9
„Geht es Inez gut? Sie klang sehr aufgewühlt.”
Thomas wandte den Blick von der Badezimmertür ab und konzentrierte sich auf den Telefonhörer in seiner Hand. „Ich glaube, ihr ist eben klar geworden, dass jemand ihren Verstand kontrolliert hat.”
„Das passiert für gewöhnlich nur, wenn keine Ersatzerinnerung zurückgelassen wird”, gab Bastien zu bedenken.
„Ich möchte wissen, warum das nicht passiert ist.”
„Vielleicht wollte derjenige, dass sie es weiß.”
Thomas versteifte sich bei diesen Worten. „Warum sollte das jemand wollen?” Langes Schweigen schloss sich an, während sie beide überlegten, wer Inez’ Gedanken kontrolliert haben könnte, doch keinem von ihnen wollte etwas Brauchbares einfallen.
„Das Rätsel werden wir wohl nicht lösen können”, räumte Bastien schließlich missmutig ein. „Jedenfalls nicht, solange wir Tante Marguerite nicht gefunden haben.”
„Apropos Marguerite”, sagte Bastien. „Ich weiß, ich sollte auf deinen Anruf warten, und ich habe mich lange geduldet. Aber mittlerweile ist es so spät, dass ich dachte.... ”
Thomas fluchte, als sein Blick auf den Wecker neben dem Bett fiel. Es war bereits zehn Uhr durch, und er hatte viel länger geschlafen als beabsichtigt.
„Thomas?”
„Ich habe verschlafen”, gestand er seinem Cousin. Er hörte, wie im Badezimmer die Dusche angestellt wurde. „Ich werde Herb sofort anrufen, damit er das Telefon wieder ortet und ich die aktuellen Koordinaten bekomme.” Damit drückte er die Gabel kurz nach unten und tippte anschließend Herbs Nummer ein. Der Unsterbliche war immer zu den unmöglichsten Zeiten wach und arbeitete manchmal bis in den Morgen hinein, wenn er sich dem Programmieren widmete. Zum Glück war heute auch einer von diesen Tagen, und Thomas musste sich nicht bei ihm dafür entschuldigen, dass er ihn aufgeweckt hatte.
Nach dem Ende des Telefonats ging Thomas im Zimmer auf und ab, während er auf den Rückruf wartete. Da es nichts gab, womit er sich hätte ablenken können, wanderten seine Gedanken automatisch zurück zu Inez, die nur wenige Meter von ihm entfernt unter der Dusche stand. Sie war nackt, warmes Wasser lief über ihre eingeseiften Kurven. Zu gern hätte er das für sie übernommen und den Seifenschaum auf ihren Brüsten, ihrem Po, ihren Schenkeln verteilt.... Seine Fantasie ging so heftig mit ihm durch, dass er am liebsten zu Inez ins Badezimmer gestürmt wäre, um seinen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.
In diesem Moment klingelte das Telefon und riss ihn aus seinen Überlegungen. Herb nannte ihm die aktuellen Koordinaten und fügte hinzu: „Machst du dich sofort auf den Weg?”
„Nein”, erwiderte er bedächtig, da ihn die Frage ein wenig irritierte. „Ich muss erst duschen und mich anziehen. Zehn Minuten wird das bestimmt dauern. Wieso?”
„Weil ich die Koordinaten lieber noch mal überprüfen würde, bevor du losziehst”, antwortete Herb nach kurzem Zögern.
„Noch einmal?”, wiederholte Thomas verwundert. „Warum? Marguerite schläft jetzt und wird sich nicht von der Stelle rühren. Deshalb waren wir uns doch darüber einig, dass wir erst heute Morgen weitermachen.”
„Ich weiß, aber ich habe diese Koordinaten mit einem Stadtplan von Amsterdam verglichen, und an der Stelle befindet sich kein Hotel, da sind nur Cafes.”
„Das kann nicht stimmen.” Thomas ließ sich auf das Bett fallen. „Tante Marguerite geht tagsüber nicht raus. Warum sollte sie um diese Uhrzeit in der Stadt unterwegs sein?”
„Du hast gesagt, dass sie wegen eines Falls nach Europa gereist ist. Vielleicht muss sie ja am Tag ermitteln”, gab Herb zu bedenken.
„Damit könntest du recht haben”, musste Thomas ihm zugestehen. „Ich kenne mich mit Detektivarbeit nicht aus, aber womöglich müssen sie irgendwelche Unterlagen einsehen, und diese Büros sind natürlich nachts nicht geöffnet.... Könntest du die Koordinaten noch einmal überprüfen, Herb? Nur zur Sicherheit?”
„Ist längst passiert. Sogar dreimal, um jeden Fehler auszuschließen.”
„Oh”, äußerte sich Thomas frustriert.
„Ich weiß, es scheint einfach nicht richtig zu sein”, murmelte Herb. „Aber wenn sie am Tag ermitteln müssen.... Du hast doch gesagt, ihr Partner ist menschlich. Vielleicht sind sie in einem Cafe, damit er etwas essen kann.”
„Ja, das wäre denkbar.”
„Okay. Ruf mich an, kurz bevor ihr aufbrecht, dann werde ich die Ortung wiederholen. Falls sie dann nicht mehr dort ist, könnt ihr euch gleich zum nächsten Punkt begeben.”
„Ja, danke, Herb. Ich weiß das wirklich zu schätzen, dass du mir so hilfst”, sagte er, legte aber besorgt die Stirn in Falten. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.
Wieder sah er zur Badezimmertür und fragte sich, was vor gefallen war. Warum nahm seine Tante keinen Kontakt mit ihrer Familie auf? Sie musste ihr Telefon bei sieh haben, schließlich veränderte das andauernd seine Position. War Inez im Park auf Marguerite gestoßen? Hatte die ihre Erinnerung gelöscht? Er ging zum Badezimmer und klopfte an. Als keine Antwort kam, öffnete er die Tür.
„Inez?”, rief er und trat ein. Sein Blick fiel auf die Duschkabine an der gegenüberliegenden Wand, für die die Bezeichnung Kabine nicht angemessen war ganz im Gegensatz zu den beengten Zellen, denen er daheim überall begegnete. Das dort war ein großzügiger Raum mit Kacheln an den Wänden, die Duschköpfe waren riesig und ließen das Wasser auf einen niederprasseln, als würde man unter einer Regenwolke stehen. Thomas hatte die hiesigen Duschen schon immer ganz besonders gemocht. Durch das Mattglas hindurch konnte er Inez’ Konturen ausmachen.
„Inez?”, rief er nochmals und stellte sich vor die Tür, als ihm klar wurde, dass sie ihn wegen des Geräuschs des laufenden Wassers nicht gehört hatte.
Diesmal allerdings hörte sie ihn, drehte sich hastig um und bedeckte sich schamhaft mit den Händen. Er musste flüchtig lächeln, da er sich ihre erschrockene Miene gut vorstellen konnte. Der Tag würde kommen, an dem sie nicht mehr so zurückhaltend war, wenn er sie nackt sah. Sie hatte einen wunderschönen Körper; sie war zwar klein, aber wohlgeformt, und nach ihrer Wandlung würde sich daran zum Glück nicht allzu viel ändern. Eine Frau sollte Kurven haben, und genauso sollte sie Fleisch auf den Rippen haben, das einem Mann Trost spenden konnte. Zumindest war das seine Meinung zu dem Thema.
„Thomas?”, fragte sie zögerlich. Er wusste, sie wollte mit der Frage nicht herausfinden, ob er das war. Denn wer außer ihm sollte sich schon hier aufhalten? Vielmehr wollte sie den Grund für seine Anwesenheit erfahren.
„Inez, kannst du mir erzählen, was genau gestern Abend passiert ist?”, bat er sie und fügte hinzu: „Es ist wichtig.”
Es folgte ein Moment des Schweigens. Dann sagte sie: „Als wir zurück im Hotel waren, bist du zusammengebrochen. Ich habe das Messer aus deinem Rücken gezogen und die Blutung gestillt. Dann habe ich dir ein paar Blutbeutel hingelegt, weil ich nicht wusste, wie ich sie dir einflößen sollte. Ich wollte dich wegen der Verletzung nicht auf den Rücken drehen, also habe ich die Beutel auf den Boden gelegt, damit du sie findest, wenn du wieder zu Bewusstsein kommst. Dann habe ich Herb angerufen, damit er mir die neuen Koordinaten durchgibt.”
„Ihm hast du nichts davon gesagt, was vorgefallen war”, warf er ein.
„Nein. Ich wusste doch nicht, ob du Ärger kriegen würdest, wenn du in der Öffentlichkeit deine Zähne zeigst und dann auch noch alle Leuten wissen lässt, wie stark und schnell du bist”, erklärte sie.
Thomas verzog das Gesicht, als er hörte, dass sie seine Reißzähne gesehen hatte. „Danke”, sagte er dennoch.
„Er hatte neue Koordinaten, also habe ich mich auf den Weg gemacht und bin vor einem Nachtclub gelandet. Ich wusste, ich konnte in dem Club unmöglich allein nach ihr suchen, und ich war froh, dass Herb sich in dem Moment mit neuen Koordinaten meldete. Bastien rief gleich danach an, und ihm habe ich nur erzählt, dass wir immer noch nach Marguerites Handy suchen. Dann bin ich ein paar Blocks weiter zu einem Park gegangen.”
„Und dann?”
„Dann bin ich in meinem Bett aufgewacht, und du hast neben mir gelegen.” Ihr Tonfall verriet Unsicherheit und sogar Angst, wie Thomas verwundert bemerkte. Erst als sie weiterredete, verstand er, was ihr Sorgen machte. „Du hast doch nicht meine Erinnerung gelöscht, nicht wahr, Thomas?”
„Nein”, antwortete er mit Nachdruck und wünschte, sie könnte durch das Glas seine ernste Miene sehen. „Ich sagte dir ja bereits, ich kann dich weder lesen noch kontrollieren.”
Sekundenlang herrschte Stille, schließlich fragte sie: „Dann sind wir tatsächlich Lebensgefährten?”
„Du weißt darüber Bescheid?”, konterte er ungläubig und sah, wie sie mit den Schultern zuckte.
„Der Bote mit der Kühlbox hat es mir erklärt. Ich habe ihn sozusagen erpresst”, räumte sie ein.
Thomas trat von einem Fuß auf den anderen, er hob die Hand, um die Tür der Dusche zu öffnen, entschied sich aber doch dagegen. „Bist du verärgert?”, wollte er wissen.
„Warum sollte ich?”, gab Inez ratlos zurück.
Seiner Ansicht nach gab es dafür mehrere Gründe. Jemand hatte ihr Gedächtnis teilweise gelöscht und sie manipuliert, sie war seine Lebensgefährtin, und sie hatte ihn in ihrem Bett vorgefunden, ohne dass er von ihr dazu aufgefordert worden war. „Weil du meine Lebensgefährtin bist”, erklärte er und hielt den Atem an, während er auf ihre Antwort wartete.
Inez starrte durch das milchige Glas auf Thomas’ Umriss. Sie konnte erkennen, dass sein Oberkörper immer noch nackt war und dass er nur seine Jeans trug. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht ausmachen, doch der sorgenvolle Ton in seiner Stimme erstaunte sie. Nein, das musste sie falsch gedeutet haben, entschied sie. Vielleicht lag es am laufenden Wasser, dass ihr seine Stimme irgendwie verzerrt vorkam. Zögerlich sagte sie: „Du klingst besorgt.”
„Das bin ich auch”, ließ er sie wissen.
„Wieso?”, fragte sie verwundert. „Du bist gut aussehend, intelligent und charmant. Die Frauen müssen dir in Scharen nachlaufen. Was kümmert es dich, was.... ”
„Inez”, unterbrach er sie ernst. „Keine dieser anderen Frauen interessiert mich. Ich kann sie kontrollieren und ihre Gedanken lesen. Die sind für mich und jeden anderen Unsterblichen, der sie lesen kann, so was wie aufblasbare Gummipuppen. Ich kann sie alles machen lassen, was ich will.” Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Es gab einmal eine Zeit, da hat mir das tatsächlich genügt. Ich war mal jung genug, um Gefallen daran zu finden, eine schöne Frau mit in mein Bett zu nehmen, obwohl die nicht mehr war als eine Marionette. Aber der Reiz verflog ziemlich schnell, weil ich ihre Gedanken lesen konnte. Die eine fand mich ganz nett, dachte aber eigentlich nur an mein Geld und daran, dass ich ihr alles kaufen konnte, was sie haben wollte. Die andere fand mich auch ganz nett, stand aber eigentlich auf blonde Männer. Die nächste beschäftigte sich nur damit, dass sie sich hoffentlich nicht die Figur verderben müsse, weil ich von ihr Babys haben wollte. Eine hoffte inständig, ich würde auf Sadomaso-Praktiken stehen, weil sie von mir unbedingt geschlagen werden wollte.... Bei Gott, du kannst dir gar nicht vorstellen, was manchen Frauen durch den Kopf geht. Männern natürlich auch. Das sind zum Teil vielleicht nur flüchtige Gedanken, aber sie lenken ganz erheblich davon ab, wie attraktiv ein Mensch ist, wenn du jeden von ihnen lesen kannst. Andere Gedanken können einen richtiggehend verletzen, selbst wenn sie gar nicht so gemeint sind.”
Er atmete tief durch und fuhr fort: „Ich habe zweihundert Jahre auf dich gewartet, Inez. Eine Frau, die schön und intelligent ist, die eine richtige Persönlichkeit besitzt. Eine Frau, die ich weder lesen noch kontrollieren kann. Eine Frau, die meine Leidenschaft entfacht und deren Leidenschaft ich genießen kann, ohne mir anhören zu müssen, ob ich ihren Hintern für zu breit oder ihren Busen für zu klein halte.”
Inez verkniff sich das Lachen, das über ihre Lippen kommen wollte, da ihr unwillkürlich ihre eigenen Bedenken einfielen, mit denen sie sieh herumgeplagt hatte, während sie von ihm verwöhnt worden war. Zwar machte sie sich Sorgen, weil jemand ihre Erinnerung gelöscht hatte und sie nicht wusste, ob Thomas dahintersteckte oder nicht, dennoch war ihr erster Gedanke unter der Dusche der gewesen, sich die Beine und die Achselhöhlen zu rasieren. Sie war unglaublich froh darüber, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte, während sie über die Stoppeln an ihren Beinen nachgedacht hatte, aber zugleich war es auch beruhigend, dass nicht nur ihr in solch intimen Momenten diese Dinge durch den Kopf gingen.
„Ja, ich bin besorgt. Und das ist noch harmlos ausgedrückt. Ich habe eine Heidenangst! Ich fürchte mich davor, dass ich in deinen Augen vielleicht nicht so attraktiv bin, wie du es für mich bist. Oder dass meine Persönlichkeit und mein Lebensstill für dich zu locker sind, weil du eine so kompetente und selbstbewusste Geschäftsfrau bist, die.... ”
„Ich bin nicht immer kompetent und selbstbewusst”, wandte Inez ehrlich ein, obwohl sie fürchtete, er könnte das Interesse an ihr verlieren, wenn sie nicht so perfekt war, wie er sie beschrieb. Aber wenn sie Lebensgefährten sein sollten, würde er das ohnehin bald herausfinden. „Im Büro mag das so sein, aber nicht im Privatleben. Da bin ich nämlich ganz anders.... ”
„Das dachte ich mir schon, als ich deine Reaktion auf die drei Kerle gesehen habe, die sich zu dir an den Tisch gesetzt hatten”, gestand Thomas. „Aber die meisten Menschen sind gar nicht so selbstbewusst, wie sie sich geben. Außerdem wird sich das nach der Wandlung ändern. Die Nanos werden dafür sorgen, dass du immer in bester Verfassung bist. Du wirst dann wissen, du bist ein perfektes Wesen, und das wird dich automatisch selbstbewusster machen.”
Inez bekam nichts von dem mit, was den Worten „nach der Wandlung” folgte, die in ihrem Kopf widerhallten. Als er zu Ende gesprochen hatte, wiederholte sie: „Nach der Wandlung?”
„Wenn du einverstanden bist, meine Lebensgefährtin zu sein, Inez, dann bist du auch damit einverstanden, eine Unsterbliche zu werden, um mit mir gemeinsam das Leben zu verbringen”, erläuterte er ruhig. „Manche Unsterbliche bestehen nicht darauf, ihre Lebensgefährtin zu wandeln, wenn sie das nicht will. Sie verbringen dann gemeinsam die wenige Zeit, die sie haben, weil mehr für sie nicht möglich ist. Aber das werde ich nicht machen. Ich will dich nicht nur vierzig oder fünfzig Jahre an meiner Seite haben, weil es zu schmerzhaft wäre, dich dann zu verlieren. Ich werde darauf bestehen, dass du auch eine Unsterbliche wirst.”
Inez stand nur da und hörte wieder und wieder seine Worte. Sie hatte nicht in Erwägung gezogen, dass er von ihr so etwas verlangen würde. Ihr, der Detailversessenen, war ein Detail entgangen. Genau genommen hatte sie ja nicht mal in Erwägung gezogen, dass es möglich sein könnte. Sie war viel zu begeistert darüber gewesen, einen genau passenden Partner zu bekommen, ohne erst lange prüfen zu müssen, ob er wohl der Richtige war.
Die häufigste Klage, die Inez von früheren Freunden zu hören bekommen hatte, betraf die Tatsache, dass sie ständig arbeitete und kaum Zeit mit ihnen verbrachte. Aber seit sie Thomas begegnet war, hatte sie nicht ein einziges Mal an ihre Arbeit gedacht, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde. Vielleicht hatte sie nur den richtigen Mann benötigt, um sich von ihrem Job ablenken zu lassen, denn darin war Thomas großartig. Aber wenn sie ihn haben wollte, dann musste sie so werden wie er: unsterblich.
Inez dachte darüber nach und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl sein musste, Hunderte von Jahren zu leben.... gemeinsam mit Thomas. Sonderbarerweise hatte die Aussicht auf ein so langes Dasein etwas Abschreckendes an sich, bis sie „gemeinsam mit Thomas” hinzugefügt hatte. Ein wenig abschreckend war es dann zwar auch noch, aber.... Wem wollte sie da eigentlich etwas vormachen, überlegte sie finster. Es war sogar noch mehr als abschreckend. Jahrhundertelang zu leben, mochte sich im ersten Moment fantastisch anhören, aber sofort dachte Inez auch an die damit verbundenen Probleme. Das war der Grund, weshalb sie ihre Arbeit so gut erledigte: Sie machte mögliche zukünftige Probleme aus und tat alles, um diese Probleme zu vermeiden, bevor die überhaupt auftreten konnten.
Und Unsterblichkeit zog eine ganze Menge zu erwartender Probleme nach sich. Thomas’ Art musste sich immer im Verborgenen aufhalten, um von den Sterblichen ringsum nicht bemerkt zu werden. Sie konnte sich vorstellen, dass ihnen dadurch zahlreiche Einschränkungen auferlegt wurden.
Und dann war da auch noch die Tatsache, dass sie zusehen musste, wie ihre ganze Familie älter wurde und nach und nach starb, während sie selbst nicht mal alterte. Sie wusste schon jetzt, dass dies für sie äußerst schwierig werden würde. Auch wenn sie im Augenblick bedingt durch ihre Arbeit von ihrer Familie getrennt war, besuchte sie sie doch, so oft sie konnte. Inez wusste, Schuldgefühle und Hilflosigkeit würden sie heimsuchen, und sie würde in ihrer typischen Art versuchen, die Dinge zu ändern, damit es nicht dazu kam. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass man ihr gestatten würde, ihre ganze Familie zu wandeln.
Und dann erst das mit dem Blut. Inez hatte sich nie für empfindlich gehalten, doch der Gedanke, bis ans Ende ihres Lebens jeden Tag ein paar Blutbeutel trinken zu müssen, hatte etwas Widerwärtiges an sich.
„Inez?”, fragte er so leise, dass sie ihn fast nicht gehört hätte.
Sie betrachtete das verschwommene Gesicht hinter dem Milchglas, und beinah hätte sie geseufzt. Da war dieser wunderschöne Mann mit dem vollkommenen Gesicht und dem vollkommenen Körper und diesen verführerischen silberblauen Augen. Ganz zu schweigen von seinen zärtlichen Küssen und Berührungen. Sie wollte ihn, aber auf die gleiche Art, wie sie einen Eisbecher wollte, nämlich ohne die vielen Kalorien. Bedauerlicherweise gehörte zum Guten auch immer etwas Schlechtes. Aber vielleicht konnte sie ja einen Löffel Eis probieren und dann erst mal in Ruhe überlegen, ob sie den Rest auch noch wollte, wenn er mit so vielen Kalorien verbunden war.
„Ich erwarte nicht von dir, dass du dich sofort entscheidest”, sagte Thomas. „Aber.... ”
Er verstummte, als sie die Tür zur Duschkabine öffnete, sodass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Dabei musste sie sich zwingen, sich nicht in einer Ecke zu verstecken, um ihren viel zu fülligen Körper vor seinen Blicken zu verbergen. „Ich glaube, ich muss dich erst besser kennenlernen, bevor ich eine so wichtige Entscheidung treffe, die mein ganzes Leben verändern wird.”
Seine Augen flammten silbern auf, als sein Blick über ihren Körper wanderte, dann trat er einen Schritt auf sie zu und blieb abrupt stehen, als sie ihre Hand hob, um ihn aufzuhalten. Verwirrt sah er sie an, bis sie erklärte: „Deine Jeans.”
Er sah an sich herab, als hätte er vergessen, dass er eine Hose trug, und griff nach der Gürtelschnalle. Dann jedoch hielt er so lange inne, dass Inez zu glauben begann, er habe es sich anders überlegt und sei nun doch nicht mehr an ihr interessiert. Schließlich hob er den Kopf, streckte den Arm aus und zog Inez an sich, um sie gierig zu küssen. Erleichtert seufzte sie auf und schmolz dahin, während sie die Arme um ihn schlang und seinen Kuss erwiderte. Dann löste er sich von ihr und strich ihr über das nasse Haar, woraufhin sie verdutzt die Augen aufschlug. „Ich will dich”, knurrte er.
Sie nickte, denn sie wollte ihn auch. Unbedingt. Daran gab es keine Zweifel.
„Aber Herb hat mir neue Koordinaten durchgegeben, und wir haben nicht viel Zeit.” Inez verzog enttäuscht den Mund, da ihr klar wurde, dass sie soeben von ihm abgewiesen worden war. Doch er redete weiter: „Ich will nicht, dass unser erstes Mal überhastet abläuft oder dass wir dabei gestört werden, und ich will auch nicht mit meinen Gedanken woanders sein. Es solletwas Besonderes sein, und wir sollten uns Zeit lassen können. Ich will dir all die Aufmerksamkeit und Zeit geben, die du verdienst.”
Inez schluckte und spürte, wie seine Worte sie zu Tränen rührten. Er war so ein rücksichtsvoller Mann.... und zugleich wünschte sie sich fast, er wäre nicht so. Sie wollte keine Rücksichtnahme, sondern heißen, feuchten Sex unter der Dusche. Sie wollte spüren, dass dieser Mann sie genauso begehrte, wie sie ihn begehrte.
„Ich will dir so viel Lust bereiten, dass du gar nicht anders kannst, als zuzustimmen, meine Lebensgefährtin zu werden”, fügte Thomas hinzu und grinste plötzlich so fröhlich, dass sie nicht anders konnte und ebenfalls zu grinsen begann.
Okay, vielleicht hatte er sie ja gar nicht zurückgewiesen. Der Mann plante ihre Verführung so gründlich, wie sie bei der Übernahme eines anderen Unternehmens vorging. Niemand hatte je behauptet, Thomas sei dumm. In diesem Moment hätte sie vermutlich eingewilligt, sich von’ ihm wandeln zu lassen, nur damit er endlich seine Jeans auszog, aber das war vermutlich nicht gerade der klügste Grund für eine so folgenreiche Entscheidung. Sie wollte nicht später bereuen, dass sie Hals über Kopf gehandelt hatte, also beschloss sie, nicht länger zu versuchen, ihn herumzukriegen. Sie würde seine Haltung akzeptieren und Zeit mit ihm verbringen, um ihn besser kennenzulernen, während sie sich über die Vor- und Nachteile Gedanken machen konnte, seine Lebensgefährtin zu werden.... und damit auch unsterblich zu werden. Ihre Überlegungen nahmen ein jähes Ende, als er ihr plötzlich einen Klaps auf den nassen Po gab.
„Dann dusch zu Ende und zieh dich an. Wir müssen los.”
„Ich bin fertig”, erwiderte sie. „Du kannst jetzt duschen, wenn du willst. Das Wasser hat genau die richtige Temperatur.”
„Ja, gute Idee”, erwiderte er, sah sich dann aber suchend um. „Ist gar kein Handtuch hier.”
„Oh.” Sie schüttelte den Kopf über ihre Gedankenlosigkeit. „Die habe ich gestern Abend alle mitgenommen, um deine Wunde zu verarzten. Ich hole schnell welche, und dann bringe ich dir auch eins mit.... ” Sie verstummte, als er sie zurück in die Duschkabine drängte.
„Bleib da, wo es warm ist. Ich hole die Handtücher”, sagte er und drückte die Tür zu.
Inez sah ihm durch das Milchglas nach, als er aus dem Badezimmer lief, und schloss die Augen, während das warme Wasser über ihren Körper floss. Er war wirklich ein aufmerksamer Mann, was sie für sehr wichtig hielt. Natürlich gaben sich die meisten Männer besonders aufmerksam und zuvorkommend, wenn sie eine Frau umwarben. Hatten sie ihr Ziel erst einmal erreicht, ließen die Bemühungen oft merklich nach. Aber selbst wenn Thomas später nur noch halb so rücksichtsvoll sein sollte, war das immer noch deutlich mehr als bei jedem der sterblichen Männer, die sie bislang kennengelernt hatte. Vermutlich konnte sie sich dafür bei Marguerite bedanken.
Damit kehrten ihre Gedanken wieder zu der unauffindbaren Frau und der Suche nach ihr zurück. Thomas hatte beteuert, er habe Inez’ Erinnerung nicht gelöscht, aber irgendjemand hatte genau das getan. Allmählich wuchs bei ihr die Überzeugung, dass da mehr im Argen lag, als alle Beteiligten bislang glaubten. Bisher war Inez immer davon ausgegangen, Marguerite Argeneau sei einfach nur zu beschäftigt, um sich zu melden, weil ihr Fall sie so in Anspruch nahm. Immerhin waren drei Tage ohne Kontakt keine so lange Zeit, und schließlich ging es um ihre Kinder, nicht um einen Ehemann oder Partner. Inez selbst rief ihre Mutter nur einmal in der Woche an, und das meistens am Sonntag, weil dann für Ferngespräche nach Portugal günstigere Tarife galten. Es waren üblicherweise sehr lange Telefonate, und sie versäumte nie, sie anzurufen, aber....
Natürlich mussten sich die Argeneaus keine Gedanken über Telefongebühren machen, trotzdem war Marguerite in Europa unterwegs, während der Rest der Familie sich in Kanada aufhielt, und für Inez wäre es kein Grund gewesen, in Panik zu geraten, nur weil es drei oder vier Tage lang keinen Kontakt gegeben hatte. Selbst wenn sie noch in Portugal leben würde, wäre sie nicht beunruhigt, drei oder vier Tage lang nichts von ihrer Mutter zu hören. Das war bislang ihre Einstellung zu dieser Angelegenheit gewesen, doch mittlerweile fürchtete sie, dass sie damit falschlag.
Die Frau konnte sehr wohl in Schwierigkeiten stecken. Irgendjemand hatte die Kontrolle über ihre Gedanken übernommen und ihre Absicht verhindert, die Nummer von Marguerites Handy zu wählen. Sie bezweifelte, dass Marguerite selbst das getan hatte, also musste jemand anders eingegriffen haben. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, welchen Grund ein Unsterblicher haben sollte, sie an der Suche zu hindern, die einzig dem Zweck diente, in einer besorgten Familie Ruhe einkehren zu lassen.
Plötzlich ging die Tür der Duschkabine auf, und Inez unterbrach ihre Überlegungen, um Thomas dankbar anzulächeln, da er ihr ein Badetuch hinhielt.
„Danke”, flüsterte sie, als sie die Kabine verließ und er das Tuch um sie legte.
„Gern geschehen, Schönheit”, erwiderte er und küsste sie auf die Stirn, dann trat er einen Schritt zurück. „Und jetzt hör auf, so verführerisch dazustehen. Zieh dich lieber an, damit ich duschen gehen kann.”
„Jawohl, Sir”, konterte sie grinsend, als sie an ihm vorbei aus dem Badezimmer ging. An der Tür blieb sie stehen und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. „Du brauchst doch keine Hilfe, um diese blutige Jeans auszuziehen, oder?”
Amüsiert nahm sie zur Kenntnis, wie das silberne Feuer in seinen Augen bei ihrem Vorschlag aufloderte. Dennoch schüttelte Thomas den Kopf und sagte: „Ich glaube, ich werde dich künftig als mein Äpfelchen bezeichnen.”
Inez zog die Nase kraus. „Wieso? Weil ich so klein und rundlich bin?”
„Nein, sondern weil du der Apfel bist, der mir hingehalten wird, um mich in Versuchung zu führen”, erklärte er und fügte ernst hinzu: „Und du bist die Versuchung in Person, Inez, damit du es weißt. Wenn du wüsstest, was ich im Moment alles am liebsten mit dir anstellen würde.... ” Er hielt sekundenlang inne, dann war er offenbar zu dem Entschluss gekommen, es ihr sehr wohl zu erzählen. „Genau jetzt würde ich nichts lieber tun, als dich aus diesem Badetuch zu schälen und jeden Tropfen Wasser von deiner Haut zu lecken, und danach.... ”
„Okay, ich ziehe mich dann wohl besser an”, meinte sie, nachdem sie tief durchgeatmet und einen Blick auf die beachtliche Beule in seiner Jeans geworfen hatte. Wie es aussah, war sie nicht die Einzige, bei der seine Worte Wirkung zeigten.
„Geh schon”, knurrte er in einem Tonfall, der fast nach einer Warnung klang. Inez nickte, wandte sich ab und eilte ins Schlafzimmer. Sie hatte eine Gänsehaut bekommen und vermutete, wenn sie beide erst einmal zusammengekommen waren ob es nun schnell und heftig war oder eine köstliche, langsame Folter , würde sie Mühe haben, ihm anschließend noch irgendeinen Wunsch abzuschlagen. Kopfschüttelnd stellte sich Inez vor den Kleiderschrank und wählte eine Hose und eine weiße Bluse aus. Jeans und T-Shirt standen gar nicht erst zur Debatte, aber das störte sie gar nicht, denn Jeans trug sie prinzipiell nicht, da ihr Hinterteil darin immer viel zu dick wirkte. Und auf T-Shirts verzichtete sie ebenfalls, weil die ihrer Meinung nach ihren großen Busen viel zu sehr betonten.
Sie ließ das Badetuch zu Boden fallen und zog sich rasch an, während nebenan die Dusche lief. Thomas drehte den Wasserhahn zu und wollte die Duschkabine verlassen, als er Inez am Waschbecken stehen sah. Sie bürstete eben ihr noch feuchtes Haar nach hinten, um es zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. Ihm entging nicht, wie sie ihn kurz ansah und ihr Blick dann ein Stück nach unten wanderte. Plötzlich riss sie die Augen auf, wurde rot und drehte sich schnell wieder zum Spiegel.
Er lächelte flüchtig, griff nach dem zweiten Badetuch und wickelte es sich um, damit er Inez nicht noch mehr in Verlegenheit brachte. Ihre Reaktion war verständlich, hatte sie doch einen Blick auf seine beträchtliche Erektion werfen können, die er gern dem Sweet-Ecstasy-Konzentrat zugeschrieben hätte. Doch er wusste, das Zeug hatte längst jegliche Wirkung verloren. Inez’ Wirkung auf ihn hielt dagegen unverändert an. Und nach dem zu urteilen, was er bei den Lebensgefährtinnen seiner Cousins hatte beobachten können, würde diese Wirkung auch niemals nachlassen. Sicherlich würde es in vielen Jahren einmal so sein, dass er sie ansehen konnte, ohne gleichzeitig dieses überwältigende Verlangen nach ihr zu verspüren. Aber auch dann würde er sie immer noch begehren, wenngleich auf eine sanftere, zartere Weise als derzeit.
Momentan konnte er nicht mal an Inez denken, ohne dass sich „der kleine Thomas” zu regen begann, was bisweilen recht lästig sein konnte. „Ich gehe mich anziehen”, sagte er, strich mit den Fingern im Vorbeigehen leicht über ihren Rücken und lächelte zufrieden, als er ihr wohliges Schaudern bemerkte. Das war das Schöne an dieser Situation: Er war nicht der Einzige, der dieses Verlangen verspürte. Er wusste, Inez wollte ihn genauso haben. Er konnte ihre Begierde jedes Mal riechen, wenn er in ihre Nähe kam.
Als er sein Schlafzimmer betrat, klingelte das Telefon auf dem Nachttisch. Er hob den Hörer ab und rief gut gelaunt: „Yo.”
„Thomas?”
Sofort nahm er Bastiens angespannten Unterton wahr und erwiderte verhalten: „Ja.”
„Du musst dich auf den Weg machen und Mutter finden.”
„Wieso? Was ist passiert?”
„Wir haben wieder versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen”, berichtete Bastien ernst. „Bislang hatte keiner von uns damit Erfolg gehabt, aber dann ist Etienne auf die Idee gekommen, es tagsüber zu versuchen, wenn sie schläft und mitbekommen muss, dass es klingelt. Er hat herausgefunden, wann in Amsterdam Sonnenaufgang ist, und eine Viertelstunde später hat er sie angerufen.”
Thomas wartete voller Unbehagen, dass sein Cousin weiterredete. Er wusste, es konnte nichts Gutes folgen. „Diesmal ist der Anruf angenommen worden”, fuhr Bastien fort. „Aber nicht von Mutter, sondern von einem Mann mit britischem Akzent. Er beschimpfte Etienne wegen der vielen Anrufe auf dem Apparat, und er warnte uns, wir sollten damit aufhören. Ansonsten würde er, und jetzt zitiere ich ,das Miststück töten’. Dann legte er auf.”
Vor Wut und Sorge schnappte Thomas nach Luft und begann, mit der freien Hand saubere Kleidung aus seinem Rucksack zu zerren. „Ich ziehe mich gerade an. In drei Minuten bin ich hier raus, und dann werde ich sie aufspüren”, versprach er ernst. Er verzichtete darauf, sich von Bastien zu verabschieden, sondern legte nur kurz den Hörer auf, um ihn sofort wieder abzunehmen und Herb anzurufen. „Ich verlasse jetzt das Hotel”, sagte er ohne Vorrede. „Kannst du bitte die Koordinaten überprüfen und mich anrufen, falls sie sich geändert haben?”
Kaum hatte Herb bejaht, war der Hörer auch schon auf der Gabel gelandet.
„Inez!”, rief er, während er sein Badetuch zur Seite warf und eine frische Jeans anzog.
„Ja?” Sie kam ins Schlafzimmer gelaufen und sah ihn besorgt an.
„Bist du fertig?”, fragte er. „Wir müssen los.”
„Ich bin so weit”, versicherte sie ihm und schob ihre Handtasche über die Schulter. „Was ist geschehen?”
„Etienne hat Tante Marguerite angerufen, und es hat sich jemand gemeldet”, erklärte er und zog sein T-Shirt an. „Irgendein Typ hat damit gedroht, sie umzubringen, wenn wir nicht aufhören, auf dieser Nummer anzurufen. Wir müssen sie finden, bevor er ihr etwas antun kann.”
Inez nickte ernst und sah ihm zu, wie er Strümpfe und Schuhe anzog. „Glaubst du, das ist der Mann, der meine Erinnerung gelöscht hat?”
Thomas sah sie erschrocken an. Ihre Stimme klang so verwundbar, und sie wirkte aufgewühlt, was er ihr nicht verübeln konnte. Es musste ein schlimmes Gefühl sein, wenn man wusste, dass ein anderer die Kontrolle über den eigenen Verstand übernommen und die Erinnerung daran ausradiert hatte. Man konnte ihr alles Mögliche angetan haben, und sie würde niemals wissen, was es war. Thomas stellte sich vor sie, drückte sie an sich und rieb mit der flachen Hand beschwichtigend über ihren Rücken.
„Ich weiß es nicht”, antwortete er leise. „Aber wenn er es ist, dann wird er es bitter bereuen.”