowieso gewundert, dass du aufgehört hast, zu schimpfen und zu brüllen, und dich stattdessen dazugesetzt hast, um dir anzuhören, was wir ihr zu sagen hatten.”
„Sie sollte mich nicht für einen Diktator halten”, gab er bedauernd zu. „Außerdem dachte ich, sie ist so vernünftig und sagt Nein.” Kopfschüttelnd betrachtete er die Frau, über die sie redeten, und fragte verständnislos: „Wie kann jemand, der sonst so besonnen und kompetent ist, einem derart blödsinnigen Plan nur zustimmen?”
„Eben weil sie so besonnen und kompetent ist. Deswegen hat sie ja auch eingesehen, dass der Plan sehr vernünftig ist”, brummte Bastien.
Thomas war so wütend, dass er schließlich den Blick von Inez löste und Bastien wütend ansah. „Vernünftig? Du wirfst einen hilflosen Köder ins Wasser, ohne erst Mal einen Haken daran festzumachen, und dann hoffst du, dass der Hai auftaucht und du noch genug Zeit hast, deinen Köder in Sicherheit zu bringen, bevor der Hai ihn verschlingt. Das ist kein Plan, das ist ein Himmelfahrtskommando, und du hast meine Lebensgefährtin dafür ausgewählt.” Er schnaubte wütend und fügte verbittert hinzu: „Hättest du mich sie wenigstens noch wandeln lassen, dann könnte er sie nicht so leicht töten, und sie wäre in der Lage, sich zur Wehr zu setzen.”
„Ich weiß”, räumte Bastien schuldbewusst ein. „Ich verspreche dir, ich lasse nicht zu, dass ihr etwas zustößt. Aber dieser Kerl hat sich aus irgendeinem Grund ganz auf Inez eingeschossen. Er muss etwas mit Mutters Verschwinden zu tun haben.” Sichtlich unglücklich sah er wieder zum Cafe hinüber. „Seit sieben Tagen haben wir nichts mehr von Mutter gehört. Wir.... ich”, korrigierte er sich betreten, „bin bald der Verzweiflung nah. Wir konnten nicht noch einen weiteren Tag warten, den Inez für ihre Wandlung benötigt hätte.”
„Ich bin auch in Sorge um Tante Marguerite”, betonte Thomas und richtete den Blick ebenfalls wieder auf Inez. „Aber verdammt noch mal, Bastien. Ich bin nicht bereit, Inez zu opfern, um Marguerite zu finden. Vor allem nicht, wenn wir dahintergekommen wären, was sie herausgefunden hat.”
Bastien sah ihn verständnislos an. „Was soll sie herausgefunden haben?”
„Das, was ihn dazu veranlasst hat, sich auf Inez zu konzentrieren”, gab er zurück. „Jedenfalls halte ich das für den Grund. Irgendetwas an dem Fall muss ihr klar geworden sein, alles andere ergibt keinen Sinn.” Er sah zu, wie Inez die Haare hinters Ohr strich, während sie weiter in ihrem Buch las. „Wir haben darüber gesprochen, aus welchen sieben Personen sich die Gruppe zusammengesetzt haben könnte.”
„Sieben Personen?”, wiederholte Etienne. „Was redest du da?”
„Tante Marguerites Gruppe”, erklärte Thomas und fasste zusammen, welche Schlüsse Inez aus der Belegung der Schlafzimmer gezogen hatte. „Wir haben versucht, eine Erklärung zu finden, wer diese Leute gewesen sein könnten, als Inez aufstand, um zur Toilette zu gehen. Ich vermute, dass er ihre Erinnerung gelöscht hat, weil sie weiter darüber nachdachte. Er hat wohl gehofft, wenn er ihr die Erinnerung nimmt, hat sich auch das Problem an sich erledigt. Aber dann haben wir im Pub erneut darüber gesprochen.... ” Er schüttelte den Kopf. „Wir waren gerade dabei, der Sache auf den Grund zu gehen, da bin ich aufgestanden, um an der Theke zwei Alles zu bestellen. Als ich zurückkam, war sie weg, und ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, sie umzubringen.”
„Dann glaubst du, er wollte sie töten, weil es nicht genügt hat, ihre Erinnerung zu löschen, da sie immer wieder zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt ist?”, überlegte Etienne.
„Um zu verhindern, dass sie dahinterkommt, wer diese sieben Personen waren”, ergänzte Bastien.
„Was uns zu Tante Marguerite geführt hätte”, meinte Thomas. „Oder zumindest auf eine nützlichere Spur.”
Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Thomas sah seine beiden Cousins an, die das Cafe nicht aus den Augen ließen. Ihre nachdenklichen Mienen ließen den Schluss zu, dass sie jetzt ebenfalls grübelten, was Inez herausgefunden haben mochte. Schließlich beobachtete er auch wieder Inez an ihrem Tisch. Seiner Meinung nach hätten sie erst darüber nachdenken sollen, anstatt einen Köder auszulegen. Sie hätten mit ihr darüber reden sollen, wer möglicherweise zu der Gruppe gehört hatte, anstatt zu riskieren, dass der Mistkerl sie abermals in die Finger bekam.
Thomas fiel eine Frau mit kurzen, hochstehenden Haaren auf, die an Inez vorbeiging, ohne sie eines Blicks zu würdigen. Mit seinen Blicken folgte er ihr, während sie sich ins Erdgeschoss begab. Er wollte kaum glauben, dass es sich bei ihr um Etiennes rothaarige Ehefrau Rachel handelte. Durch die Perücke und die schwarze Kleidung war sie nicht wiederzuerkennen. An der Theke im Erdgeschoss blieb sie stehen und bestellte etwas, woraufhin Thomas seinen Blick wieder Terri im ersten Stock zuwandte, die mit blonder Perücke und einem geblümten Kleid ebenso perfekt getarnt war.
Rachel kehrte mit ihrem Getränk nach oben zurück und entschied sich für einen anderen Tisch, von dem aus sie Inez und die Treppe ebenfalls sehen konnte. Kaum hatte sie Platz genommen, ging Terri nach unten, um sich ebenfalls noch etwas zu trinken zu holen. Thomas wünschte, sie würden das nicht tun, sondern in Inez’ Nähe bleiben, aber er wusste auch, wenn sie nichts mehr tranken, würde man sie bitten, das Lokal zu verlassen. Auch Inez würde sich bald einen zweiten Cappuccino holen müssen, überlegte er, sah auf seine Uhr und stellte fest, dass sie jetzt schon über eine halbe Stunde allein an ihrem Tisch saß.
„Das funktioniert nicht”, ließ er erleichtert verlauten. „Wenn er etwas unternehmen wollte, wäre der Kerl längst in Aktion getreten.”
„Ich glaube, Thomas hat recht, Bastien”, sagte Etienne, der aber eher enttäuscht klang.
Bastien schwieg eine Weile, dann entgegnete er: „Sie liest ein Buch.”
„So wie du es wolltest”, gab Thomas zurück. Sie las einen von Lucerns Romanen, den sie gekauft hatte, weil sie Lucern gegen über nicht zugeben wollte, dass sie keins von seinen Büchern kannte, wenn er später am Tag mit Kate eintreffen würde. „Du hast gesagt, sie soll irgendetwas lesen, damit sie nicht versehentlich über die Falle nachdenkt und den Kerl damit warnt.”
Bastien nickte und sagte nach einer Weile: „Ruf sie an.”
„Warum?”
„Sag ihr, sie soll wieder darüber nachdenken, wer die sieben Personen gewesen sein könnten. Wenn sie bereits auf die Lösung gekommen ist und das unseren Angreifer zum Handeln veranlasst hat, dann soll sie jetzt wieder überlegen. Vielleicht kommt sie erneut drauf, und unser Mann schreitet abermals ein”, erklärte er. „Danach rufen wir Rachel und Terri an, um sie auf dem Laufenden zu halten, damit sie nicht unaufmerksam werden, nur weil sie glauben, dass nichts mehr passiert.”
Thomas sah seufzend zu Inez. Er wollte nicht, dass der Kerl in Aktion trat. Er wollte Inez zu ihrer Unterkunft zurückbringen und sie beschützen, von ihrer Wandlung ganz zu schweigen. Als Bastien seinen Arm fasste, drehte er sich unwillig zu seinem Cousin um.
„Bitte, Thomas. Ich verspreche, ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt. Notfalls springe ich vor allen Leuten von diesem Dach, nur um sie zu beschützen.”
Das waren bemerkenswerte Worte, war doch gerade Bastien derjenige, der permanent darauf hinwies, dass keiner von ihnen irgendetwas tun durfte, was die Öffentlichkeit auf ihre Art hätte aufmerksam machen können. Dass er bereit war, seine Existenz derart zu enthüllen, wenn es notwendig werden sollte, Inez zu beschützen.... Seufzend holte Thomas das Telefon aus der Tasche und wählte ihre Nummer.
Inez blätterte um und verschlang die Geschichte über Thomas’ Cousine Lissianna, wie die ihren Ehemann gefunden hatte. Es war faszinierend, über Leute zu lesen, von denen sie einige bereits kannte und andere erst noch kennenlernen würde. Sie war froh darüber, dass sie sich dieses Buch ausgesucht hatte, da es sie von dem eigentlichen Grund für ihre Anwesenheit im Cafe ablenkte, was von Bastien auch exakt so beabsichtigt gewesen war. Sie merkte, dass ihre Gedanken in eine Richtung drifteten, von der sie sich fernhalten musste, und konzentrierte sich wieder auf die Geschichte, während sie nach ihrem Cappuccino tastete, die Tasse ansetzte und feststellte, dass die inzwischen leer war.
Unwillkürlich fragte sie sich, wie lange sie schon dort saß, doch als sie auf ihre Armbanduhr sehen wollte, klingelte plötzlich ihr Handy. Sie griff in die Handtasche und holte es heraus. „Hallo?”, meldete sie sich.
„Inez, es tut mir leid, dass es etwas länger dauert”, hörte sie Thomas leise sagen.
„Ist nicht so schlimm”, erwiderte sie und zwang sich dazu, sich nicht umzusehen und schon gar keinen Blick auf das Dach zu werfen, auf dem die drei Männer lagen und sie beobachteten.
„Ich müsste bald zurück sein”, fuhr er fort. „Aber ich habe unterwegs noch mal an diese siebenköpfige Gruppe gedacht, zu der Tante Marguerite gehört hat.”
„Tatsächlich?” Sie legte den Kopf schräg.
„Ja, und ich möchte, dass du noch mal ganz genau darüber nachdenkst, wer diese sieben Personen gewesen sein könnten, während du auf mich wartest”, sagte Thomas sehr ernst und eindringlich. Inez versteifte sich, da sie sofort verstand, was er meinte.
„Kannst du das für mich tun?” Thomas klang nicht so, als ob das sein größter Wunsch sei, aber das überraschte sie auch nicht. Er war wütend auf sie, seit sie zugestimmt hatte, für Bastien und Etienne den Köder zu spielen. Er hatte sich so barsch und wortkarg verhalten, dass sie erleichtert gewesen war, als er nach zehn Minuten das Cafe verlassen hatte.
„Ja, das kann ich machen”, erwiderte sie. Es folgte ein langes Schweigen, und sie wusste, Thomas wollte ihr noch etwas sagen, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Schließlich meinte er nur: „Wir sehen uns in Kürze.”
„Ja”, flüsterte sie und steckte ihr Handy zurück in die Handtasche.
Sie schlug das Buch zu, hielt es aber weiter in der Hand und betrachtete es, während sie versuchte, Thomas’ Bitte nachzukommen. Ein Klingeln lenkte sie ab, und als sie sah, dass Rachel nach ihrem Telefon griff, wandte sie rasch den Blick ab, um nicht darüber nachzudenken, dass Etienne ihr wohl berichtete, was sie vorhatten. Im nächsten Moment meldete sich auch Terris Telefon. Inez konzentrierte sich ganz auf ihre Gedanken, was ihr nicht sofort gelingen wollte. Dann jedoch war sie wieder in das Rätselleingetaucht, wer die Mitglieder von Marguerites siebenköpfiger Gruppe gewesen sein mochten, doch es geschah nichts. Sie wurde nicht plötzlich wieder kontrolliert und dazu gezwungen, das Cafe zu verlassen. Stattdessen tat sich eine halbe Stunde lang gar nichts, erst dann klingelte wieder ihr Telefon. Auch Rachel und Terri wurden im gleichen Moment angerufen.
„Er wird heute nichts mehr unternehmen”, ließ Thomas sie wissen. „Irgendetwas muss ihn abgehalten haben. Etienne, Bastien und ich kommen jetzt runter.”
Sie spürte, wie sich ihr ganzer Körper entspannte, als sie seine Nachricht hörte. Bislang hatte sie gedacht, sie sei weitgehend die Ruhe selbst, während sie dasaß und unter den wachsamen Blicken von gleich fünf Unsterblichen den Köder spielte. Doch jetzt, da es vorbei war, musste Inez erkennen, dass sie recht verkrampft gewesen war und dass das Buch sie gar nicht so sehr abgelenkt hatte. Ihr Bewusstsein war in die Geschichte eingetaucht, aber ihr Unterbewusstsein hatte sich davon nicht täuschen lassen.
„Wir werden in etwa fünf Minuten da sein”, fügte er hinzu. „Bestell schon mal zwei Cappuccino, dann können wir in Ruhe überlegen, wo du dein letztes Mahl als Sterbliche zu dir nehmen möchtest.”
Inez wollte lächeln, weil er so guter Laune war, doch er war letztlich nicht derjenige, der die unerträglichen Quallen aushalten musste, das Gefühl, in einem Säurefass zu treiben, das einen von innen und von außen zerfraß. Die grässlichen, albtraumhaften Schmerzen, die bei ihr den Wunsch wecken würden, jemand möge ihr eine Kugel durch den Kopf jagen, damit es ein Ende nahm. So hatte Etienne es formuliert, und so war es ihr im Gedächtnis geblieben. Sie wollte mit Thomas zusammen sein, doch diese Sache mit all den Schmerzen gefiel ihr überhaupt nicht.
„Ja”, erwiderte sie. „Ich bestelle für uns zwei Cappuccino.” „Ich liebe dich”, sagte Thomas und legte auf, bevor sie etwas erwidern konnte. Sie wusste nicht, ob sie darüber froh sein sollte oder nicht. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihm bislang noch gar nicht gesagt hatte, dass sie ihn liebte. Als Rachel sie gefragt hatte, ob sie Thomas liebe, da hatte sie zwar genickt, doch es war keine Gelegenheit gewesen, es ihm tatsächlich zu sagen. Sobald er bei ihr war, würde sie das nachholen. Und dann würde sie vielleicht vorschlagen, die Wandlung noch ein wenig hinauszuschieben, bis sie Marguerite gefunden hatten. Oder sogar noch etwas weiter. Zugegeben, sie liebte Thomas, aber für derartige Schmerzen konnte sie sich wirklich nicht begeistern.
„Inez? Ich gehe nach unten und hole mir einen Tee, solange die Männer noch nicht hier sind. Kann ich dir was mitbringen?” Sie hob den Kopf und musste lächeln, als sie Terri ansah, die mit Perücke und Kleid so völlig anders aussah. Dann stand sie auf. „Ich komme mit nach unten. Thomas möchte einen Cappuccino haben.”
„Okay, aber lass deine Handtasche nicht hier oben liegen”, meinte Terri beiläufig. Inez griff nach ihrer Tasche und steckte soeben das Buch hinein, als Rachel dazukam und mit ihnen nach unten ging.
„Ich schwöre dir, Terri, in deiner Aufmachung siehst du aus wie die perfekte, immer gut gelaunte Hausfrau”, meinte Etiennes Frau amüsiert. „Sag mal, hat Bastien dich gebeten, die Perücke für später zu behalten?”
Inez musste über die Bemerkung grinsen, begann aber zu lachen, als Terri errötete und bejahend nickte. „Gibt es hier eine Toilette?”, fragte Terri, als sie im Erdgeschoss angekommen waren.
„Ja, da drüben”, antwortete Inez und zeigte auf die Tür links der Treppe.
„Ah, danke. Ich bin gleich wieder da.”
Inez folgte Rachel zur Theke, während sich Terri von der Gruppe löste.
„Ich würde gern wissen, wie die Zitronenmuffins schmecken”, überlegte Rachel laut, als sie darauf warteten, dass die ältere Frau vor ihnen ihre Bestellung bekam. „Die sind gut. Thomas und ich haben hier schon welche gegessen.”
„Hm, dann nehme ich vielleicht einen Muffin und dazu einen Latte”, murmelte Rachel. Inez nickte und überflog die Speisekarte, während sie grübelte, was sie nehmen sollte. In der Zwischenzeit war die ältere Frau bedient worden, und die Angestellte hinter der Theke wandte sich ihnen zu. Rachel wollte Inez vorlassen, aber die wehrte ab und erwiderte: „Ich weiß noch nicht, was ich möchte.”
Rachel gab ihre Bestellung auf, während Inez sich wieder der Tafel mit der Speisekarte zuwenden wollte, dann aber feststellen musste, dass sie sich gegen ihren Willen weiterdrehte und schließlich das Cafe verließ. Ein tonloser Aufschrei ging durch ihren Kopf, als ihr klar wurde, was mit ihr geschah und dass Rachel zu abgelenkt war, um etwas davon mitzubekommen.
Und dabei war Inez so entspannt gewesen. Sie hatte geglaubt, dass alles vorüber sei. Ihre Erinnerung daran, wie der Unbekannte sie am gestrigen Abend kontrolliert hatte, war nur bruchstückhaft gewesen, als sie auf dem Sofa erwachte und Thomas, Etienne und Rachel reden hörte. Kleine Splitter und Mosaiksteinchen, verschwommene Bilder und weit entfernte Sinneswahrnehmungen waren alles gewesen, an das sie sich erinnern konnte, doch als der Schrecken sie nun erneut traf, da kehrten die Ereignisse mit beängstigender Klarheit in ihr Gedächtnis zurück.
Das Entsetzen, kontrolliert zu werden und einem anderen Willen gehorchen zu müssen, der endlose Weg durch dunkle Straßen, die kalte Nachtluft, dazu die unablässigen Gedanken, was ihr Widersacher wohl mit ihr vorhatte. Die Hilflosigkeit und die Unfähigkeit, irgendetwas dagegen unternehmen oder sich wehren zu können, als er sie gezwungen hatte, sich dem Fluss zuzuwenden, während sie genau wusste, dass er sie töten würde....
Jetzt war es wieder ganz genauso, als sie durch die dunklen Straßen von York ging. Diesmal würde wohl endgültig der Tod auf sie warten, und sie spürte, wie sie sich innerlich in ihr Schicksal ergab. „Inez!”
Rachels Stimme erschien ihr wie eine Rettungsleine mitten auf dem Ozean. Erleichterung überkam sie, und sie begann sofort, sich zur Wehr zu setzen und gegen die fremde Kontrolle über ihren Körper anzukämpfen. Es half nichts. Sie setzte weiter einen Fuß vor den anderen, und sie konnte den Mund kein bisschen bewegen, um Rachel etwas zuzurufen. Stattdessen wurde sie plötzlich schneller und begann zu rennen, und das mit einer Geschwindigkeit, die sie nie für möglich gehalten hätte.
Anstatt beunruhigt zu reagieren, nahm Inez es als ein Zeichen, dass sie vielleicht noch eine Chance hatte. Rachel musste sie verfolgen, und ihr würde sie nicht davonlaufen können. Die Frau war eine Unsterbliche, und von Thomas wusste sie, dass die alle stärker und schneller als Sterbliche waren. Inez war davon überzeugt, dass die Frau sie einholen und retten würde.... sofern sie nicht vorher einen Herzschlag erlitt, da die ihrem Körper zugemuteten Anstrengungen zu groß waren. Der Gedanke weckte erneut Sorge in ihr, denn so schnell, wie sie Arme und Beine bewegte, konnte sie das nicht lange durchhalten. Ihr Herz raste schon jetzt schneller, als sie es jemals erlebt hatte, da es verzweifelt versuchte, dem Körper genug Sauerstoff zukommen zu lassen.
Plötzlich trat ein Stück vor ihr ein Mann auf den Gehweg, und Inez riss entsetzt die Augen auf, als sie ihn wiedererkannte. Er war groß, blond und bärtig; er war schwarz gekleidet, und sein kaltes Gesicht wies keinen Hauch von Menschlichkeit oder Gnade auf. Er war genauso aufgetaucht wie am Abend zuvor, nur war sie da nicht wie eine Wahnsinnige auf ihn zugerannt. Er streckte den Arm aus und bekam sie zu fassen.
Inez hätte gern vor Schmerzen gestöhnt, als sie auf Bauchhöhe gegen seinen Arm prallte. Jetzt rannte der Blonde, weitaus schneller, als ihr Körper es jemals hätte leisten können, und er hielt sie dabei so im Arm, dass sie aus dem Augenwinkel Rachel sehen konnte, die ihnen weiterhin folgte. Inez hätte vor Erleichterung weinen können, da sie nun wusste, es war noch nicht alles verloren. Im nächsten Moment kam Wut in ihr auf, da diese Situation so verdammt ungerecht war.
Würde sie nicht von diesem Kerl kontrolliert werden, dann hätte sie ihn treten und schlagen und ihm die Haut vom Arm kratzen können. Bis zum letzten Atemzug hätte sie sich gegen ihn zur Wehr gesetzt, aber diese Chance bekam sie nicht. Denn obwohl der Mann größer, stärker und schneller war, weil es sich bei ihm um einen Unsterblichen handelte, und obwohl sie gar nicht in der Lage war, ihm etwas anzutun, kontrollierte er auch jetzt noch ihren Körper und verhinderte jede Gegenwehr. Der Kerl war ein verdammter Feigling, denn offenbar fürchtete er sich vor den harmlosen Schlägen, die eine Frau ihm zufügen konnte.
Zu ihrem Erstaunen strauchelte der Kerl für einen winzigen Augenblick, und sie war sich sicher, dass ihm die Kontrolle über sie kurzzeitig entglitten war, da es ihr gelang, die Fäuste zu ballen. Als ihr klar wurde, dass der Mann sieh noch immer in ihrem Verstand befand, um sie zu kontrollieren, fiel Inez ein, dass sie möglicherweise etwas gegen ihn in der Hand hatte.
Du bist tatsächlich ein Feigling. Ich hatte mir so was schon gedacht, als du gestern Abend schnell weggelaufen bist, weil Thomas aufgetaucht ist. Aber ich dachte, du hättest vielleicht nur Angst, dich mit jemandem anzulegen, der dir ebenbürtig ist. Ich hätte nicht gedacht, dass du vor einer kleinen Sterblichen wie mir auch Angst haben könntest. Was ist passiert? Hat dich ein kleines sterbliches Mädchen geschlagen oder gekratzt, als du noch ein kleiner unsterblicher Junge warst? Ich möchte wetten, genau das ist passiert. Und du hast bestimmt wie ein Baby geheult.
„Mach nur weiter so, dann werde ich dich langsam und qualvoll töten und jede Sekunde genießen.” Inez war sich nicht sicher, ob er während des Laufens tatsächlich diese Worte gesagt hatte oder ob sie nur in ihrem Kopf zu hören gewesen waren. Thomas hatte ihr nicht erzählt, dass so etwas möglich war, aber wenn die Unsterblichen in der Lage waren, die Erinnerungen im Kopf normaler Leute zu verändern, warum sollten sie dann nicht auch auf diesem Weg mit ihm reden?
Das glaube ich dir aufs Wort. Und ganz bestimmt wirst du mich dabei die ganze Zeit über kontrollieren, damit ich mich auch auf keinen Fall wehre. Der große, überlegene Unsterbliche, der eine wehrlose Sterbliche brutal zu Tode foltert. Wow, du bist sicher sehr stolz auf dich. Aber wahrscheinlich kommt’s dir auch, wenn du so was machst. Vermutlich kommt’s dir sonst überhaupt nicht. Was bist du? Impotent?, fragte sie interessiert. Ich möchte wetten, du bist impotent, fuhr sie fort. Ganz bestimmt hast du auch nur einen winzigen Schwanz. Ich meine, ich weiß, wie das mit den Nanos läuft, dass die euch in die beste körperliche Verfassung bringen, aber wenn jemand zu klein gebaut ist, werden wohl die Nanos auch nichts mehr ausrichten können.
Sie merkte, wie seine Kontrolle zu bröckeln begann, und machte begeistert weiter. Ganz ehrlich, ich möchte das wissen. Bist du bestückt wie ein Hengst, oder hat dir das Schicksal ein mikroskopisch kleines Ding zwischen die Beine gehängt, bei dessen Anblick Frauen sagen: „Auf die Größe kommt es nicht an”, obwohl sie in Wahrheit das kalte Grausen ergreift? Es war offensichtlich, dass sie einen wunden Punkt erwischt hatte, da eine Welle des Zornes durch ihr Bewusstsein rollte und dann von einem Moment auf den anderen einfach verschwand, als der Unsterbliche plötzlich vollkommen die Kontrolle über sie verlor. Sie wusste, dieser Zustand konnte nicht lange anhalten, also trat sie mit aller Kraft nach ihm und hoffte, eine empfindliche Stelle zu treffen. Zu ihrem Unglück jedoch hatte ihr Gegner zu einem weiteren Schritt ausgeholt, sodass sie ins Leere trat, bei seinem nächsten Schritt aber ihr Bein zwischen seine Oberschenkel geriet.
Er hatte noch immer nicht die Kontrolle über sie zurückerlangt, als Inez vor Schmerz aufschrie, da er unvermindert weiterlief und ihr den Unterschenkel brach, was von einem hässlichen, lauten Knacken begleitet wurde. Sie schrie noch immer, als er durch das Hindernis zwischen seinen Beinen den Halt verlor und zur Seite kippte. Er fiel hin, und ein Teil von Inez’ Verstand ließ sie hoffen, dass sie sich mit ihrer Befreiungsaktion nicht selbst umbringen würde, wenn sie unter ihm begraben wurde. Ihr Kopf schlug auf dem Asphalt auf, dann sah sie nur noch Sterne, während der Unsterbliche sie mit einem Arm weiter an sich gedrückt hielt und vermutlich eine Treppe hinunterrollte.
„Inez!” Rachels Stimme nahm sie nur noch aus weiter Ferne wahr, da eine gnädige Ohnmacht ihr den Schmerz nahm.
„Was glaubst du, was ihn abgeschreckt haben könnte?”, fragte Etienne nachdenklich, als er, Bastien und Thomas die Treppe nach unten gingen, die vom Flachdach zurück auf die Straße führte.
„Ich bin mir nicht sicher”, erwiderte Bastien erschöpft. „Vielleicht ist es Inez nicht gelungen, alle Gedanken zu verbergen, die auf unsere Falle hindeuteten.”
„Gib Inez nicht die Schuld”, knurrte Thomas, als sie in eine Gasse einbogen, um zum Cafe zu gelangen. „Sie hat bestimmt alles getan, was sie konnte. Immerhin hat sie sich einverstanden erklärt, bei eurem dämlichen Plan mitzumachen.”
„Es war nicht als Kritik gemeint”, versicherte Bastien ihm in beschwichtigendem Ton. „Und wir wissen ihre Hilfe zu schätzen. Uns ist auch klar, wie schwer das für dich gewesen ist, Thomas, und das bedauere ich sehr. Wir hatten nur gehofft, den Mistkerl zu schnappen und Mutter zu finden.”
„Ich will sie ja auch finden, aber.... ” Thomas blieb stehen und schnaubte frustriert, weil er nicht die richtigen Worte fand, um das auszudrücken, was er fühlte. Er hatte um beide Frauen Angst, aber vielleicht hatten sie Marguerite bereits verloren, und er wollte nicht auch noch Inez opfern, nur um das herauszufinden. Verdammt, er wollte sie überhaupt nicht verlieren! Wenn er vor die Wahl gestellt würde, welche von beiden Frauen er retten wollte, wäre Thomas wohl lieber selbst gestorben.
„Aber Marguerite ist deine Tante, und Inez ist deine Lebensgefährtin, und es ist dir lieber, wenn du keine von beiden verlierst”, sprach Etienne leise das aus, was Thomas nicht auszudrücken vermochte.
„Marguerite ist auch meine Mutter”, betonte Thomas. „Sie ist die einzige Mutter, die ich je hatte.”
„Ja, als Kind hast du Mutter zu ihr gesagt”, warf Bastien ein.
„Stimmt, aber dem hat Jean Claude schnell ein Ende gesetzt”, murmelte er und schüttelte den Kopf. „Kommt jetzt, die Frauen warten schon auf uns.”
Bastien und Etienne zögerten kurz, dann folgten sie ihm zum Cafe. Den Weg dorthin legten sie schweigend zurück. Sie verließen einen halben Block vom Lokallentfernt die Gasse und sahen gerade noch, wie Terri aus dem Cafe gelaufen kam und sich aufgeregt umschaute.
„Da stimmt was nicht”, knurrte Bastien und rannte los. Im nächsten Moment stürmte Thomas an seinem Cousin vorbei, da er Inez nirgends entdecken konnte.
„Wo ist sie?”, fragte er Terri und packte sie dabei grob an den Schultern.
„Ich weiß es nicht”, rief sie ängstlich. „Wir sind alle nach unten gegangen, um noch mal Kaffee zu bestellen. Als ich von der Toilette zurückkam, waren Rachel und Inez verschwunden.”
„Rachel ist auch weg?”, warf Etienne besorgt ein.
„Wohin sind sie gegangen?”, wollte Thomas wissen und ignorierte seinen Cousin. „Irgendjemand muss etwas gesehen haben. Hast du den Kerl hinter der Theke gelesen? Er hatte gestern schon ein Auge auf Inez geworfen. Er müsste sich gemerkt haben, wohin sie gegangen ist.”
„Ich hab’s versucht, aber ich.... ” Terri schüttelte hilflos den Kopf.
„Schon gut”, beruhigte Bastien sie, als er bei ihr war. Er legte den Arm um sie, drückte sie an sich und sagte zu Thomas: „Sie hat ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen. Terri kann Sterbliche noch nicht gut lesen. Ich erledige das jetzt”, ergänzte er, ließ seine Verlobte los und ging ins Cafe. Thomas suchte frustriert die Straße in beiden Richtungen ab, konnte aber keine Spur von Inez oder Rachel entdecken.
„Vielleicht sollten wir uns aufteilen”, schlug Etienne nervös vor. „Du suchst in der einen Richtung, ich in der anderen.”
Frostig gab Thomas zurück: „Wenn deine Lebensgefährtin ebenfalls betroffen ist, sieht der Plan gar nicht mehr so gut aus, wie?”
Etienne kniff kurz die Augen zusammen, dann sagte er: „Tut mir leid, Thomas. Ich habe es nicht anders verdient. Wir waren uns sicher, an alles gedacht zu haben.”
„Du kannst noch so sehr glauben, dass du an alles gedacht hast, aber solange es einen Gegenspieler gibt, der einem einen Strich durch die Rechnung machen kann, ist es gar nicht möglich, an alles zu denken”, hielt er dagegen.
„Da entlang!”, brüllte Bastien in dem Moment, als er aus dem Cafe gestürmt kam.
Thomas sah zu seinem Cousin, und dann rannte er auch schon in die angezeigte Richtung. Die anderen folgten ihm dicht auf den Fersen.