10

„Das hier ist die Stelle.” Inez ließ den Blick über das halbe Dutzend Restaurants wandern, die sich an der Straße aneinanderreihten. Bei allen standen Tische und Stühle auf dem Fußweg davor, und die Gäste genossen ihr spätes Frühstück in der Sonne oder unter einem der großen Schirme.

Sie musterte das Meer aus Gesichtern, dann sah sie hinauf zum strahlend blauen Himmel, und schließlich wandte sie sich zu Thomas um und machte eine besorgte Miene. Im Hotel hatte er noch in aller Eile sechs Beutel Blut hinuntergekippt, und jetzt trug er ein langärmeliges Hemd, das er bis zum Kragen zugeknöpft hatte, dazu Hut und Sonnenbrille aus dem Hotelshop, um seinen Körper so gut wie möglich vor den schädlichen Strahlen der Sonne zu schützen. Dennoch wusste sie, das würde nicht genügen. Eigentlich sollte er gar nicht draußen unterwegs sein, doch auf ihren Vorschlag, sie könne auch allein an den Koordinaten suchen, hatte er nicht eingehen wollen.

Seine beharrliche Weigerung, es wenigstens in Erwägung zu ziehen, verärgerte sie einerseits. Andererseits war sie insgeheim aber auch heilfroh, weil sie fürchtete, es könnte wieder jemand versuchen, ihren Verstand zu kontrollieren. „Ich kann sie nirgends sehen”, stellte Thomas mürrisch fest, während Inez sich noch einmal einen Gast nach dem anderen ansah, diesmal noch gründlicher.

„Ich auch nicht”, sagte sie schließlich, nachdem sie Marguerite Argeneau nicht hatte ausfindig machen können. „Aber wenn sie gegen ihren Willen festgehalten wird, ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass diejenigen sich mit ihr in der Öffentlichkeit zeigen.”

„Richtig”, stimmte Thomas ihr zu. „Aber derjenige, der ihr Handy an sich genommen hat, sollte sich auch nicht hier herumtreiben.”

Inez sah ihn fragend an. „Wieso nicht?”

„Weil er ebenfalls ein Unsterblicher sein muss”, machte er ihr klar. „Und die wenigsten Unsterblichen setzen sich in die pralle Sonne.” Sie wollte zu der Frage ansetzen, warum es ein Unsterblicher sein müsse, doch dann wurde ihr klar, dass ein Sterblicher niemals in der Lage sein konnte, einen Unsterblichen in seine Gewalt zu bringen, wenn der das nicht wollte. Das bedeutete, Marguerite war entweder tot, schwer verletzt oder aber zu schwach, um sich gegen einen Sterblichen zur Wehr zu setzen oder sie wurde von einem Unsterblichen festgehalten, der einen Sterblichen für sich arbeiten ließ, der auch das Handy an sich genommen hatte und jetzt hier saß und in aller Seelenruhe frühstückte. Sie hoffte, dass Letzteres der Fall sein würde.

„Jeder von diesen Leuten könnte das Telefon bei sich führen.... sofern sich das überhaupt noch hier befindet”, wandte sie ein, als Thomas’ Handy zu klingeln begann. Er nahm es aus der Tasche, klappte es auf, lauschte und brummte ein „Okay”, ehe er es wieder wegsteckte.

„Das war Herb. Die Koordinaten sind immer noch die gleichen”, sagte er.

Inez schwieg und schaute sich wieder um, ohne zu wissen, auf wen sie eigentlich achten sollte. „Du wirst die Nummer wählen müssen, damit wir sehen können, wer nach seinem Telefon greift.”

„Das kann ich nicht machen”, widersprach er sofort. „Der Kerl hat damit gedroht, Tante Marguerite umzubringen, wenn wir noch mal anrufen.”

„Er kann sie nicht töten, wenn sie nicht bei ihm ist”, wandte sie ein. „Und wenn du siehst, wer von den Leuten nach dem Telefon greift, dann kannst du seine Gedanken lesen und herausfinden, wo deine Tante ist.”

„Nicht, wenn es sich um einen Unsterblichen handelt”, machte Thomas ihr klar. „Ist er älter als ich, kann ich ihn auch nicht lesen.”

„Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Unsterblicher sich bei Sonnenschein in ein Straßencafe setzt.”

„Es ist zwar nicht wahrscheinlich, aber es ist auch nicht unmöglich. Ich bin schließlich auch hier”, meinte er.

„Ja, aber.... ach, schon gut”, unterbrach sie sich. „Wir werden ihn anrufen, und wenn er sterblich ist, dann liest du ihn, und wir erfahren, wo Marguerite ist. Ist er unsterblich, und du kannst ihn nicht lesen, dann bleiben wir auf Abstand und folgen ihm, damit er uns zu ihrem Aufenthaltsort führt.”

„Und wenn er nicht auf der Terrasse sitzt, sondern in einem der Restaurants?”, fragte Thomas skeptisch.

Inez zögerte kurz, dann meinte sie seufzend: „Das Risiko werden wir eingehen müssen.” Thomas warf ihr daraufhin einen gereizten Blick zu. „Wenn es dir lieber ist, kann ich ja anrufen. Meine Nummer ist auf ihrem Telefon nicht registriert, also wird er nicht wissen, ob es einer ihrer Angehörigen ist oder nicht. Das wird er dann eigentlich nicht an ihr auslassen können”, gab sie zu bedenken und fügte noch hinzu: „Ansonsten können wir mir den ganzen Tag über den Koordinaten folgen und darauf hoffen, dass er irgendwann einmal allein unterwegs ist, damit wir ihn identifizieren können. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass uns das in einer überlaufenen Stadt wie Amsterdam gelingen wird.”

Er atmete frustriert aus und nickte ernst. „Ruf ihn an. Vielleicht haben wir Glück, und er glaubt, jemand habe sich verwählt.”

Inez tippte die Nummer ein, die er herunterrasselte, hielt dann aber kurz inne und sagte: „Was hältst du davon, wenn wir jeder eine Hälfte der Tische übernehmen. Jeder stellt sich in die Mitte seiner Hälfte, dann ist die Chance höher, dass wir das Klingeln hören.”

Thomas stimmte ihr zu und wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal um, gab ihr einen kurzen, intensiven Kuss und raunte ihr zu: „Pass auf dich auf.” Sie reagierte mit einem schwachen Lächeln und sah ihm nach, wie er davon schlenderte. Sie ging ein Stück weit in die andere Richtung und blickte auf ihr Telefon. Die Leute redeten und aßen, aber im Moment war nirgendwo ein Klingelton zu hören.

Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, wählte sie die Nummer und wartete. Einige Sekunden verstrichen, dann ertönte eine jazzige Melodie. Mit wachsamem Blick beobachtete sie die Gäste und sah, wie ein junger Mann ganz in ihrer Nähe ein Mobiltelefon aus der Tasche zog. Er musterte das Display, fluchte und meinte dann: „Ständig klingelt dieses verdammte Ding!”

„Warum schmeißt du’s dann nicht weg oder setzt eine andere Karte ein oder so?”, wollte einer seiner Freunde wissen. Der Typ mit dem Gerät in der Hand zuckte mit den Schultern. „Weil ich kostenlos telefonieren kann, bis jemand auf die Idee kommt, die Nummer sperren zu lassen, klar?” Inez klappte ihr Telefon zu, und sofort verstummte das Klingeln. Mit ernster Miene sah sie zu, wie er das Telefon wieder einsteckte.

„Er ist sterblich”, flüsterte Thomas ihr zu, als er an ihre Seite zurückgekehrt war.

Inez nickte, schwieg jedoch, da sie bemerkt hatte, wie er sich auf den Mann konzentrierte. Sie wusste, er las ihn, also wartete sie geduldig ab. Thomas verzog den Mund, folglich konnte ihm nicht gefallen, was er im Verstand des Sterblichen entdeckte. Für Marguerite schien das nichts Gutes zu bedeuten. Sie schaute zu dem Tisch und stutzte, als der junge Mann mit dem Telefon plötzlich aufstand, kurz mit seinen Freunden redete und dann auf Inez und Thomas zuging. Beunruhigt nahm sie sein völlig ausdrucksloses Gesicht wahr, was wohl bedeutete, dass Thomas ihn kontrollierte.

„Thomas”, zischte sie ihm zu, da sie fürchtete, er könnte dem Mann irgendetwas antun. Aber der lief einfach an ihnen vorbei und steuerte auf irgendein anderes Ziel zu.

„Such dir bitte einen Tisch und bestell für uns beide Frühstück”, sagte Thomas. „Ich bin gleich wieder da.”

„Aber.... ” Sorgenvoll schaute sie ihm nach, wie er um dieselbe Ecke verschwand wie kurz vor ihm der junge Mann. Schließlich stieß sie einen Seufzer aus und hielt Ausschau nach einem freien Tisch. Sie entdeckte zwei, einen davon fast genau vor ihr, den anderen ein Stück entfernt, dafür aber im Schatten gelegen. Dort setzte sie sich so hin, dass sie die Ecke im Auge behalten konnte, was ihr auch gelang, bis eine Bedienung zu ihr kam und ihr die Speisekarte hinhielt.

Sie nahm sie an, überflog sie und bestellte dann zweimal Frühstück und zwei Cappuccino. Wieder konzentrierte sie sich auf die Ecke und hatte das Gefühl, dass Thomas sich sehr viel Zeit ließ, doch das kam ihr womöglich nur so vor, weil sie in Sorge um ihn war. Als er dann endlich wieder auftauchte, war er allein und wirkte genauso unglücklich wie zuvor. Sie sah, dass er telefonierte vermutlich mit Bastien.

Als er den Tisch erreichte, hatte er soeben das Gespräch beendet und steckte sein Telefon weg.

„Was ist passiert?”, fragte sie ungeduldig, als er Platz nahm.

„Ich habe das Handy wieder”, sagte er und legte es auf den Tisch.

Inez starrte es ratlos an. „Und was ist mit deiner Tante?”

„Gute Frage”, gab er zurück und erklärte: „Der Sterbliche und ein Freund haben Tante Marguerite vor ein paar Tagen vor dem Dorchester beraubt. Offenbar befanden sich zwei Mobiltelefone in ihrer Tasche, außerdem eine beträchtliche Summe Bargeld sowie einige Kreditkarten, Telefone und Geld haben sie unter sich aufgeteilt.”

„Und die Kreditkarten?”

Er verzog mürrisch den Mund. „Die beiden sind nur kleine Fische. Die wussten gar nicht, was sie mit den Kreditkarten anfangen sollten. Sie haben versucht, ihre Freundinnen loszuschicken, damit die damit einkaufen, aber es waren kanadische Karten, und weil die Frauen einen britischen Akzent haben, fürchteten sie, sie könnten sofort auffallen. Als sie sich weigerten mitzumachen, haben sie die Karten weggeworfen. Allerdings hatte Tante Marguerite gut dreitausend Pfund in der Handtasche”, fuhr er aufgebracht fort. „Immer wieder warne ich sie, sie soll nicht so viel Geld mit sich herumtragen, aber sie lacht nur und erwidert, wer sie denn wohl überfallen solle? Tja, jetzt weiß sie es.”

„Und wie haben die das angestellt?”, wunderte sich Inez. „Deine Leute sind doch schneller und stärker.”

Thomas rutschte unbehaglich hin und her. „Wir sind zwar stärker und schneller, aber ein Motorrad können wir auch nicht einholen. Die beiden haben die Methode perfektioniert, durch die Straßen zu fahren und nach Frauen Ausschau zu halten, die nach Geld aussehen und abgelenkt wirken. Dann fährt der eine mit dem Motorrad auf den Gehweg, während der andere sich die Handtasche schnappt, und danach rasen beide davon.”

Inez sah ihn ungläubig an.

„Ich habe von ihm erfahren, dass eine Touristin verletzt wurde”, fuhr er fort. „Entweder hatte sie sich im Schulterriemen verheddert, oder sie wollte einfach nicht loslassen. Auf jeden Fallschleiften sie sie einen Häuserblock weit mit, und sie wurde dabei schwer verletzt. Wenn in London ein Tourist verletzt wird, ist das immer eine schlechte Sache, weil der Tourismus der Stadt so viel Geld einbringt. Die Polizei sucht derzeit nach ihnen, und da ist ihnen Tante Marguerites Geld gerade recht gekommen, um für eine Weile nach Amsterdam auszuweichen, damit sie stattdessen hier Touristen ausrauben können.”

„Dann war diese Reise.... “, begann sie entmutigt.

„Vertane Zeit”, ergänzte er bestätigend. „Wir sind völlig vergebens nach Amsterdam gekommen und einem Handy nachgelaufen, das man Tante Marguerite schon vor Tagen in London geraubt hat.”

Inez schüttelte fassungslos den Kopf, lehnte sich dann aber zurück, als die Serviererin kam und ihnen die Bestellung brachte. Sie bedankte sich bei der Frau und musterte ihren Teller. Das Frühstück sah köstlich aus, und es duftete auch so, und trotz allem, was sie soeben hatte erfahren müssen, fühlte sie sich völlig ausgehungert. Seit dem Abflug aus London hatte sie nichts mehr gegessen, und auch wenn das noch gar nicht so lange her war, erschien es ihr wie eine Ewigkeit. Viel war seitdem geschehen, und sie hatte eine Menge Energie verbraucht.

Plötzlich legte Thomas seine Hand auf ihre, woraufhin Inez ihn überrascht ansah. „Iss ruhig”, sagte er und drückte ihre Hand. „Bastien bucht im Moment unseren Rückflug nach London.”

Inez nickte und griff nach der Gabel, und als er das Gleiche tat, entspannte sie sich ein wenig. Wenn ein Unsterblicher wieder zu essen begann, war das ein Zeichen dafür, dass er seine Lebensgefährtin gefunden hatte. Das wusste sie vom Boten der Blutbank. Thomas aß nicht nur jetzt das Frühstück, er hatte auch einen Tag zuvor am Flughafen etwas gegessen. Nur bei seiner Ankunft im Dorchester war das von ihm bestellte Frühstück allein für sie bestimmt gewesen aber das war ja auch als eine Art Entschuldigung gedacht, hielt sie sich vor Augen und staunte, als ihr bewusst wurde, dass dieses Abenteuer erst vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden seinen Lauf genommen hatte. Dabei kam es ihr vor, als sei in der Zeit ein ganzes Leben verstrichen. Nein, korrigierte sie sich. Dieser eine Tag und ein paar Stunden dazu waren eigentlich schnell verstrichen, aber sie hatte das Gefühl, als würde sie Thomas schon ein Leben lang kennen.

„Ich darf wohl annehmen, dass du Katzen magst.”

Thomas sah von der schwarzen und den beiden getigerten Katzen hoch, die er abwechselnd streichelte. „Ich liebe Katzen”, antwortete er lächelnd.

Inez nickte amüsiert. „Und sie scheinen dich auch zu lieben. In jedem Raum schließt sich uns eine weitere Katze an.”

„Bist du etwa eifersüchtig?”, fragte er belustigt.

Sie musste leise lachen, während er sich aufrichtete und die drei Katzen sich sofort an seinen Beinen rieben und so kläglich miauten, als habe er sie im Stich gelassen. „Warum soll ich auf die Katzen eifersüchtig sein? Ich kenne dich schließlich erst seit gestern.” Dann drehte sie sich um und verließ den Raum, woraufhin er vorsichtig über die protestierenden Katzen stieg und ihr folgte. Gleich nebenan war sie stehen geblieben und bewunderte ein Deckengemälde. Thomas sah nicht nach oben, da er das Kattenkabinet bereits kannte, das seiner Ansicht nach ein sehr charmanter Ort war. Nachdem er von Bastien erfahren hatte, dass sie mit einer Abendmaschine nach London zurückkehren würden, war er zu dem Entschluss gekommen, Inez durch eine seiner Lieblingsstädte zu führen und ihr ein paar Sehenswürdigkeiten zu zeigen.

Es wäre ihm natürlich lieber gewesen, das am Abend und in der Nacht zu machen, da es nicht gut für ihn war, wenn er sich zu lange in der Sonne aufhielt. Aber Bastien hatte genug Blut ins Hotel liefern lassen, es hätte unter normalen Umständen für mehrere Tage gereicht. Thomas vermutete allerdings, dass er den größten Teil noch heute verbrauchen würde, und zur Vorsicht hatte er mehrere Beutel in eine kleinere schwarze Kühltasche gepackt, damit er einen ausreichenden Vorrat bei sich trug, bis sie ins Hotel zurückkehrten, um ihre Sachen zu holen und zum Flughafen zu fahren. Nach dem Frühstück waren sie noch einmal kurz zum Hotel gegangen und hatten unterwegs in einem Geschäft für Koffer und Taschen einen Zwischenstopp eingelegt, da Inez eingefallen war, dass sie gar nicht wusste, wie sie all die Kleidung verstauen sollte, die Bastien für sie ins Hotel hatte liefern lassen.

In dem Geschäft war Thomas dann auf die schwarze, zusammenfaltbare Kühltasche aufmerksam geworden, die er ebenso wie den großen Koffer für Inez kaufte. Während sie im Hotel ihre Sachen packte, trank er noch einige Beutel Blut, dann verstaute er den Rest in der kleinen Kühltasche, die er über der Schulter tragen konnte.

Er hatte auch überlegt, mit Inez das Rijksmuseum zu besuchen, doch da konnte man mühelos einen ganzen Tag verbringen, und er wollte ihr lieber etwas von der Stadt zeigen als nur ein einziges Museum. Also waren sie in aller Ruhe durch schattige Gassen zum Kattenkabinet geschlendert, während sie sich an dem erfreuten, was diese einzigartige Stadt zu bieten hatte. Inez hatte voller Erstaunen all die alten Häuser aus dem siebzehnten Jahrhundert betrachtet, und ihm selbst war es fast genauso ergangen, war er doch noch nie zuvor tagsüber in Amsterdam unterwegs gewesen.

„Du hast mich nicht gefragt, warum ich Katzen liebe”, sagte er nach einer Weile, als sie auf seine Gegenwart nicht reagierte und stattdessen zum Fenster ging, um sich den Garten hinter dem Haus anzuschauen, der sich so wie auch alles andere in dem Gebäude um das Thema Katzen drehte.

„Und warum liebst du Katzen?”, fragte sie ihn wunschgemäß.

„Weil sie intelligent sind, ihren eigenen Kopf haben, elegant und gewitzt sind und außerdem rätselhaft.... ” Er legte den Kopf ein wenig schräg und ergänzte: „Ganz so wie du.”

„Ich?”, gab sie zurück und schüttelte verdutzt den Kopf. „Ich bin ganz sicher nicht rätselhaft.”

„Für mich schon”, beharrte er. „Und das gefällt mir.”

Sie sah ihm in die Augen, dann wanderte ihr Blick zur Fensterbank, da eine der Katzen hinaufgesprungen war, um sich in die Sonne zu legen. Inez streckte die Hand aus und streichelte das Tier. „Naja, und gewitzt bin ich auch nicht.”

„Das bist du sehr wohl”, versicherte er.

„Ich würde aber nicht sagen, dass ich mich gewitzt verhalten habe, als ich dir bei meiner Ankunft im Dorchester die Meinung gesagt habe.”

„Nicht?” Er grinste sie an. „Das hast du auf Portugiesisch gemacht, und ich habe kein Wort davon verstanden. Woher sollte ich wissen, ob du mir nicht erzählst, dass du noch nie einen Mann getroffen hast, der so sexy ist wie ich.”

„Davon träumst du”, konterte sie amüsiert.

„Ja, das tue ich.” Auf ihren überraschten Blick hin ergänzte er: „Du bist intelligent, prahlst aber nicht damit, du hast Vertrauen in deine beruflichen Fähigkeiten, du besitzt ein exzellentes Urteilsvermögen, und du bist schön und hast Sex-Appeal.”

Seine Worte lösten bei ihr ein wohliges Gefühl aus, doch bei den letzten beiden Bemerkungen presste sie auf einmal die Lippen zusammen und widersprach ihm: „Ich bin keine Schönheit, und der Begriff Sex-Appeal gehört nicht mal zu meinem Vokabular.”

„Aber es trifft beides zu”, beteuerte er ernst. „Auch wenn du es nur verhalten zur Schau trägst. Nicht so wie andere Frauen, die damit prahlen. Zum Beispiel hast du wunderschöne, wilde Haare.”

Sie verzog ablehnend den Mund. „Meine Haare sind wild, da hast du recht. Aber so wild, dass sie zu nichts zu gebrauchen sind.”

„Deine Haare sind seidig und sexy, und sie lassen dich aussehen, als wärst du eben aus dem Bett gestiegen, nachdem du stundenlang geliebt worden bist.... und sie wecken bei einem Mann den Wunsch, dich stundenlang zu lieben.” Inez verharrte mitten in ihrer Bewegung und streichelte auch die Katze nicht weiter. „Deine Lippen sind voll und zart, und sie wirken so, als wärst du eben erst leidenschaftlich geküsst worden”, fuhr er fort und strich mit den Fingern leicht über den Ärmel ihrer Bluse, die sie angezogen hatte, nachdem sie zum Packen ins Hotel zurückgekehrt waren. „Und du bevorzugst Seidenblusen, die du höher zugeknöpft trägst als die meisten Frauen, damit dein Dekolleté so weit bedeckt ist, dass man nur einen Ansatz erkennen kann und sich wünscht, mehr sehen zu dürfen.” Thomas ließ seine Hand sinken und berührte leicht ihren Po. „Und dazu diese gut geschnittenen Hosen aus einem Stoff, der sich so über deinen Po legt, dass sich ein Mann wünscht, den Schwung deiner Kurven unter dem Stoff mit seinen Händen zu ertasten.”

Sie sah ihn verwundert an und flüsterte: „Oh Mann, was kannst du gut den Verführer spielen. Da möchte sich eine Frau ja fast in einen Typen wie dich verlieben.”

Er legte die Hände um ihr Gesicht. „Jedes Wort ist wahr, Inez. So sehe ich dich, und ich werde dich dazu bringen, dass du dich selbst auch so siehst. Das verspreche ich dir.”

Als er den Schimmer von Tränen in ihren Augen bemerkte, beugte er sich vor und küsste sie auf die eine, dann auf die andere Braue. Er wollte ihr einen Kuss auf den Mund geben, doch da stand die getigerte Katze auf der Fensterbank plötzlich auf und wollte mitmischen. Sie stellte sich auf die Hinterpfoten, stützte sich mit einer Vorderpfote auf seinem Arm ab und scheuerte ihren Kopf an seinem Kinn, als wollte sie sagen: Hey Kumpel, und was ist mit mir? Thomas und Inez mussten beide lachen, und sie meinte ausgelassen: „Und mich hast du vorhin gefragt, ob ich eifersüchtig bin? Ich glaube, du solltest die Frage lieber dieser Katzendame stellen.”

Er grinste, nahm die Katze auf den Arm und kraulte sie am Kinn. Inez kommentierte das mit einem Kopfschütteln. „Es ist genau dieses Verhalten, das mich schon immer dazu gebracht hat, mich für Hunde zu begeistern.”

Überrascht sah Thomas sie an und folgte ihr in den nächsten Raum. „Bist du tatsächlich für Hunde zu begeistern?”

„Natürlich”, antwortete sie. „Hunde sind treu, liebevoll, direkt, nett, hilfsbereit und verspielt. So was muss man doch einfach mögen.”

„Ich bin auch treu”, ließ er sie wissen und sah ihr nach, wie sie durch den Raum schlenderte. „Und liebevoll ebenfalls.”

„Du bist auch direkt und nett”, stimmte sie ihm zu. „Und sogar hilfsbereit und verspielt.” Sie ging weiter zur Tür und fügte hinzu: „Du bist ganz eindeutig ein Hund.” Grinsend setzte er die Katze ab und ging hinter Inez her. „Laufen Sie mir etwa nach, Mister?”, zog sie ihn auf, als er nach ihr den nächsten Raum betrat.

„Natürlich”, gab er zurück. „Das machen Hunde doch schließlich, oder etwa nicht?” Er griff nach ihrer Hand, zog sie an sich und dirigierte sie in Richtung Ausgang. „Komm, lass uns irgendwo was essen gehen. Ich habe schon wieder Hunger.”

„Aber wir haben zwei Räume noch gar nicht gesehen”, protestierte sie.

„Wir kommen ein andermal wieder her”, versprach er ihr und schob sie sanft zur Treppe, die zurück ins Erdgeschoss führte.

„Ehrlich?”

„Ganz sicher”, beteuerte er und drückte sie kurz an sich. Ein Stück weiter stießen sie auf ein Straßencafe und fanden einen freien Tisch im Schatten. Thomas warf einen Blick auf die Speisekarte, wartete, bis die Kellnerin die Bestellung aufgenommen hatte, dann begab er sich zur Herrentoilette, wo er ungestört ein paar Blutkonserven trank. Inez lächelte ihm schwach zu, als er an den Tisch zurückkehrte. Als er eine fragende Miene machte, deutete sie mit einer unbestimmten Geste auf die Passanten. „Es ist hier so interessant, die Leute zu beobachten.”

Thomas schaute zu den Fußgängern und den Radfahrern. „Zum Beispiel da drüben”, sagte sie und zeigte auf eine ganze Familie, die per Rad unterwegs war. „Oder dort.” Er folgte ihrem Blick und entdeckte ein Pärchen. Sie war etwa Anfang zwanzig und trat in die Pedale ihres Fahrrads, wobei sie sich den Hals verrenkte, damit sie um einen ungefähr gleichaltrigen Mann herumschauen konnte, der auf dem Lenker saß.

„Eindeutig ein modernes Paar”, entschied sie. „Und da! Freundinnen beim Großeinkauf!” Wieder drehte sich Thomas um, und er sah drei Frauen auf Fahrrädern, die die Lenker mit vollen Tragetaschen behängt hatten. Als er abermals Inez anschaute, erklärte sie begeistert: „Ich glaube, ich liebe diese Stadt.” Und ich glaube, ich liebe dich. Der Gedanke ging ihm plötzlich durch den Kopf und erschreckte ihn, weil es die Wahrheit war.

Nie zuvor war er einer Frau wie Inez begegnet, und auch wenn er sie erst kurze Zeit kannte, konnte er doch von sich behaupten, dank der Umstände viel über sie zu wissen. Diese Frau war furchtlos. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und wusste sich zu behaupten, was sie eindrucksvoll im Dorchester bewiesen hatte, als sie ihn beschimpfte. Und sie hatte ihm das Messer aus dem Rücken gezogen, seine Wunde verarztet und sich dann mitten in der Nacht auf den Weg gemacht, um in einer völlig fremden Stadt nach seiner Tante zu suchen. Solchen Mut musste er einfach bewundern. Inez war auch intelligent. Das erkannte er am Leuchten in ihren Augen, und er merkte es jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachte, um eine Beobachtung oder Feststellung zu äußern. Und auch wenn sie oft sachlich und bestimmend daherkam, besaß sie Sinn für Humor und einen rasiermesserscharfen Verstand.

Thomas wusste, er konnte sich auf sie verlassen, wenn sich eine schwierige Situation ergab. So erschöpft sie am Abend zuvor auch gewesen war, hatte sie ihn dennoch ohne Murren ins Rotlichtviertel begleitet, um ihm bei der Suche zu helfen. Sie tat einfach, was getan werden musste. Ja, sie war schon eine ganz besondere Frau, und es war ein kluger Zug des Schicksals gewesen, sie zu ihm zu führen. Jetzt musste er nur noch sie davon überzeugen.

„Ich habe überlegt, wenn.... ” Er sah sie an, doch im gleichen Moment verstummte sie, und er bemerkte, dass die Kellnerin ihnen ihre Bestellung brachte. Nachdem sie wieder gegangen war, beugte er sich zu Inez vor und fragte: „Was hast du überlegt?”

„Naja, du hast gesagt, Bastien habe Marguerites Kreditkarten überprüft. Hat er auch Erkundigungen eingeholt, ob dieser Tiny seine Kreditkarten benutzt hat?”

„Ja”, erwiderte Thomas, während sich seine Stimmung verdüsterte, weil er an seine verschwundene Tante erinnert wurde. „Seine Karten sind ebenfalls nicht benutzt worden.”

Inez nickte. „Und der Kerl, für den sie arbeitet?”

„Was?” Er schaute sie verständnislos an.

„Einer von euch beiden, Bastien oder du, hat mir erzählt, dass sich Marguerite im Dorchester Hotel mit diesem Notte treffen sollte, der sie angeheuert hat, damit sie nach seiner Mutter sucht.”

„Ja”, bestätigte er. „Sie hat mit Bastien darüber gesprochen, dass sie hoffe, mehr Informationen von dem Mann zu erhalten, die ihr vielleicht bei ihrer Suche helfen würden.”

„Mhm”, machte sie. „Da Marguerites Kreditkarten gestohlen wurden, kann sie sowieso nicht mehr damit bezahlen, aber vielleicht benutzt Tiny seine Kreditkarten nicht, weil sie mit diesem Notte gemeinsam unterwegs sind und er für alle Kosten aufkommt.”

„Jesus”, zischte Thomas und starrte sie an. Es war ein so simpler Gedanke, aber weder Bastien noch er waren auf diese Idee gekommen, und offenbar auch niemand sonst aus der ganzen Familie.

„Stimmt was nicht?”, fragte sie. „Du siehst mich so eigenartig an.”

„Ich sehe dich so an, weil ich glaube, dass du ein Genie bist”, erklärte er lachend. „Ich kann es nicht fassen, dass du auf eine solche Idee kommst. Nein, genau genommen kann ich es sehr wohl fassen. Ich kann nur nicht glauben, dass niemand aus meiner Familie diesen Geistesblitz hatte. Und das, wo wir doch eigentlich Nano-Gehirne haben sollten.”

Grinsend gab Inez zurück: „Wäre ein Nano-Gehirn nicht unglaublich winzig?”

„Stimmt”, pflichtete er ihr bei. „Und so wie es aussieht, trifft das ja auch zu.”

Während er nach seinem Handy griff, schüttelte sie den Kopf. „Das ist nicht wahr, und das weißt du. Ihr seid bloß alle viel zu sehr mit der Sache beschäftigt, um sie mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Früher oder später wäre dir das auch noch eingefallen.”

„Zum Glück werden wir nie erfahren, ob du recht hast, weil du mir zuvorgekommen bist”, meinte er und wählte Bastiens Nummer.

Sie begann zu essen, unterdessen telefonierte er mit seinem Cousin und erzählte ihm von Inez’ Idee. Dabei verfolgte er aufmerksam jede ihrer Bewegungen, während sie aß, und einmal mehr erstaunte es ihn, wie exquisit und sexy es war, das zu beobachten. So vornehm wie eine Katze, dachte er amüsiert, konzentrierte sich dann aber auf sein Telefonat. Bastien war völlig begeistert über diesen Vorschlag, zugleich hätte er sich ohrfeigen können, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war. Thomas redete ihm gut zu und wiederholte, was Inez gesagt hatte: dass sie die Situation nicht mit genügend Distanz betrachten konnten.

„Kann er Nottes Kreditkartenbewegungen feststellen lassen?”, fragte sie, als er sein Telefon einsteckte.

Thomas nickte. „Wir haben überall Freunde. Und wenn nicht, dann schicken wir eben jemanden hin, der für uns eine neue Freundschaft schließt.”

„Du meinst, der jemanden für euch kontrolliert”, gab sie ironisch zurück. Wieder nickte er, aber gleichzeitig wurden sie beide ernst. Er musste daran denken, dass jemand Inez’ Verstand kontrolliert und ihre Erinnerung gelöscht hatte, und er wusste, ihre Gedanken kreisten ebenfalls um diesen Zwischenfall.

„Wenn Marguerite gar nicht hier in Amsterdam ist, warum macht sich dann jemand die Mühe, meine Erinnerung zu löschen?”, wunderte sie sich plötzlich, und noch während Thomas grübelte und nach einer Erklärung suchte, fuhr sie fort: „Schließlich hat Marguerite sich nicht in diesem Park aufgehalten, sondern der Typ, der ihr Telefon geklaut hatte. Er kann mich aber nicht kontrolliert haben.”

„Richtig”, stimmte Thomas ihr zu. „Er war kein Unsterblicher.”

„Aber wer hat es gemacht? Und warum?”, wollte sie wissen. „Ich hätte doch nur herausfinden können, dass nicht Marguerite, sondern dieser Dieb das Telefon bei sich trägt.”

„Eben”, betonte er. „Dabei war das Ganze nur ein dummer Zufall. Der Typ nimmt Marguerite das Telefon ab, und wir folgen dem Signal hierher, ohne zu wissen, auf wessen Fährte wir in Wahrheit sind.” Dann jedoch stutzte er. „Aber wenn deine Erinnerung gelöscht worden ist, damit du nicht dahinterkommst, in wessen Besitz sich das Telefon tatsächlich befindet.... ”

„.... dann will dieser Jemand vermutlich doch, dass wir deine Tante nicht aufspüren”, führte sie seinen Satz leise zu Ende.