12
„Da wären wir.”
„Ein Reihenhaus?”, fragte Inez überrascht, als Thomas sie über einen kurzen Gehweg zu einem der vielen Häuser dieser Art in einer Wohnstraße in York führte. Ihr Blick wanderte über die Fassade, und sie fragte sich, ob die wohl bei Tageslicht genauso düster wirkte. Sie waren um sieben Uhr am Abend in London abgefahren und um kurz nach neun in York angekommen. „Warum ein ganzes Reihenhaus nur für uns zwei?”, rätselte sie.
„Bastien sagt, die Hotels im Stadtzentrum seien alle belegt”, erklärte er beiläufig und nahm den Arm von ihren Schultern, um den Zettel aus der Hand zu nehmen, damit er anklopfen konnte.
„Er meint, dass Tante Marguerite, Tiny und die beiden Nottes sich möglicherweise auch in einem derartigen Haus einquartiert haben, weil sie kurzfristig hergekommen sind. Das würde erklären, warum es keine Abbuchungen von der Kreditkarte gibt, weil diese Privatunterkünfte größtenteils nicht darauf ausgelegt sind, dass man dort mit Karte bezahlt. Möglicherweise haben sie mit Scheck bezahlt.”
„Machen wir das auch?”, wollte Inez wissen, sah sich auf der Straße um und überlegte, ob Marguerite Argeneau vielleicht nur ein paar Häuser weiter untergekommen war.
„Nein, Bastien hat heute Morgen das Geld auf das Konto des Eigentümers überwiesen.”
„Oh.” Inez lächelte flüchtig, als sie zusah, wie Thomas erneut anklopfte. Zu gern hätte sie ihm diese eine Strähne aus der Stirn gestrichen, aber sie fühlte sich noch nicht dazu bereit.
Eigentlich war es albern von ihr, nachdem sie doch die Nacht zusammen verbracht hatten. Erst bei Sonnenaufgang waren sie zu Bett gegangen, zuvor hatten sie ihr Essen immer wieder unterbrochen, um sich zu lieben, weil Thomas darauf bestand, die Gerichte von ihrem nackten Körper zu essen. Zwischendurch hatte es auch Momente gegeben, in denen sie sich intensiv unterhalten hatten, und Inez war dabei bewusst geworden, dass Thomas nach außen hin den Unbekümmerten gab, obwohl er in Wahrheit ein ernster und nachdenklicher Mann war. Ihre Überlegungen wurden gestört, als die Haustür im Nebenhaus aufging und ein älterer Herr herauskam. Er hatte graue Haare, war unrasiert und trug ein weißes Hemd, das halb aus der dunklen Hose heraushing. In einer Hand hielt er eine Tasse mit dampfendem Tee.
„Tom?”, fragte er und kniff ein wenig die Augen zusammen.
„Thomas Argeneau, richtig”, bestätigte er und drehte sich zu dem Mann um. Der Mann nickte, verschwand im Haus und warf die Tür zu.
Augenblicke später wurde sie abermals geöffnet, der Mann, der keine Schuhe trug, kam auf Strümpfen mit einem Zettel und einem Schlüssel zu Thomas geeilt.
„Da haben Sie den Schlüssel, mein Sohn. Meine Nummer steht auf dem Zettel, falls Sie irgendetwas brauchen. Ich muss jetzt zurück und Baywatch gucken.” Mit diesen Worten machte er kehrt und zog sich in sein Haus zurück. Die Tür wurde zugeworfen, und dann war zu hören, wie er sie verriegelte.
Thomas sah Inez ungläubig an. „Baywatch?”
„Bei uns hier laufen eure besten Serien in Wiederholung”, gab sie augenzwinkernd zurück.
Er schüttelte den Kopf, dann schloss er die Haustür auf. „Ich bin Kanadier”, betonte er. „Wir haben Baywatch nicht verbrochen. Das könnt ihr uns nicht anhängen.”
„Pamela Anderson können wir euch schon anhängen”, konterte sie.
„Nur teilweise. Ich wette, sie hat amerikanische Implantate”, meinte Thomas, öffnete die Tür und ging zur Seite, um Inez vorgehen zu lassen.
„Wir sollten uns vielleicht nicht darüber lustig machen”, sagte sie, als sie eintrat und das Licht anschaltete. „Vermutlich ist Baywatch das einzig Aufregende, was der alte Mann hier am Tag zu sehen bekommt.”
„Alt?”, wiederholte er ironisch, stellte den Koffer ab und schloss die Tür hinter sich. „Im Vergleich zu mir ist er ein junger Hüpfer.” Sie musste ihn verdutzt angesehen haben, da er ernster wurde und hinzufügte: „Du weißt es, Inez. Ich habe dir gesagt, dass ich 1794 geboren wurde.”
„Ja”, antwortete sie. „Bloß.... man vergisst das so leicht, weil du nicht so alt erscheinst.”
„Weil ich nicht so alt aussehe.” Er kam zu ihr und rieb über ihre Arme. „Geht es dir gut? Du bereust doch nicht etwa.... ?”
„Nein”, unterbrach sie ihn hastig und schüttelte nachdrücklich den Kopf. Sie wusste selbst nicht so genau, wieso es sie so erschreckt hatte, dass er älter war als der Mann aus dem Nebenhaus. Sie vermutete, dass 1794 für sie bislang einfach nur eine Zahl gewesen war. Sie zwang sich zur Ruhe, setzte ein Lächeln auf und scherzte: „Ich werde mich schon daran gewöhnen, dass ich mit einem alten Sack ausgehe.”
„Oh!”, ächzte Thomas und drückte eine Hand auf seine Brust. „Das war ein Stich ins Herz. Du bist eine grausame Frau, Inez Urso.”
„Ich weiß, und das solltest du nicht vergessen”, sagte sie, wobei ihr Lächeln einen natürlicheren Zug annahm. „Das werde ich nicht”, versicherte er ihr. „Und ich bin auch temperamentvoll”, erklärte sie und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Es war ein sehr neutral gehaltener Raum. Beigefarbener Teppichboden, die Wände im gleichen Ton gestrichen, die Möbel alle grau und nicht ein Hauch von Dekoration es sei denn, man ordnete einen Fernseher den Kunstwerken zu.
„Ein erfreuliches Temperament”, meinte er und spähte über ihre Schulter in den Raum. Dabei strich er mit einer Hand über ihren Po. „Und das ist auch sehr erfreulich.”
Amüsiert wehrte sie seine Hand ab. „Benimm dich, wir haben zu arbeiten.”
„Ja, Ma’am”, stimmte er ihr zu und folgte ihr in die Küche, die in Hell- und Dunkelbraun gehalten war.
„Sieht sauber aus”, sagte sie und gab sich Mühe, nicht zu kritisch zu sein.
„Ja, finde ich auch”, bestätigte Thomas amüsiert und stellte sich mit dem Rücken zur Wand, damit sie an ihm vorbei die Treppe hinaufgehen konnte. Nach ein paar Schritten wurde ihr klar, warum er sie vorgelassen hatte, da sie plötzlich seine Finger an ihren Knöcheln spürte, wo sie die Stelle berührten, an der sie besonders empfindlich war. Sie blieb stehen und warf ihm einen finsteren Blick über die Schulter zu. „Ich bin sterblich. Du willst bestimmt nicht, dass ich die Treppe runterfalle und mir das Genick breche.”
„Ich würde dich schon auffangen”, versicherte er ernst. „Ich werde immer da sein, um dich aufzufangen, Inez.” Inez schluckte, drehte sich wieder um und ging weiter.
Im ersten Stock standen zwei kleine Schlafzimmer zur Verfügung, eins mit zwei Einzelbetten, das andere mit einem Doppelbett. Außerdem gab es ein großzügiges Badezimmer. Nachdem sie die Matratzen getestet hatten, entschieden sie sich für das Zimmer mit den zwei Einzelbetten, dann brachten sie das Gepäck nach oben und kehrten in die Küche zurück, weil sie einen Tee aufsetzen wollten. Bastien hatte versprochen, ihnen verschiedene Lebensmittel liefern zu lassen, und offenbar hatte der alte Mann den Lieferanten ins Haus gelassen und alles in die Schränke geräumt. Wahrscheinlich hatte er vor lauter Begeisterung über Baywatch vergessen, das zu erwähnen.
„Willst du einen Tee, oder sollen wir losgehen und irgendwo etwas trinken, solange noch alle Geschäfte offen sind?”, fragte Thomas, nachdem sie sich ein Bild von den Vorräten gemacht hatten.
„Lass uns gehen. Vielleicht haben wir ja Glück, und Marguerite läuft uns über den Weg.” Thomas nickte und wartete, dass sie ihre Handtasche holte, dann verließen sie das Haus.
„Ich weiß, du bist bis vor ein paar Tagen noch nie in London gewesen”, sagte Inez, während sie in Richtung Stadtzentrum gingen. „Aber warst du schon mal in York?”
„Oh, ich war mal in London”, ließ er sie wissen. „Aber das war.... ” Er sah zum Himmel, während er sein Gedächtnis anstrengte. „Das war achtzehnhundertirgendwann. Ich war Anfang zwanzig.”
Inez musterte ihn neugierig. „Und danach warst du nie wieder dort?”
Mit ernster Miene schüttelte er den Kopf. „Mein Onkel Jean Claude bekam einen Tobsuchtsanfall, weshalb ich es nicht mehr gewagt habe. Er rastete schon aus, wenn nur einer von uns darüber redete, nach England zu reisen. Er hat England gehasst. Ich bin nie dahintergekommen, warum das so war”, fügte er nachdenklich hinzu. „Marguerite wurde hier geboren, und hier sind sie sich auch begegnet. Ein paar Jahrhunderte lang blieben sie in England, aber dann.... ” Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was vorgefallen war, aber kurz vor meiner Geburt entstand bei ihm dieser Hass auf das Land, und er wollte es nie wieder besuchen. Er versuchte auch, es jedem anderen auszureden.”
Erstaunt fragte sie: „War er so Furcht einflößend, dass niemand sich ihm zu widersetzen wagte? Ich meine, auch als Unsterblicher müsstest du mit Anfang zwanzig erwachsen gewesen sein. Du hättest doch sicher herkommen können, wenn du gewollt hättest, oder nicht?”
„Ich hatte keine Angst vor ihm, Inez”, stellte er klar. „Jedenfalls nicht, was mich anging. Ich lebte nicht länger bei ihm und Marguerite, und ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Aber wenn ich etwas tat, was ihn ärgerte, dann ließ er seine Wut an Marguerite und Lissianna aus.”
Mit ernster Miene nahm Inez das alles in sich auf. Sie wusste, Lissianna war die Tochter von Marguerite und gleichzeitig Bastiens einzige Schwester. Aber über Jean Claude hatte sie bislang nicht viel erfahren, da er bereits tot gewesen war, als sie für Argeneau Enterprises zu arbeiten begonnen hatte.
„War er gewalttätig?”, fragte sie leise, da sie grübelte, ob Thomas als Kind wohl geschlagen worden war. Falls ja, hatte er sich noch gut entwickelt allerdings hatte er dafür ja auch viel Zeit gehabt.
„Nein.” Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. „Er hat niemanden geschlagen. Er war ein Trinker und ein teuflischer, gehässiger Mann. Er konnte mit ein paar Bemerkungen jedem das Leben zur Hölle machen, und es tat ihm nie leid.” Thomas seufzte. „Marguerite und Lissianna saßen mit ihm zu Hause praktisch in der Falle. Er wollte Lissianna nicht ausziehen lassen, bis sie einen Lebensgefährten gefunden hatte, und er untersagte Marguerite, irgendeine Arbeit anzunehmen. Er schreckte nicht einmal davor zurück, ihren Verstand zu manipulieren, damit sie ihn nicht verließ.”
„Ihren Verstand?”, wiederholte Inez entsetzt und blieb abrupt stehen. „Du hast gesagt, Lebensgefährten können sich gegenseitig nicht kontrollieren.”
„Marguerite und Claude waren keine Lebensgefährten”, erklärte er ihr. „Er wandelte sie, aber er konnte sie von Anfang an lesen und kontrollieren, und das hat er wie eine Waffe benutzt und zwar gegen jeden von uns.”
„Das muss es für dich aber schwierig gemacht haben, in solchen Verhältnissen aufzuwachsen”, überlegte sie und ging weiter.
„Es gibt Schlimmeres.” Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie und sagte: „Ich bin mehr an dir interessiert. Wie war deine Kindheit?”
Inez lächelte flüchtig und zuckte mit den Schultern. „Niemand führt ein perfektes Leben, oder?”
„Ich schon. Im Moment ist mein Leben rundum perfekt”, beteuerte er, fügte dann aber betrübt hinzu: „Bis auf die Tatsache, dass Marguerite verschwunden ist.”
„Stimmt”, pflichtete sie ihm leise bei.
„Also”, begann er von Neuem, nachdem sie einen halben Block lang schweigend weitergegangen waren. „Wie war deine Kindheit? Waren deine beiden Eltern für dich da? Oder hat deine Mutter dich allein großgezogen?”
„Meine Eltern waren beide da, und ich hatte einen älteren Bruder. Er war so nervtötend wie die meisten großen Brüder. Rechthaberisch, arrogant, beschützend”, antwortete Inez. „Du hast eine Schwester, richtig?”
„Jeanne Louise”, bestätigte er. „Ich mag sie sehr, aber Lissianna und ich stehen uns näher. Wir sind fast gleich alt und zusammen aufgewachsen.”
Inez musterte ihn neugierig. „Wie alt ist Jeanne Louise denn?”
„Nächstes Jahr wird sie hundert.”
„Erst hundert?” Inez war überrascht. „Mein Gott, du warst schon über hundert, als sie zur Welt kam. Kein Wunder, dass du Lissianna näher stehst.”
„Unsterblichen ist es nur alle hundert Jahre erlaubt, ein Kind zu bekommen”, erklärte er achselzuckend.
„Du meinst, Frauen können nur einmal in hundert Jahren schwanger werden?”
„Nein”, gab er lachend zurück. „Das ist nichts Biologisches, sondern ein Gesetz.”
„Oh”, machte sie. „Und was für ein Gesetz ist das?”
„Wir haben einen Rat, der unsere Gesetze erlässt, und das ist eines davon.”
Inez verspürte zwar Neugierde, war aber der Ansicht, dass sie später noch immer alles in Erfahrung bringen konnte, was sie wissen wollte und wissen musste. Im Moment ging es ihr mehr um seine Familie. „Wenn Jeanne Louise erst hundert ist, leben dann deine Eltern noch?”
„Mein Vater ja. Meine Mutter starb, als ich vier war. Darum wurde ich von Tante Marguerite erzogen, denn Vater hatte keine Ahnung, was er mit einem Kleinkind anfangen sollte.”
Inez entspannte sich, denn sie hatte sich unwillkürlich gefragt, warum er von seiner Tante großgezogen worden war. „Dann ist Jeanne Louise deine Halbschwester? Dein Vater fand also eine neue Lebensgefährtin, nachdem deine Mutter gestorben war?”
„Also eigentlich nicht”, räumte Thomas ein. „Das Ganze ist etwas kompliziert. Grundsätzlich einmal scheint ein Fluch auf meinem Vater zu liegen, was seine Ehefrauen betrifft. Eine nach der anderen stirbt ihm weg.... was einem schon zu schaffen macht, wenn es sich durchweg um Unsterbliche handelt. Nachdem Jeanne Louise’ Mutter ebenfalls ums Leben gekommen war, hat er es in gewisser Weise aufgegeben. Er lebt jetzt völlig zurückgezogen und will niemanden sehen. Jeanne Louise weiß nicht einmal, wie er aussieht.”
„Das ist ja wirklich traurig”, murmelte Inez.
Thomas zuckte mit den Schultern. „Er muss auf seine eigene Art damit zurechtkommen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm es sein muss, seinen Lebensgefährten zu verlieren. Und ich möchte auch gar nicht darüber nachdenken”, fügte er hinzu und drückte sie etwas fester an sich.
Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie konnte ihm nicht versprechen, dass er sie niemals verlieren würde, schließlich war sie sich ja noch nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt liebte. Zwar wuchs mit jeder Stunde ihre Gewissheit, was ihre Gefühle für ihn anging, doch genauso klar war ihr auch, dass sie nicht seine Lebensgefährtin werden konnte, wenn er ihre Liebe nicht erwiderte. „Erzähl mir etwas über deine Musik”, forderte sie ihn auf und wechselte das Thema.
Abrupt blieb er stehen und sah sie ungläubig an: „Woher weißt du davon?”
„Dein Ringbuch lag aufgeschlagen auf dem Tisch, als ich dir am ersten Morgen das Telefon gebracht habe”, gestand sie ihm ernst. „Du schreibst doch Musik, richtig?”
Thomas atmete prustend aus und ging weiter. „Ja.”
Sie biss sich auf die Lippe, als sie seinen Unwillen aus diesem einen Wort heraushörte, und überlegte, ob sie erneut ein anderes Thema anschneiden sollte, da redete er auf einmal weiter. Er erzählte ihr von Marguerite, die ihm Musikunterricht gab, von Jean Claudes abfälliger Reaktion darauf, von seinem Entschluss, danach mit niemandem mehr über seine Musik zu reden. All die Jahre hatte er sich an seinen Vorsatz gehalten. Wie es schien, hatte der Mann, in den sie sich zu verlieben begann, eine sture Art an sich, wenn es um Dinge ging, die ihm wichtig waren. Aber damit konnte sie zurechtkommen, war sie doch selbst in manchen Angelegenheiten nicht von ihrer Einstellung abzubringen.
„Wie wäre es hier?”, fragte Thomas plötzlich.
Inez stutzte und sah sich um. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sie vom reinen Wohngebiet in eine der Einkaufsstraßen geraten waren. Vor ihnen lagen links und rechts Geschäfte und Restaurants, aber Thomas deutete auf ein kleines Cafe an einer Ecke, das sich über Erdgeschoss und ersten Stock erstreckte. Durch die großflächigen Scheiben war zu erkennen, dass es sich um ein beliebtes Lokal handeln musste, da kaum ein freier Tisch auszumachen war.
„Sieht ganz vielversprechend aus”, erklärte sie, und sie betraten das Cafe.
An der Theke angekommen, schlug er vor: „Wie war’s, wenn du mir sagst, was du haben möchtest? Dann bestelle ich, und du kannst für uns schon Mal einen Tisch suchen.”
Sie nickte und warf einen Blick auf die Tafeln hinter der Theke. „Einen Latte und einen Zitronenmuffin.”
„Keinen Tee?”
„Nein, ein Latte ist mir jetzt lieber”, erwiderte sie.
„Okay”, meinte er, küsste sie auf den Mund und schickte sie vor. „Geh und ergattere uns einen Tisch. Ich werde dich schon finden.”
Sie ging nach oben in den ersten Stock, da es im Parterre nur wenige Plätze gab, die alle besetzt waren. Im Obergeschoss sah es nicht viel besser aus, doch hier fand sich wenigstens noch ein freier Tisch am Fenster. Nachdem sie Platz genommen hatte, behielt sie die Treppe im Auge, um auf Thomas zu achten, wenn er nach oben kam.
Es dauerte nicht lange, bis er ihr in den ersten Stock folgte. Er sah sich kurz um, entdeckte Inez und kam zu ihr. Dabei entging ihr nicht, wie viele der anderen Frauen im Cafe ihm hinterherschauten, sobald er an ihnen vorbeiging. Sie verspürte den äußerst kindischen Wunsch, diesen Frauen die Zunge rauszustrecken. Er gehörte zu ihr, und ganz gleich, was die anderen zu bieten hatten, würden sie für ihn doch alle nichts weiter als Marionetten sein, mit denen er nichts anfangen konnte. Es tat ihr gut, das zu wissen, doch es änderte nichts daran, dass sie diesen Marionetten am liebsten die Fäden durchgeschnitten hätte, damit sie ihn in Ruhe ließen.
„Was soll denn dieses Gesicht?”, fragte er amüsiert, als er das Tablett auf den Tisch stellte.
„Was für ein Gesicht?”, gab sie mit Unschuldsmiene zurück.
„Ich glaube, ich würde es am ehesten als sanfte Boshaftigkeit beschreiben”, meinte er und stellte ihr den Latte und den Muffin hin.
„Boshaftigkeit? Nie im Leben.”
„Nicht?”, vergewisserte er sich, nahm sein Getränk und seinen Muffin von dem Tablett und stellte es auf die Fensterbank, damit sie auf dem Tisch mehr Platz hatten.
„Nein”, beteuerte sie. „Mir fiel nur auf, wie die Frauen dich anstarren, und ich habe mir überlegt, dass ich ihnen wehtun muss, wenn sie irgendeine Dummheit versuchen sollten.” Bei ihren Worten hielt Thomas unwillkürlich inne und machte große Augen. „Ich versichere dir, das hatte mit Boshaftigkeit rein gar nichts zu tun”, sagte sie beiläufig.
Lachend nahm er ihr gegenüber am Tisch Platz und hob mahnend einen Finger. „Wie ungezogen von dir. Und da dachte ich, du wärst nicht der eifersüchtige Typ.”
„Ich bin nicht eifersüchtig”, widersprach sie, während sie Zucker in ihren Latte tat.
„Nicht?”, hakte er skeptisch nach. „Ich schon.”
„Worauf solltest du denn eifersüchtig sein?”, wunderte sie sich.
„Auf jeden Kerl, der dich von Kopf bis Fuß anstarrt.” Jetzt musste sie lachen, da er es ihr demonstrierte, indem er die Augen zusammenkniff und seinen Blick über Inez wandern ließ.
„Kein Mensch macht das”, widersprach sie ihm. „Doch, ganz sicher”, beteuerte er. „Mr. Rotschopf unten hinter der Theke hat es gemacht.” „Ist mir gar nicht aufgefallen.”
„Ich weiß”, meinte er amüsiert. „Ich finde das einfach reizend, dass dir in keiner Weise bewusst ist, wie attraktiv du bist. Da bin ich richtig froh, dass ich kein Sterblicher bin. Ein normaler Mann müsste dich wohl anspringen, damit dir endlich auffällt, wie sehr er sich zu dir hingezogen fühlt.”
Inez schüttelte den Kopf. „Männer bevorzugen Blondinen mit langen Beinen und feurige Rothaarige. Ich bin nur langweilig.”
„Meine Liebe, nichts an dir ist auch nur im Ansatz langweilig”, protestierte er.
Sie sah ihn stumm an und wünschte, dass er es auch so meinte. Sie wollte seine Liebe sein. Mit einem Mal hatte sie einen Kloß im Hals, und sie musste ein paarmal schlucken, ehe er sich wieder gelegt hatte. Dann trank sie von ihrem Latte und fragte: „Und wie sollen wir hier in York nach Marguerite suchen?”
Der plötzliche Themenwechsel überrumpelte Thomas, der erst einmal gedanklich umschalten musste: „Tja, ihr Handy brauchen wir nicht zu orten.”
„Richtig”, stimmte Inez ihm zu.
„Und wir können auch keine Kreditkartenaktivitäten überwachen”, fuhr er kopfschüttelnd fort. „Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wo wir anfangen sollen. Wir wissen bereits, dass sie in keinem Hotel abgestiegen ist.”
„Damit bleiben nur Pensionen und Privatunterkünfte”, sagte sie.
„Richtig, aber Notte hat seine Kreditkarten auch nicht benutzt.”
„Weil er bar oder mit Scheck bezahlt hat”, folgerte sie nachdenklich.
„So sieht es aus. Dummerweise können wir nicht von Haus zu Haus gehen, um nachzusehen, wo sie untergekommen sind.”
„Nein”, stimmte sie ihm zu und überlegte kurz. „Welche Vorlieben hat sie eigentlich?”
„Sie mag Musik”, antwortete er prompt und ergänzte dann noch: „Und sie liest gern.”
„Musik und Bücher also.” Inez grübelte eine Weile darüber nach. „Meinst du, sie würde ein Konzert besuchen?”
„Grundsätzlich wohl ja, aber sie ist hier, um zu arbeiten.”
Inez stutzte. „Stimmt, daran hatte ich jetzt nicht gedacht. Sie sucht ja nach der Mutter von diesem Christian Notte.”
„Sie und Tiny haben drei Wochen lang in Kirchen- und Gemeindearchiven gesucht, um einen Hinweis auf seine Geburt zu finden.”
„Dann war seine Mutter damals also noch mit seinem Vater verheiratet?”
Thomas wollte etwas sagen, hielt dann aber inne und schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie auch nur nach einem Kind namens Christian gesucht. Ich bezweifle, dass das ein weitverbreiteter Name war.”
Inez nickte zustimmend. „Da könntest du recht haben.”
„Ich weiß, sie wollten sich in London mit Christian treffen, weil sie hofften, er könnte ihnen einen Hinweis geben oder zumindest dabei behilflich sein, die Suche einzugrenzen.”
Wieder schwieg sie eine Weile. „Kann der Vater ihnen nicht einfach sagen, wer die Mutter ist und wo sie sie finden können?”
Als Thomas sie verständnislos ansah, fuhr sie fort: „Ich meine, Julius ist doch offensichtlich hier in England gewesen. Die Hotelsuiten sind mit seiner Kreditkarte bezahlt worden. Er muss doch wissen, wer die Mutter ist. Warum sagt er es ihnen nicht einfach?”
Thomas schüttelte nachdenklich den Kopf. „Darauf weiß ich keine Antwort. Vielleicht hat er es ihnen gesagt, und sie suchen jetzt ganz gezielt nach der Frau.”
„Kann es so schwierig sein, sie zu finden?”, wollte Inez neugierig wissen.
„Christian ist über fünfhundert Jahre alt. Unsterbliche ändern ihren Namen, sie ziehen immer wieder um.... Nur wenige haben eine Sozialversicherungsnummer oder sind anderweitig registriert, und dann auch nicht unter ihrem eigenen Namen.” Er zuckte mit den Schultern. „Es kann schwieriger sein als die Suche nach einem Sterblichen.”
„Okay, also noch mal zusammengefasst: Marguerite und Tiny reisen nach London und treffen sich mit Christian, weil sie auf zusätzliche Informationen hoffen. Sein Vater Julius kommt dazu, und vermutlich gibt er ihnen einen Hinweis, der sie dazu veranlasst, nach York zu fahren.” Während sie redete, nickte er immer wieder bestätigend, und nachdem sie abermals über die Situation nachgedacht hatte, ergänzte sie: „Nur eine Sache ergibt für mich einfach keinen Sinn.”
„Und zwar?”
„In London bestand die Gruppe aus sieben Personen, aber nur fünf sind nach York gereist. Was ist aus den beiden anderen geworden?”
„Sieben Personen?”, wiederholte Thomas verwundert.
„Bastien hat gesagt, dass Julius zwei Suiten im Claridge’s bezahlt hat, beide mit zwei Schlafzimmern, und drei der Schlafzimmer sollten je zwei Betten haben”, erklärte sie. „Drei Doppelbetten ergeben sechs Personen. Beim vierten Schlafzimmer war es egal, ob das über ein oder zwei Betten verfügte.”
„Ja, du hast recht”, musste er erstaunt zugeben.
„Wer waren also all diese Leute?”, fragte sie.
„Hm.... ”, machte Thomas grübelnd. „Da wären Marguerite und Tiny, außerdem offenbar Christian Notte und sein Vater.”
„Und die restlichen drei?”
„Keine Ahnung”, musste er zugeben.
„Weißt du irgendetwas über diesen Christian Notte?”
„Er ist mit jemandem verwandt, der für meinen Cousin Vincent arbeitet. Er und einige andere Familienmitglieder sind nach Kalifornien geflogen, als mein Cousin dort gewisse Probleme hatte. Sie waren in der Zeit bei ihm einquartiert, meine Tante ebenfalls. Dadurch wurde sie auch überhaupt erst in seinen Fall verstrickt.” Er machte eine finstere Miene. „Ich habe wirklich keine Ahnung, wer die anderen drei sein könnten und warum nur fünf von den sieben nach York weitergefahren sind.”
Seufzend lehnte sich Inez auf ihrem Stuhl zurück. „Vermutlich hat es sowieso nichts zu bedeuten, aber es stört mich trotzdem.” Sie verfielen in Schweigen, da sie sich auf ihre Getränke und die Muffins konzentrierten. Plötzlich sah Inez sich um.
„Was ist?”, wollte er wissen.
„Ich überlege nur, wo die Damentoilette ist”, antwortete sie.
Er schaute sich ebenfalls um. „Hier oben kann ich kein Schild entdecken, aber im Erdgeschoss befindet sie sich gleich neben der Treppe.”
„Gut, danke. Ich bin gleich wieder da.” Sie nahm ihre Handtasche mit und begab sich nur langsam nach unten, da die Treppe für ihren Geschmack etwas zu steil war. Im Parterre angekommen, sah sie sich nach dem Wegweiser zu den Toiletten um.
„Kann ich Ihnen behilflich sein, Miss?”
Inez sah erschrocken den großen Mann an, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Er hatte rötliches Haar und trug die gleiche Schürze wie eine der anderen Angestellten des Cafes. Mr. Rotschopf existierte also tatsächlich, wurde ihr zu ihrem Erstaunen klar.
„Miss?”, fragte der Mann. „Ist alles in Ordnung?”
„Ich.... äh.... ja”, sagte sie mit einem Mal nervös. „Ich suche nur die Toiletten.”
„Oh, gleich da drüben.” Er führte sie nach rechts, und Inez bedankte sich lächelnd bei ihm. Sie betrat die Damentoilette es war ein kleiner Raum; rechts eine Kabine, links ein Waschbecken. Die Kabine war besetzt, aber angesichts dessen, wie viele Gäste sich im Cafe aufhielten, kam es einem Wunder gleich, dass sie nicht in einer langen Schlange warten musste. Sie ging zum Waschbecken, betrachtete ihre Haare und runzelte unzufrieden die Stirn. Da sie wusste, sie brauchte gar nicht erst zu versuchen, diese Mähne zu bändigen, holte sie stattdessen den Lippenstift aus der Handtasche und zeichnete die Konturen ihres Mundes nach. Zumindest da konnte sie ein paar Schönheitskorrekturen vornehmen. Während sie vor dem Spiegel stand, musste sie wieder an die Suiten im Claridge’s denken, auch wenn es eigentlich sinnlos war, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie kannte keinen der Beteiligten gut genug, um auch nur ahnen zu können, wer die übrigen Personen hätten sein können. Auf jeden Fall war davon auszugehen, dass sie mit Christian Notte in Verbindung standen, möglicherweise war es Familie, oder es waren Freunde.
Plötzlich hielt sie inne. Was, wenn die anderen drei Christians Mutter und deren Begleitung waren? Nein, dachte sie entschieden und schüttelte flüchtig den Kopf. Dann wäre der Fall ja gelöst gewesen, und Marguerite wäre heimgekehrt. Gleich darauf kam ihr ein anderer Gedanke, und sie richtete sich auf, um in den Spiegel zu schauen, ohne dabei eigentlich etwas zu sehen. Vielleicht war es nicht seine Mutter gewesen, sondern jemand, der Christian zu ihr führen konnte. Unter Umständen war Marguerite auf jemanden gestoßen, der aus der gleichen Zeit stammte und der wusste, wo die Frau zu finden war, die Christian das Leben geschenkt hatte. In dem Fall wären sie gemeinsam hergekommen, hätten seine Mutter gefunden und dann.... ja, was dann?
Wenn Julius die Gruppe verlassen hatte, bevor sie aus London abgereist war, dann hatten Marguerite und die anderen es vielleicht für nötig gehalten, sich doch noch einmal mit ihm zu treffen, damit er bestätigen konnte, dass sie die richtige Frau gefunden hatten. Unter normalen Umständen hätten sie ein Foto von ihr machen können, um es ihm per E-Mail oder auf sein Handy zu schicken, damit er sich zur Identität der Frau äußerte. Aber das hier war kein normaler Fall. So wie sich das Ganze für Inez anhörte, wollte der Vater nicht, dass Christian seine Mutter aufspürte. Also würde er wohl versuchen, ihnen Steine in den Weg zu legen. Womöglich würden sie mit der Frau nach Italien fliegen und eine Gegenüberstellung arrangieren müssen, um an seiner Reaktion abzulesen, ob sie es war oder nicht. Sollte das der Fall sein, dann hielten sie sich womöglich längst nicht mehr in York auf.
Andererseits hatten sie die Frau vielleicht schon gefunden, blieben aber noch aus einem anderen Grund hier. Dass sie sich in Italien aufhielten, war kaum anzunehmen, immerhin hatte Bastien erst am Tag zuvor mit Italien telefoniert und zu hören bekommen, sie seien derzeit alle in England. Natürlich konnte es sein, dass sie sich inzwischen auf den Weg gemacht hatten, was sich mit einem einzigen Anruf schnell herausfinden ließ. Es konnte doch nichts schaden, diese Möglichkeit zu überprüfen, selbst wenn das nur dem Zweck diente, sie auszuschließen. Die Tür zu den Toiletten ging auf, und Inez hoffte, dass niemand versuchen würde, sich vorzudrängen, wenn die Frau endlich die Kabine verließ. Sie musste nämlich dringend zur Toilette.
Zum Glück war es ein Mann, der die falsche Tür erwischt hatte.
Sie lächelte den großen Blonden freundlich an und wartete darauf, dass er seinen Fehler bemerkte, sich kleinlaut entschuldigte und hinausging. Doch das tat er nicht. Stattdessen sah er Inez mit finsterer Entschlossenheit an und kam direkt auf sie zu.