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Ungeduldig klopfte Thomas mit den Fingern gegen seinen Oberschenkel, während er auf die Straßenbahn wartete. Er hätte den Weg vom Hotel ins Stadtzentrum auch zu Fuß zurücklegen können, aber mit der Bahn kam er schneller ans Ziel. Schließlich wollte er keine Zeit verlieren, wenn es womöglich auf jede Minute ankam. Er hatte gehofft, wenn er das Hotel hinter sich ließ und Abstand zu Inez bekam, dann würde dieses Verlangen nachlassen, das durch seinen Körper raste. Aber das wollte nicht funktionieren.

Stattdessen musste er bei jedem Schritt mit sich ringen, nicht kehrtzumachen und zurück zu ihr in die Suite zu eilen. Das Einzige, was ihn tatsächlich davon abhielt, war die Sorge um seine Tante und das Wissen, dass die Suche nach ihr viel zu lange aufgeschoben werden müsste, wenn er sich jetzt doch zu Inez begab. Er würde sie an sich drücken, ihr jeden Fetzen Stoff vom Leib reißen, und dann konnte sie froh sein, wenn sie bis dahin ein Bett oder einen anderen weichen Untergrund erreicht hatten. Denn sobald sie beide nackt waren, würde ihn nichts mehr zurückhalten. Thomas wusste, er konnte sich nicht dagegen wehren. Seine Erektion war mörderisch, und sie würde so schnell auch nicht nachlassen. Niemals zuvor hatte er solches Verlangen verspürt.

Er war immer der Meinung gewesen, dass der Hunger brutal war, der ihn erfasste, wenn er zu lange kein Blut zu sich nahm, doch das war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was konzentriertes Sweet Ecstasy ihm antat. Es kam ihm vor, als würde er auf Messers Schneide balancieren, während die Begierde ihn wie gnadenlos pulsierende Wellen durchfuhr.

Sein Blick wanderte über die anderen Leute, die mit ihm auf die Bahn warteten. Er sah eine Frau nach der anderen an und bemerkte, wie sie ihm interessiert zulächelten, was er ohne jede Regung zur Kenntnis nahm. Er wusste, keine von ihnen konnte das durch Sweet Ecstasy ausgelöste Verlangen stillen, denn Inez war diejenige, die er haben wollte. Die süße Inez mit ihren vollen Lippen, mit ihrem wohlgeformten Körper und all der Leidenschaft, die in ihr schlummerte. Er wollte sie nackt unter sich spüren, ihre Arme und Beine um ihn geschlungen, ihre Begierde so intensiv wie seine.

Allerdings war nicht davon auszugehen, dass sie für ihn überhaupt etwas empfand, schon gar nicht etwas derart Unerträgliches, wie er es über sich ergehen lassen musste. Schließlich hatte sie kein Sweet Ecstasy getrunken. Eher war davon auszugehen, dass sie schreiend vor ihm davonlaufen würde, sofern sie noch die Gelegenheit dazu hatte, bevor er über sie herfiel.

Er schaute sich um und sah zu seiner Erleichterung, dass sich eine Bahn der Haltestelle näherte. Je größer der Abstand zwischen ihm und Inez wurde, umso besser für sie beide. Als die Bahn angehalten hatte, ließ er die anderen Leute erst einsteigen, dann zog er seine Fahrkarte aus der Tasche und folgte ihnen. Obwohl es schon recht spät war, herrschte in der Bahn großer Andrang. Die Touristen waren offenbar rund um die Uhr in der Stadt unterwegs, um sich an den angebotenen Vergnügungen so zu erfreuen wie ungezogene Kinder, die überrascht feststellen mussten, dass die Eltern übers Wochenende weggefahren waren und niemand sie beaufsichtigen würde.

Thomas steckte die Fahrkarte wieder ein und ging zu einer freien Bank etwa in der Mitte der Bahn, dann setzte er sich auf den Platz am Gang, um jeden abzuschrecken, der sich neben ihn setzen wollte. Derjenige würde schon sehr mutig sein müssen, da ihm keine andere Wahl blieb, als über Thomas hinwegzuklettern, wenn er den Fensterplatz einnehmen wollte. Nur um sicherzustellen, dass keine der Frauen, die ihn so forsch anlächelten, auf genau diese Idee kam, verschränkte er die Arme vor der Brust und warf einen warnenden Blick in alle Richtungen, ehe er sich umdrehte und aus dem Fenster sah.

Die Bahn fuhr nicht sofort los, obwohl alle Türen bereits geschlossen waren, und als Thomas nach vorn sah, beobachtete er, wie der Fahrer die Türen noch einmal öffnete. Allem Anschein nach hatte er auf jemanden gewartet, der von irgendwoher zur Haltestelle gelaufen kam. Thomas schaute weiter aus dem Fenster und rief sich den Stadtplan ins Gedächtnis, den er im Hotel gekauft hatte. Das Signal von Marguerites Mobiltelefon war zuletzt im Herzen des ältesten Amsterdamer Stadtviertels De Wallen geortet worden, den meisten Touristen besser bekannt als das Rotlichtviertel der Stadt.

Thomas hatte keine Erklärung dafür, aus welchem Grund sich Marguerite ausgerechnet dort aufhalten sollte. Seine Ratlosigkeit hatte nichts mit dem Image zu tun, das man mit dem Begriff Rotlichtviertel verband, zumal das auf De Wallen auch gar nicht zutraf. Tatsächlich handelte es sich um eine gepflegte Gegend, in der sich kleine, alte Häuser zu beiden Seiten der Grachten drängten, die immer wieder von Brücken überspannt wurden.

Bars und Nachtclubs wechselten sich mit Sexshops und LiveShows ab, und überall fand sich die berühmt-berüchtigte Fensterprostitution, bei der sich spärlich bekleidete Frauen in rot beleuchteten Schaufenstern präsentierten. Die meisten Besucher zeigten sich anschließend überrascht davon, wie sauber und einladend dieses Viertel in Wahrheit war. Trotzdem schien es einfach kein Ort zu sein, den Marguerite aufsuchen würde. Er vermutete, dass sie zum Zeitpunkt der letzten Ortung lediglich auf dem Weg zu einem anderen Ziel dort entlanggekommen war und sich inzwischen weit davon entfernt aufhielt. Und doch musste er hinfahren und sich umsehen.

Er stutzte und spürte besorgt, wie sich jemand durch den schmalen Freiraum zwischen seinen Knien und der Rückenlehne der Sitzbank vor ihm zwängte, um den Fensterplatz zu erreichen. Sein Blick erfasste eine schwarze Hose, unter deren Stoff sich der wohlgeformte Po von Inez Urso abzeichnete. Seine Hände bewegten sich wie aus eigenem Antrieb zu ihren Hüften, als wollten sie Inez nicht vorbeilassen, sondern sie auf seinen Schoß ziehen. Doch dann bekam er sich noch rechtzeitig unter Kontrolle und verschränkte wie zuvor die Arme vor der Brust, während sie sich weiter an ihm vorbeizwängte, bis sie endlich mit einem leisen Seufzer auf dem Sitz am Fenster Platz nehmen konnte.

„Oh Mann, was musste ich rennen, um die Bahn noch zu erwischen”, keuchte sie und lächelte ihn an. „Sie haben wohl eine Weile gewartet, bis die Bahn gekommen ist, sonst hätte ich Sie sicher nicht mehr eingeholt.”

Thomas konnte sie nur anstarren, während sein Gehirn allmählich zu erfassen begann, was sie ihm mit ihrer Verfolgung angetan hatte. „Inez”, knurrte er, „was machen Sie hier? Sie sollten ins Hotel zurückgehen.” Sie runzelte die Stirn, da er keinen Zweifel daran ließ, wie wenig er sich über ihre Anwesenheit freute, dann rutschte sie auf ihrem Platz hin und her.

Er zuckte zusammen und zog hastig seinen Arm weg, als sie ihn dabei berührte. Schließlich beugte er sich zur Seite, sodass er halb im Mittelgang hing, nur um zu verhindern, dass es zu einem weiteren Kontakt kam, da sie in ihre Tasche griff und nach etwas zu suchen begann. Einen Augenblick später holte sie einen zusammengefalteten Zettel hervor, den sie ihm wortlos hinhielt.

Er betrachtete den Zettel sekundenlang, erst dann nahm er ihn an sich, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass er nicht ihre Finger berührte. Allerdings gab es keine Möglichkeit, sich vor ihrem Duft zu schützen, sodass seine Nasenflügel wieder bebten, als er ihr Aroma inhalierte. Jeder Muskel in seinem Körper war auf das Äußerste gespannt, während er den Zettel auseinanderfaltete.

„Sie haben die Koordinaten vergessen, die Ihr Freund Herb Ihnen durchgegeben hat”, erklärte sie, als er seine eigene Handschrift erkannte. „Ich dachte, die brauchen Sie.”

Er steckte den Zettellein und murmelte: „Die brauche ich nicht, weil ich sie mir eingeprägt habe.”

„Oh, das wusste ich nicht”, meinte sie schulterzuckend und lächelte ihn abermals an. „Na ja, wäre ich Ihnen nicht gefolgt, hätten Sie später vielleicht überall nach den Koordinaten gesucht. Ich dachte mir, sicher ist sicher.”

„Mhm”, machte Thomas mürrisch. „Und aus genau diesem Grund werden Sie auch ins Hotel zurückfahren, sobald wir unsere Haltestelle erreicht haben.”

Sie versteifte sich bei diesem Vorschlag, konterte dann aber mit einem erneuten Lächeln: „Ach, hören Sie auf. Ich bin mit Ihnen nach Amsterdam geflogen, um Ihnen zu helfen, und deshalb begleite ich Sie jetzt auch.”

„Sie sind mit mir hierhergekommen, damit ich Ihnen unterwegs die Geschichte meines Volks erzähle”, hielt er dagegen. „Sie müssen mir hier nicht behilflich sein, ich kenne mich in der Stadt aus.”

„Aber da ich schon mal hier bin, kann ich mich ja auch nützlich machen und Ihnen helfen”, beharrte Inez.

Thomas warf ihr einen finsteren Blick zu, doch der blieb an ihren verführerischen Lippen hängen und weigerte sich, sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren. Thomas saß einfach da und starrte ihren zarten Mund an, während er sich nur zu gut daran erinnerte, wie wunderbar es sich angefühlt hatte, diese Frau zu küssen. Zu gern hätte er sie noch einmal geküsst und am liebsten viel mehr gemacht als nur das. Er wollte seine Lippen auf ihre pressen, seine Zunge mit ihrer spielen lassen, sie auf seinen Schoß ziehen, damit sie rittlings auf ihm saß. Dann würde er ihre Bluse aufreißen, den BH öffnen und sein Gesicht zwischen ihren vollen Brüsten vergraben, um.... Ein Gong ließ ihn blinzeln, und als er sich umsah, stellte er fest, dass die Bahn auf eine Haltestelle zufuhr.

„Alles in Ordnung, Thomas?”, fragte Inez besorgt, woraufhin er ihr wieder in die Augen sah. „Ihr Gesicht ist ganz rot, und Ihnen steht der Schweiß auf der Stirn. Ist das normal bei Sweet Ecstasy? Ist Fieber eine Nebenwirkung davon?” Als sie ihre Hand hob, um seine Stirn zu fühlen, sprang Thomas von seinem Platz auf, da er fürchtete, sich nicht davon abhalten zu können, seine Überlegungen in die Tat umzusetzen, wenn er zuließ, dass sie ihn berührte selbst wenn ihm alle Fahrgäste dabei zusehen würden.

Er sah, wie ihre Augen vor Schreck größer wurden, und er murmelte: „Wir müssen hier aussteigen.”

Während er zur Tür ging, betete er inständig, dass die Bahn endlich anhielt und er aussteigen konnte, bevor Inez sich zu ihm stellte und womöglich auf die Idee kam, sich an ihm festzuhalten. Er war ein Vampir am Rande des Kontrollverlusts, seine Gedanken überschlugen sich wie wild. Warum hatte er nicht erst das Etikett gelesen, bevor er seine Zähne in den Blutbeutel drückte? Als die Türen sich öffneten, sprang er mit einem Satz nach draußen und sog tief die frische Luft ein, um einen klaren Kopf zu bekommen oder zumindest, um seine Nase von ihrem Geruch zu befreien, der ihn in den Wahnsinn treiben wollte.

Verdammt, er war noch nie einer Frau begegnet, die so gut roch wie Inez. „Thomas?” Wie aus dem Nichts tauchte sie neben ihm auf, und wieder stieg ihm ihr Duft in die Nase, während sie sanft seinen Arm berührte.

Thomas fauchte und riss den Arm weg, als hätte sie ihn verbrannt, dann bekam er sich in den Griff und drehte sich zu ihr um. Ihr verletzter Gesichtsausdruck weckte bei ihm den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten, doch das konnte er nicht riskieren. Schuldgefühle gesellten sich nun zu den anderen Empfindungen, die sich in seinem Inneren einen heftigen Kampf lieferten. Er sah sich um und entdeckte eine Bahn, die sich soeben der gegenüberliegenden Haltestelle näherte.

„Sie müssen mit dieser Bahn zum Hotel zurückfahren”, erklärte er finster und zeigte auf die andere Seite der Schienen, doch Inez folgte nicht mal seiner Geste, sondern starrte ihn eindringlich an und strahlte dabei eine Entschlossenheit aus, die ihn äußerst nervös machte. Anstatt ihren Arm zu fassen und sie von sich wegzudrehen, gab er ihr nur mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich auf den Weg machen sollte. „Ich bringe Sie zur Bahn.”

Inez blieb unverrückbar stehen und schüttelte den Kopf. „Ich begleite Sie.”

„Inez”, schnaubte er.

„Ich weiß, was Sweet Ecstasy ist”, gab sie zurück, und als er ihr einen stechenden Blick zuwarf, zuckte sie lediglich mit den Schultern und gestand ihm: „Ich habe Wyatt angerufen und ihn danach gefragt. Sie haben momentan eine Menge davon im Körper, die ungefähr vier bis sechs Cocktails entspricht. Ich schätze, ein bis zwei Cocktails genügen, um Sie sehr.... äh.... freundlich zu stimmen. Vier bis sechs werden vermutlich dafür sorgen, dass Sie nicht mehr allzu klar denken können. Ich begleite Sie.”

„Das ist keine gute Idee”, wandte er ein, da er wusste, dass sie keine Vorstellung davon hatte, in welcher Verfassung er sich in Wahrheit befand und wozu er fähig war.

„Ich werde Sie in Ihrem Zustand nicht allein umherziehen lassen, erst recht nicht in Amsterdam.”

Thomas stutzte. War das etwa ein besitzergreifender Tonfall in ihrer Stimme gewesen? Er hatte bereits im Hotel in London gemerkt, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, doch da wusste sie noch nicht, was er war. Da hatte er noch gegrübelt, wie sie wohl auf seine Erklärungen reagieren würde. Aber ein besitzergreifender Tonfall war auf jeden Falle in gutes Zeichen.

„Gehen Sie vor, Thomas”, forderte Inez ihn leise auf und holte ihn aus seinen Gedanken. „Sonst fasse ich Sie an.” Ihre Drohung verblüffte ihn, aber er schüttelte nur den Kopf.

„Glauben Sie mir, das würden Sie bereuen.”

Er gab seine Anstrengungen auf, sie zurückzuschicken, und steuerte stattdessen eine schummrig beleuchtete Gasse an. Zunächst ging er noch langsam, bis sie ihn eingeholt hatte, dann beschleunigte er seine Schritte, um ihrem Duft zu entgehen und nicht mit ihr reden zu müssen. Er hoffte, wenn sie ihn nicht anfasste, wenn er sie nicht riechen konnte und nicht mit ihr redete, würde er so tun können, als sei sie nicht da, damit sein Körper etwas zur Ruhe käme. Jeder Nerv stand unter Hochspannung, seit sie in der Straßenbahn aufgetaucht war.

Natürlich funktionierte sein Plan nicht, da Inez keine Frau war, die man so leicht ignorieren konnte. „Wohin gehen wir?”, fragte sie.

Thomas sah sich um. In der Gasse herrschte viel Publikumsverkehr, Touristen waren auf dem Kopfsteinpflaster in beide Richtungen unterwegs. Wären es keine elektrischen, sondern Öllampen gewesen, die in der Dunkelheit für Licht sorgten, dann hätte die Gasse fast noch immer so ausgesehen wie bei seinem ersten Besuch vor hundertfünfundsiebzig Jahren.

„Thomas?”, hakte sie nach.

„Ins Rotlichtviertel.”

Inez war froh, sich entschieden zu haben, Thomas zu folgen. Der Gedanke, ihn allein durch das berüchtigte Rotlichtviertel von Amsterdam laufen zu lassen, löste bei ihr Unbehagen aus. Während sie zwischen zwei Straßenlaternen vom Licht ins Dunkel wechselten, beobachtete sie ihn von der Seite. Es hatte sie überrascht, ihn in die Straßenbahn einsteigen zu sehen, als sie das Hotel verließ. Sie war davon überzeugt gewesen, ihn erst wieder bei diesen Koordinaten zu treffen, die Herb ihm gegeben hatte. So aber war sie sofort losgelaufen, um die Bahn noch zu erwischen, und zum Glück war der Fahrer so nett gewesen, auf sie zu warten. Thomas hatte angespannt und unglücklich gewirkt, als sie ihn in der Bahn entdeckte, und zu dem Zeitpunkt ahnte er nicht mal, dass sie zugestiegen war. Dem Mann war deutlich anzusehen, dass er litt. Er ertrug es nicht, angefasst zu werden, und sobald sie ihm zu nahe kam, brach ihm der Schweiß aus. Es schien ihn sogar Überwindung zu kosten, sie nur anzusehen.

Die Gasse mündete in eine Straße, zumindest hielt sie es für eine Straße, die aber etwas sonderbar wirkte, da in der Mitte ein Kanal verlief, den in unregelmäßigen Abständen kleine Brücken überspannten. Fasziniert sah sie sich um und stellte zu ihrer Verwunderung fest, wie hübsch hier alles war. Die Gebäude standen dicht aneinandergedrängt, jedes mindestens zwei Stockwerke hoch, manche aber auch drei oder vier. Einige Häuser waren extrem schmal und wiesen gerade einmal zwei Fenster nebeneinander auf, aber im Erdgeschoss schien es überall ein Geschäft zu geben, da sie Licht in den Schaufenstern sah. Sogar die bogenförmigen Brücken über den Kanal waren mit Glühbirnen geschmückt.

Sie gingen weiter und kamen an Bars, Clubs und Sexshops vorbei, bis auf einmal.... Inez blieb abrupt stehen und betrachtete ungläubig die rot beleuchteten Schaufenster im Erdgeschoss. Bei einigen waren Vorhänge zugezogen, in ein paar anderen standen leere Hocker oder Stühle, an der Scheibe klebte ein „Bin gleich zurück”-Zettel, aber hinter den meisten Fenstern saßen spärlich bekleidete Frauen in knappen Stretchkleidern oder noch knapperen Dessous. Es war wie eine Auslage in einem Süßigkeitengeschäft, nur dass anstelle von Süßwaren Frauen feilgeboten wurden.

Stirnrunzelnd begann Inez in ihrer Handtasche zu wühlen. Thomas kehrte um, als ihm auffiel, dass sie ein ganzes Stück von ihm entfernt stehen geblieben war. „Wonach suchen Sie?”, fragte er, als er wieder bei ihr war.

„Nach meinem Handy”, antwortete sie und durchsuchte vergebens die Seitentaschen. Dann hatte sie es ertastet und zog es triumphierend hervor. „Aha!”

„Wen wollen Sie anrufen?”, fragte er verdutzt.

„Niemanden.” Sie klappte das Telefon auf und hob es hoch. „Es hat eine eingebaute Kamera, und ich will ein paar Fotos machen.”

Zu ihrem Erstaunen stellte Thomas sich hastig vor sie, sodass er ihr die Sicht auf die Fenster nahm. „Keine Fotos”, sagte er leise. „Das ist nicht erlaubt.”

„Was?”, gab sie zurück und sah sich um. Nur ein paar Meter entfernt stand ein Mann mit einer teuren Kamera, die er soeben auf eines der Fenster richtete. Sie zeigte auf ihn. „Aber er.... ”

Weiter kam sie nicht, da ein lauter Aufschrei die Luft zerriss. Eine vollständig bekleidete ältere Frau kam an einer der jungen Prostituierten vorbei zum Fenster gestürmt, riss es auf und ging mit einer lautstarken Schimpfkanonade auf den Mann mit der Kamera los, der erschrocken zurückwich.

„Kommen Sie”, brummte Thomas ihr zu. Inez wandte den Blick von der Auseinandersetzung gleich neben ihr auf der Straße ab und sah zu Thomas, der daraufhin weiterging, sodass ihr nur die Wahl blieb, ihm zu folgen oder ihn im Getümmel aus den Augen zu verlieren. Seufzend ging sie hinter ihm her, obwohl sie lieber geblieben wäre, um mitzuerleben, wie der Streit zwischen der älteren Frau und dem Fotografen ausging.

„Warum ist Fotografieren hier nicht erlaubt?”, fragte sie, als sie Thomas eingeholt hatte und über die Schulter schaute. Der Mann bot der aufgebrachten Frau Geld an, wohl um sie zu besänftigen, doch die schlug ihm die Scheine aus der Hand und schimpfte weiter. Als Thomas nichts erwiderte, warf Inez abermals einen Blick hinter sich. Zwei Männer stiegen soeben aus dem Schaufenster und gesellten sich zu der keifenden Frau. Inez war froh, dass Thomas sie vom Fotografieren abgehalten hatte, denn offenbar stand dem Mann mit der Kamera noch mehr Ärger ins Haus.

Ihr wurde bewusst, dass Thomas nicht vorhatte, auf sie zu warten, also blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Stück zu laufen, bis sie ihn eingeholt hatte. „Thomas? Warum ist das so schlimm, wenn man hier Fotos machen will?”

„Privatsphäre”, zischte er ihr verkrampft zu. „Die Frauen möchten nicht fotografiert werden, und das gilt genauso für die Freier, die herkommen. So was ist schlecht fürs Geschäft. Wer will schon eine Prostituierte aufsuchen, wenn die Gefahr besteht, dass er dabei fotografiert wird?”

„Ach so, ja. Das ist klar”, erwiderte sie und steckte ihr Telefon weg. Einen Moment lang hatte sie gar nicht daran gedacht, welche Dienste diese Frauen hinter den Fenstern anboten. Da hier alles so offen und für jedermann erkennbar ablief, war es ihr eher wie eine Kirmesattraktion vorgekommen, aber nicht wie das, was es in Wahrheit war: Prostitution. Es musste an dieser gelassenen Atmosphäre liegen, überlegte sie, als sie erneut ihren Blick umherschweifen ließ. Alles war hell erleuchtet, und mit diesem Kanal mitten zwischen den Häusern hatte das Ganze fast etwas Romantisches. Die Fußwege waren sauber, nirgendwo waren Graffiti zu entdecken, die Gebäude machten einen gepflegten Eindruck, und bei den Leuten, die hier unterwegs waren, handelte es sich überwiegend um Touristen. Gruppen von Männern, einzelne Pärchen, Pärchen in Gruppen, alle lässig, aber ordentlich gekleidet, Menschen, die sich unterhielten und die lachten, während sie die Straße entlanggingen, und die mehr neugierig denn lüstern in die Fenster zu beiden Seiten schauten.

Obwohl sie auf ihrem Weg immer wieder an Sexshops und Peepshows vorbeikamen, hatte das alles eher etwas von einem Karneval, aber es wirkte nicht wie ein Rotlichtbezirk, jedenfalls nicht so, wie Inez ihn sieh vorgestellt hatte. Plötzlich blieb Thomas stehen. „Was ist?”, fragte Inez neugierig.

„Hier ist die Stelle”, antwortete er und drehte sich langsam um die eigene Achse, um sich die unmittelbare Umgebung genauer anzusehen.

„Hier?”, wiederholte sie skeptisch. Sie standen genau vor einem Sexshop, links und rechts davon waren nur beleuchtete Fenster zu sehen, in denen Frauen auf Kundschaft warteten. Dort hätte sie Marguerite Argeneau nun wirklich nicht vermutet.

„Laut Herb soll die Ortung bis auf rund fünfzehn Meter genau sein”, sagte Thomas, während er sich weiterdrehte.

Inez sah nach links und rechts und versuchte zu schätzen, wie weit fünfzehn Meter in jede Richtung waren. Aber in Sichtweite gab es nur Sexshops und rot beleuchtete Schaufenster, aber keine Bar, kein Restaurant und auch kein anderes Geschäft, in dem Marguerite sieh hätte aufhalten können.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr und sah nach oben, wo im ersten Stock eine hübsche blonde Frau in weißer Spitzenunterwäsche soeben den dunkelroten Vorhang aufzog. Ein Mann stand hinter ihr im Zimmer, den Gürtel seiner Hose noch geöffnet, während er in aller Eile das Hemd zuknöpfte. Es war ihm sichtlich peinlich, dass die Frau zu früh den Vorhang aufgezogen hatte, woraufhin Inez sich rasch zur Seite drehte und Thomas ansah. „Sie muss hier durchgegangen sein, als Ihr Freund das Handy geortet hat”, vermutete sie. „Rufen Sie ihn doch an, damit er es noch einmal versucht.”

Thomas nickte und holte sein Telefon aus der Tasche. Während er zu wählen begann, ließ Inez zum wiederholten Mal ihren Blick über die Schaufenster schweifen. Dabei fiel ihr auf, dass die Frauen im ersten Stock durchweg ein wenig hübscher wirkten als ihre Kolleginnen im Erdgeschoss, und sie trugen auch edler aussehende Dessous oder Leder, was Inez zu der Frage brachte, ob man im ersten Stock wohl mehr bezahlen musste als im Parterre. Thomas begann zu reden, und beiläufig hörte Inez mit an, wie er Herb bat, noch einmal eine Ortung vorzunehmen. Als er sein Telefon zuklappte, sah sie ihn fragend an.

„Er ruft zurück, sobald er die Position ermittelt hat”, erklärte Thomas.

Sie nickte und machte einer Gruppe Männer Platz, die singend und grölend durch die Straße zogen. Als die sie passiert hatten, wandte sich Inez an Thomas und schlug vor: „Wie wäre es, wenn wir uns eine Kneipe suchen, in der wir ungestört auf den Rückruf warten können?”

Nach kurzem Zögern schüttelte er den Kopf. „Wenn wir in die falsche Richtung gehen, brauchen wir noch länger, um die neue Position zu erreichen.”

„Ja, stimmt”, pflichtete sie ihm seufzend bei. Sie war müde, ihre Füße taten weh, und die Knöchel waren vom Flug immer noch geschwollen. Außerdem hatte sie schon wieder Hunger, obwohl sie an diesem Tag bereits zwei Mahlzeiten zu sich genommen hatte. Aber sie konnte sich auch nicht bei Thomas beschweren, schließlich hatte der sie wiederholt aufgefordert, ins Hotel zurückzukehren und dort zu bleiben. Sie verzog den Mund und ging ein paar Schritte weiter, um sich auf das Geländer zu stützen, das am Kanal offenbar dem Zweck diente, Unachtsame, Betrunkene oder Bekiffte davon abzuhalten, ins Wasser zu fallen und zu ertrinken. Dabei fiel ihr auf, dass es aber nur in der Nähe der Brücke ein solches Geländer gab. „Sie sehen müde aus”, sagte Thomas besorgt. Als sie aber nur mit den Schultern zuckte, setzte er sich in Bewegung.

„Kommen Sie, es kann bis zu einer Stunde dauern, bevor Herb sich meldet. In der Zwischenzeit können wir mit Sicherheit irgendwo etwas essen und trinken.” Sofort hellte sich ihre Miene auf, da die Aussicht auf einen Sitzplatz und einen Drink ihre Lebensgeister weckte. Sie waren noch nicht weit gekommen, da mussten sie einer weiteren Gruppe Männer ausweichen, die sich deutlich wüster verhielten und erkennbar betrunken oder bekifft oder vielleicht sogar beides waren. Instinktiv nahm Thomas ihren Arm und zog sie zur Seite in eine Toreinfahrt, damit sie nicht mit den Männern aneinandergerieten.

Inez stolperte über eine Unebenheit im Pflaster, und obwohl Thomas sie auffing, verlor er selbst auch für einen Moment das Gleichgewicht, sodass sie beide ein paar Schritte wie zwei Betrunkene weitergingen, ehe sie an einer Hauswand Halt fanden. Sie verzog mürrisch das Gesicht über dieses Missgeschick, doch als sie den Kopf hob und Thomas ansah, da war dessen Miene wie versteinert, und seine Augen blitzten in der Dunkelheit der Einfahrt silbern auf. Ihr wurde bewusst, dass sie wie gebannt den Atem anhielt, da ihr das Ganze aus einem unerfindlichen Grund wie eine sehr gefährliche Situation vor kam. Als er sich leicht vorbeugte und sie auf den Mund küsste, wurde ihr der Grund allerdings schnell klar. Sein Verlangen war deutlich zu spüren, und der Kuss hatte etwas Forderndes, das sie fast erschreckte. Dieser Kuss war völlig anders als der im Hotel in London, er war stürmisch und unkontrolliert, eine Explosion unbändigen Verlangens, die in ihrer Eindringlichkeit beängstigend war.

Wie unter Schock zeigte Inez im ersten Moment keinerlei Regung. So wie ein Computer, der zu viele Informationen gleichzeitig verarbeiten sollte, schaltete sich ihr Gehirn kurzzeitig komplett ab und unternahm einen Neustart, als er seine Hände um ihren Po legte und sie ein Stück in die Höhe hob, sodass sie gegen seine Erektion gedrückt wurde. Ihr Verstand regte sich endlich wieder, und sie fasste ihn an den Haaren und zog heftig daran, damit er zur Besinnung kam. Als das keine Wirkung zeigte, biss sie ihn kurz entschlossen in die Zunge, nicht so fest, dass sie ihn hätte verletzen können, aber doch fest genug, um ihn zu warnen.

Thomas unterbrach zu ihrer Erleichterung tatsächlich den Kuss, doch dann ließ er den Mund einfach zu ihrem Ohr wandern. „Thomas”, zischte sie ihm zu, da ihr im Gegensatz zu ihm allzu deutlich bewusst war, dass direkt neben ihnen die Straße verlief und sie ganz sicher nicht die anderen Passanten auf sich aufmerksam machen wollten. „Du musst aufhören”, fuhr sie ihn an. „Jemand wird uns sehen.” Als er den Kopf hob und sie wieder auf den Boden stellte, atmete sie beruhigt auf, doch dann zog er sie noch tiefer mit sich in die dunkle Toreinfahrt. „Was?”, keuchte sie verdutzt, da drückte er sie auch schon gegen die Ziegelsteinmauer in ihrem Rücken. „Thom.

Mehr brachte sie nicht heraus; ihr stockte einfach der Atem, als er plötzlich ihre von der Bluse bedeckte Brust umfasste. Erneut küsste er sie, noch wilder und unbändiger als zuvor, sodass Inez die Augen zukneifen musste, um gegen die Gefühle anzukämpfen, die sich ohne ihr Zutun in ihr regten. Aber dieser Mann hatte zweihundert Jahre lang an seiner Technik arbeiten können, und er war verdammt gut. Dennoch versuchte sie es erneut und drehte den Kopf, damit er sie nicht länger küssen konnte. „Thomas, du musst.... ”

Verdutzt riss sie die Augen auf, als sie seinen Mund auf ihrer Brust spürte, die er eben noch mit seiner Hand umschlossen hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, ihre Bluse zu öffnen und den BH zur Seite zu schieben, sodass er jetzt ihren Nippel lecken und mit der Zunge daran spielen konnte. „Thomas!” Es hatte eine Ermahnung sein sollen, aber es kam nur als hingehauchtes Stöhnen über ihre Lippen. Schlimmer noch war, dass ihre eigene Hand, mit der sie ihn von sich hatte wegziehen wollen, seinen Kopf gegen ihre Brust drückte, um ihn intensiver zu spüren.

Als seine Zähne über die empfindliche Haut strichen, konnte sie nicht anders und stöhnte lustvoll auf. Erneut zog sie an seinen Haaren, aber diesmal wollte sie ihn wieder küssen. Thomas verstand offenbar ihre Absicht und nahm den Kopf hoch, und sofort lieferten sich ihre Zungen ein leidenschaftliches Duell. Abermals legte er die Hände um ihren Po und hob sie ein Stück in die Höhe, und sie genoss es, seine Erektion an ihrem Becken zu spüren. Sie schmiegte sich eng an ihn und schlang instinktiv die Beine um seine Taille. „Ich brauche dich”, knurrte er, unterbrach den Kuss und lehnte sich zurück, damit er mit beiden Händen ihre Brüste berühren konnte. Er schob auch das andere Körbchen nach unten, sodass er ihren nackten Busen bewundern konnte.

Inez legte ihre Hände auf seine Schultern und presste den Rücken gegen die Hauswand, während sie ihr Becken vordrückte, um ihn besser spüren zu können. Er nahm eine Hand weg und widmete sich ihrem Hosenbund. „Warum trägst du bloß keinen Rock?”, murmelte er frustriert.

„Das werde ich ab sofort tun”, keuchte sie, dann gab der Bund nach, und Thomas schob eine Hand zwischen ihre Schenkel. Sie drückte den Rücken durch und wollte aufschreien, aber er presste rasch den Mund auf ihre Lippen, um diesen Laut im Keim zu ersticken. Inez erwiderte den Kuss voller Inbrunst und schob eine Hand zwischen sie beide, um durch den Stoff der Jeans hindurch seine Erektion zu ertasten. Als Thomas mit einem kehligen Knurren reagierte, ließ sie ihn los und machte sich daran, den Knopf und den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen, damit sie unter den Stoff greifen konnte, als.... sein Telefon zu klingeln begann.