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Es war gerade mal neun Uhr am Abend, doch die Ereignisse des vergangenen Tages waren strapaziös gewesen, und Inez fühlte sich erschöpft. Sie betrat das erste Schlafzimmer der Suite und sah sich neugierig um. Thomas hatte gesagt, Bastien werde ihr Kleidung zum Wechseln ins Hotel liefern lassen, doch bislang hatte sie davon nichts gesehen. Alles war sauber und aufgeräumt, nichts Persönliches lag auf dem Bett oder einem der Stühle. Gerade wollte sie das Zimmer wieder verlassen, da kam ihr der Gedanke, einen Blick in den Schrank zu werfen.
Sie durchquerte den Raum und öffnete die erste Tür, die in ein großes, wunderschönes Badezimmer führte. Ihr fielen sofort die zahlreichen Toilettenartikel auf, die auf der marmornen Ablage aufgereiht standen, und sie betrat den Raum, um sich das genauer anzusehen. Sie entdeckte drei Lippenstifte in verschiedenen Farbtönen sowie eine Fülle an Kosmetika und Pinseln, Bürsten und anderen Dingen, von denen ihr mindestens die Hälfte völlig unbekannt war. Inez hatte sich nie viel mit Makeup beschäftigt, etwas Gesichtspuder, Lippenstift, ein wenig Rouge, und das war es auch schon. Auf Eyeliner und Lidschatten griff sie nur selten zurück, zumindest nicht im Büro. Trotzdem stand hier alles zur Auswahl, was sie sich nur wünschen konnte.
Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und öffnete den Schrank, dessen Anblick sie nach dem Angebot im Bad nicht mehr so sehr überraschte. Auf den Bügeln fand sich die ganze Bandbreite dessen, was sie möglicherweise benötigen würde, auch einige Nachthemden und ein Morgenmantel. Ein paar Stichproben ergaben, dass alles ihre Größe hatte. Auch die Schuhe deckten jeden denkbaren Anlass ab, reichten sie doch von Sportschuhen bis zu High Heels.
Kopfschüttelnd schloss sie die Schranktüren und zog die oberste Schublade der Kommode gleich neben dem Bett auf. Wie nicht anders zu erwarten, fand sie dort eine reichhaltige Auswahl an Slips, BHs, Strümpfen und Söckchen vor. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, nach den Größen zu sehen, weil sie wusste, es würde alles wie angegossen passen.
Bastien Argeneau war ein Mann, der ein Auge für Details besaß. Es hätte sie nicht gewundert zu erfahren, dass er von all seinen Mitarbeitern sämtliche relevanten Körpermaße und Farbvorlieben irgendwo notiert hatte. Oder aber er hatte jemanden aus der Firma zu ihrem Vermieter geschickt, damit der ihre Wohnung aufschloss, um ihre Kleidergröße feststellen zu lassen.
Wieder konnte sie nur den Kopf schütteln. Hier war genug Kleidung für einen zweiwöchigen Urlaub vorhanden, und selbst dann hätte sie nicht jedes Teil anziehen können. Andererseits wusste sie aus Erfahrung, dass die Argeneaus keine halben Sachen machten.
Seufzend ließ sie sich auf die Bettkante sinken und lehnte sich zurück, bis sie mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag. Sie war erschöpft, aber auch verärgert. Die Kleidung und die Kosmetika hatten ihre Laune nicht bessern können, da sich Bastien beharrlich geweigert hatte, ihr das zu erklären, was Thomas ihr auch nicht sagen wollte. Er entgegnete nur, Thomas werde es ihr schon darlegen, wenn er dazu bereit sei. Nach seiner Reaktion auf ihre Frage zu urteilen, würde es aber wohl noch eine ganze Weile dauern, bis dieser Zeitpunkt gekommen war.
Inez verzog den Mund. Sie war kein besonders geduldiger Mensch, und es gab für sie kaum etwas Schlimmeres, als über irgendeine Sache im Unklaren gelassen zu werden erst recht in einer Angelegenheit wie dieser, von der sie glaubte, dass sie für sie von großer Bedeutung war. Plötzlich bemerkte sie ein dumpfes Klopfen, das aus dem Nebenzimmer zu kommen schien. Sie stand auf und kehrte in den ersten Raum der Suite zurück, in den sie vom Korridor aus gelangt waren. Thomas stand am Tisch mit der Kühlbox darauf, er hatte Inez den Rücken zugewandt und die Schultern hochgezogen, während er sich anhörte, was Bastien ihm übers Telefon zu sagen hatte, und nebenbei Stichpunkte notierte.
Ihr Blick wanderte zur Tür, da das dumpfe Klopfen dort seinen Ursprung hatte, dann sah sie wieder Thomas an. Falls der davon überhaupt etwas mitbekommen hatte, schien es ihn nicht zu interessieren, dass jemand anklopfte. Stattdessen unterhielt er sich in einem zischenden Ton mit Bastien, sodass sie kein Wort verstand.
Aus Sorge, Bastien könnte schlechte Neuigkeiten über Marguerite zu berichten haben, ging sie zur Tür, damit das hartnäckige Klopfen ein Ende nahm. Ansonsten war zu befürchten, dass die anderen Hotelgäste ihnen den Sicherheitsdienst auf den Hals hetzen würden. Sie öffnete die Tür nur einen Spaltbreit, damit niemand den leeren Blutbeutel zu sehen bekam, schließlich wollte sie ja nicht das Zimmermädchen in helle Aufregung versetzen. Der Mann, der im Flur stand, war aber bereits in heller Aufregung. Sein Gesicht verriet eine Mischung aus, Sorge, Schrecken und Erleichterung, als er Inez entdeckte.
„Ja?”, fragte sie und wurde gleich etwas ruhiger, als sie das Logo A.B.B, auf seiner schwarzen Nylonjacke bemerkte. Das gleiche Logo war auf einer Kühlbox zu erkennen, die er in der Hand hielt und die der in der Suite zum Verwechseln ähnlich sah. A. B. B., die Abkürzung für Argeneau Blood Bank, war eine Untergesellschaft von Argeneau Enterprises, über die sie kaum etwas wusste. Bislang war immer alles so arrangiert worden, dass sie mit A. B. B. keinen Kontakt aufnehmen musste, aber mit dem heutigen Tag war ihr der Grund dafür klar.
Sie sah dem Mann ins Gesicht, als er zu reden begann. „Hallo, mevrouw. Het spijt mij verschrikkelijk, maar....”
Er verstummte, als sie verständnislos den Kopf schüttelte und ihn unterbrach. „Tut mir leid, aber ich kann Sie nicht.... ”
„Ah, Sie sind Engländerin!” Der Mann nickte eifrig. „Mir ist ein Fehler unterlaufen. Ich habe hier vorhin eine Kühlbox mit Blut abgeliefert.”
„Die haben Sie aber nicht zufällig am Empfang abgegeben, oder?”, fragte sie neugierig, während sie überlegte, wie man wohl erklären würde, dass ein Gast eine Lieferung Blutkonserven erwartete.
Der Mann stutzte, da er offenbar nicht mit dieser Frage gerechnet hatte, dann aber antwortete er wahrheitsgemäß: „Nein, natürlich nicht. Ich habe nach der Zimmernummer gefragt, bin nach oben gefahren und habe ein Dienstmädchen abgepasst, damit es mir die Tür öffnet. Aber mir ist ein Fehler unterlauf.
„Gedankenkontrolle?”, unterbrach Inez ihn. Fragend sah er sie an.
„Haben Sie das Zimmermädchen mit Gedankenkontrolle dazu gebracht, Ihnen die Tür aufzuschließen?”, präzisierte sie ihre Frage.
„Ach so, ja.” Der Mann wirkte allmählich leicht gereizt. „Aber ich habe die falsche Kühlbox abgestellt. Die war für den Night Club bestimmt.”
„Den Night Club?”, hakte sie interessiert nach.
Der Mann gab keinen Ton von sich, sondern sah sie nur eindringlich an. Überrascht stutzte Inez, als sie ein seltsames Gefühl in ihrem Kopf wahrnahm. Es war so schwach, dass es ihr gar nicht aufgefallen wäre, hätte sie nichts über Unsterbliche und ihre Fähigkeiten gewusst.
„Sie lesen meine Gedanken”, warf Inez ihm vor, dann runzelte sie die Stirn. „Aber Thomas kann meine Gedanken nicht lesen.”
Ganz gleich, was er in ihrem Kopf entdeckt haben mochte, der Mann wurde sichtlich ruhiger, lächelte und erwiderte: „Der Glückspilz.”
„Wieso Glückspilz?”, fragte sie verhalten.
„Na, wieso denn nicht? Der Mann hat seine Lebensgefährtin gefunden.”
„Lebensgefährtin?”, wiederholte sie gedehnt. Sie hatte das Wort schon einmal gehört, und als der Mann es jetzt ausgesprochen hatte, fiel ihr ein, dass es bei dem Telefonat gefallen war, das Thomas mit Bastien führte, während sie sich im Badezimmer des Dorchester eingeschlossen hatte. Sie legte den Kopf schräg. „Wenn er mich nicht lesen kann, bedeutet das, ich bin seine Lebensgefährtin?”
„Ja”, sagte er und wurde stutzig. „Hat er Ihnen das nicht erklärt?”
„Nein”, räumte sie ein und sah zu Thomas, der noch immer in sein Telefonat vertieft war. „Können Sie das?”, fragte sie dann den Lieferanten.
Er zögerte kurz. „Eigentlich sollte er Ihnen das erklären.” Dieser Vorschlag gefiel Inez gar nicht, da sie wusste, Thomas wollte es nicht erklären. „Außerdem bin ich nur hier, um die Boxen auszutauschen. Der Night Club wartet bereits auf die Lieferung. Die werden auch so schon sauer genug sein.”
Inez musterte ihn stumm, als ihr auf einmal klar wurde, dass sie etwas hatte, was er haben wollte. Die Kühlbox gegen eine Antwort. Ganz einfach! Bevor sie aber etwas sagen konnte, kniff er die Augen zusammen und raunzte sie an: „Notfalls befehle ich Ihnen einfach, mir aus dem Weg zu gehen, damit ich meine Box bekomme!”
Sie erschrak, als ihr klar wurde, dass er offensichtlich erneut ihre Gedanken gelesen hatte, was ihr diesmal aber nicht aufgefallen war. Sie überlegte kurz und fragte: „Können Sie Thomas auch kontrollieren?”
Als er zögerte, fuhr sie fort: „Ich bin die Vizepräsidentin des britischen Zweigs von Argeneau Enterprises, wir koordinieren alle europäischen Geschäfte. Genau genommen bin ich Ihr Boss.”
Ein anerkennendes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Sie kommen aber schnell zur Sache.”
„Man wird auch nicht Vizepräsidentin, indem man lange um den heißen Brei herumredet”, meinte sie mit einem Schulterzucken und wartete dann nervös ab, ob er seine Drohung wahr machen würde oder nicht und ob er ihre Frage beantwortete.
Zu ihrer Erleichterung lachte er leise. „Okay. Wenn Sie mir garantieren, dass ich deswegen keinen Ärger bekomme, dann bin ich dabei. Das könnte interessant werden.”
Inez strahlte den Mann vor Dankbarkeit und Erleichterung an, dann nickte sie bestätigend. „Einverstanden, ich werde mit Ihrem Chef reden. Und jetzt erklären Sie mir, was eine Lebensgefährtin ist.”
Er nahm die Kühlbox in die andere Hand. „Eine Lebensgefährtin ist genau das, was der Name besagt. Ein Partner fürs Leben, der eine, der zu einem passt und mit dem man glücklich sein kann.”
Inez ließ sich seine Erklärungen durch den Kopf gehen. „Und wenn man jemanden nicht lesen kann, dann erkennt man daran, dass er dieser Lebensgefährte ist?”
„Ja, außerdem fangen wir auch wieder an, ganz normal zu essen. Aber das wichtigste Merkmal ist, dass man ihn nicht lesen und ihn nicht kontrollieren kann.” „Wieso?”
„Wir können die meisten Sterblichen lesen und kontrollieren. Oder besser gesagt: alle Sterblichen.” „Alle Sterblichen?”
„Ja. Bis auf den Lebensgefährten eben”, gab er wie selbstverständlich zurück. „Manche erfahren das nur einmal in ihrem Leben, andere haben das Glück, einen neuen Lebensgefährten zu finden, wenn sie den ersten durch irgendwelche Umstände verlieren. Aber dazwischen liegen normalerweise viele Jahrhunderte, die man allein verbringen muss. Das ist nicht gerade ein schlimmer Zustand, aber glücklich ist man während dieser Zeit auch nicht. Jeder braucht jemanden, mit dem er die Jahrhunderte verbringen kann, jemanden, mit dem man Freud und Leid teilen kann.”
„Das heißt also”, sagte sie nachdenklich, „dass Thomas mich zwar nicht kontrollieren kann, jeder andere Unsterbliche dazu aber in der Lage ist, richtig?”
Der Mann nickte. „Ich könnte dafür sorgen, dass Sie den Mund halten und zur Seite gehen. Und wenn ich wieder weg bin, würden Sie sich nicht mal an meinen Besuch erinnern.” Der bloße Gedanke ließ sie schaudern, war sie doch jemand, der ständig die Kontrolle über eine Situation haben wollte. „Ja, das habe ich schon bei Ihnen festgestellt”, meinte der Mann grinsend. „Sie haben ein Problem damit, wenn jemand anders die Kontrolle hat.”
Inez verzog mürrisch den Mund, da er sie immer noch las und sie trotzdem nichts davon merkte. „Hören Sie bitte auf, meine Gedanken zu lesen.”
„Tut mir leid”, erwiderte er, klang jedoch nicht sehr überzeugend. „Aber genau darauf will ich ja hinaus. Wenn Thomas das bei Ihnen machen könnte.... na ja, dann könnte man wohl kaum von einer gleichberechtigten Beziehung reden, nicht wahr? Selbst wenn ein Unsterblicher es nicht will, wird es für ihn schwierig sein, der Versuchung zu widerstehen, wenn er etwas will, was Sie nicht wollen. Solche Beziehungen sind nie von langer Dauer. Ein Unsterblicher braucht jemanden, den er weder lesen noch kontrollieren kann, und im Gegenzug darf dieser Jemand auch nicht in der Lage sein, ihn zu lesen oder zu kontrollieren. Nur so kann ein Unsterblicher abschalten und muss nicht unentwegt auf der Hut sein.”
„Auf der Hut wovor?”, fragte sie neugierig.
„Unsterbliche können oftmals auch andere Unsterbliche lesen. Es geht nicht so leicht, wenn der andere älter ist, aber wenn der sich durch irgendetwas ablenken lässt, dann kann sogar ich ihn lesen. Um das zu verhindern, errichten wir eine Art Schutzwall um unseren Verstand, der konstant vorhanden ist. Nur wenn man daheim ist und eine Lebensgefährtin hat, kann man sich entspannen und muss sich keine Sorgen machen, wer sich vielleicht gerade bei einem im Kopf umsehen will.”
„Dann ist es also besser, einen Lebensgefährten zu haben, der einen nicht lesen kann”, folgerte sie, fügte jedoch hinzu: „Aber nur weil diese eine Sache ausgeschlossen ist, garantiert das doch noch keine glückliche Beziehung. Ich meine, derjenige, der mein Lebensgefährte sein soll, könnte doch gar nicht zu mir passen. Was ist, wenn man mit dessen Persönlichkeit einfach nicht klarkommt?”
„So was gibt es nicht”, antwortete der Mann wie selbstverständlich. „Wenn Lebensgefährten sich finden, dann passen sie auch zueinander.”
Inez runzelte angesichts dieser Behauptung die Stirn und wandte ein: „Aber das kann doch nicht sein, dass das so einfach geht.”
„Doch, es ist so einfach.” Als sie daraufhin skeptisch die Lippen schürzte, versicherte er ihr: „Ich bin zwar erst hundert, aber ich habe noch nie gehört, dass zwei Lebensgefährten nicht miteinander ausgekommen sind. Natürlich gibt es schon mal die eine oder andere Meinungsverschiedenheit, aber ansonsten sind die beiden wie füreinander geschaffen.”
„Wie kann denn so etwas möglich sein?”, wunderte sie sich.
„Das weiß ich nicht”, räumte der Mann ein, klang deswegen aber nicht etwa besorgt. „Vielleicht erkennen die Nanos etwas in dem anderen Individuum, das ihren Unsterblichen ergänzt und so für ein glückliches Leben sorgt. Oder Gott schafft einen perfekten Gefährten für jedes Individuum und lässt die beiden zusammenfinden. Ich habe keine Ahnung, aber ist das denn so wichtig? Warum soll man etwas infrage stellen, das doch funktioniert?”
„Sie glauben an Gott?”, fragte sie erstaunt. „Sie nicht?” Unbewusst griff Inez nach dem Goldkreuz an ihrer Halskette, was ihn zum Lächeln brachte.
„Wenn das dann alle Fragen waren”, sagte er, „hätte ich jetzt gern die Kühlboxen getauscht.”
Sie nickte seufzend. „Warten Sie, ich hole sie her.”
Als sie sich von der Tür abwandte und zum Tisch ging, jagten tausend Fragen durch ihren Kopf, doch zunächst musste sie in Ruhe nachdenken, bevor sie die auch stellen konnte. Und wenn sie dann endlich jemanden fragte, sollte dieser Jemand Thomas sein. Sie wusste fürs Erste genug. Thomas konnte sie nicht lesen, also waren sie beide Lebensgefährten. So einfach war das.
Bei genauer Betrachtung war das sogar die perfekte Lösung für eine Frau, die keine Zeit für ein Privatleben hatte, überlegte Inez, während sie nach der Kühlbox griff. Im gleichen Moment hatte er sein Telefonat beendet, doch gerade als sie ihn über die Verwechslung aufklären wollte, klingelte sein Mobiltelefon schon wieder, und er nahm den Anruf prompt an. Schulterzuckend hob sie den Blutbeutel auf, der zu Boden gefallen war, und legte ihn zurück in die Box. Dann fiel ihr der leere Beutel auf dem Tisch auf. Sie würde ihr Versprechen halten und mit dem Chef des Boten reden, damit der wegen des fehlenden Beutels keinen Ärger bekam.
„Bedauerlicherweise hat Thomas bereits einen Beutel ausgetrunken”, ließ sie ihn wissen, als sie die Kühlboxen tauschten.
„Ich hoffe, das ist kein Problem für Sie.”
Er zog die Augenbrauen hoch und begann ausgesprochen dreckig zu grinsen. „Für mich nicht”, gab er zurück. „Aber auf Sie wartet eine höllische Nacht.”
Thomas kehrte hastig zum Tisch zurück, um die aktuellen Koordinaten zu notieren, die Herb herausgefunden hatte. Er bedankte sich, klappte das Telefon zu und drehte sich in dein Moment zu Inez um, als sie die Tür zur Suite schloss. Er hatte sie mit jemandem reden hören und auch mitbekommen, dass sie zum Tisch und dann wieder zur Tür gegangen war, aber er war zu sehr auf seine Telefonate mit Bastien und anschließend mit Herb konzentriert gewesen, um bewusst wahrzunehmen, was um ihn herum vor sich ging. Es war ihm sogar zu viel gewesen, erneut mit Bastien reden zu müssen. Er hatte auch so genug um die Ohren, da musste der ihn nicht noch alle fünf Minuten anrufen.
Allerdings meldete sich Bastien nur so oft, weil er in Sorge um Marguerite war, ansonsten hätte Thomas ihm längst die Meinung gesagt. Gerade hatte er aufgelegt, da meldete sich Herb, um die aktualisierten Koordinaten für das Mobiltelefon durchzugeben. Es war wieder ganz in der Nähe, also musste Marguerite oder zumindest ihr Telefon irgendwo in Amsterdam unterwegs sein. Die Position sollte auf gut fünfzehn Meter genau sein, was hoffentlich genügte, um Marguerite ausfindig zu machen, sofern sie in der Zwischenzeit nicht schon wieder ihren Standort verändert hatte. Je eher er die genannte Position aufsuchte, umso größer waren die Chancen, seine Tante dort anzutreffen. Also mussten sie sich umgehend auf den Weg machen.... „Oh, Sie haben ja zu Ende telefoniert.”
Thomas sah zu Inez und bemerkte ihre katzenhafte Eleganz, als sie den Raum durchquerte und zu ihm kam. Sie war zierlich, kurvig, und sie lächelte verführerisch. Ihre Lippen brachten einen Mann auf Ideen.... Als er bemerkte, dass er sich ablenken ließ, brummte er: „Wer war an der Tür?”
„Der Lieferfahrer von A. B. B.”, antwortete sie. „Er meinte, er habe die falsche Kühlbox hier abgegeben. Was Sie bekommen haben, war für den Night Club. Ich habe ihm die falsche Box gegeben und die richtige erhalten.”
„Ich hoffe, Sie haben ihm gehörig den Kopf gewaschen”, murmelte Thomas und warf einen Blick in die neue, identisch aussehende Kühlbox, in der mehrere Beutel mit ganz normallem Blut lagen. Eine Lieferung A positiv, weiter nichts.
„Den Kopf gewaschen?”, wunderte sich Inez. „Warum denn das? Ist das Blut so anders als das, was er irrtümlich abgegeben hatte?”
„Oh ja, das kann man wohl sagen.” Er nahm einen Beutel aus der Box, im gleichen Moment glitten seine Reißzähne heraus. Er vermutete, dass sein Speichelfluss sich ebenfalls verstärkte, so wie bei Hunden, wenn sie sahen, dass ihnen ihr Fressen gebracht wurde.
Inez warf einen interessierten Blick in die Kühlbox, sah aber genau in dem Augenblick hoch, da er den Mund aufmachte und in den Plastikbeutel biss. „Ihre Reißzähne sind gar nicht immer da”, stellte sie überrascht fest. „Ich konnte gerade noch sehen, wie sie aus Ihrem Oberkiefer hervorgekommen sind.”
Thomas erwiderte nichts, da er bereits das Blut aus dem Beutel saugte. Allerdings fragte er sich, wieso ihr das nicht schon zuvor aufgefallen war, immerhin wäre es für einen Unsterblichen wohl kaum möglich gewesen, unbemerkt zu bleiben, wenn er ständig mit diesen Zähnen zu kämpfen hätte. „Dann müssen Sie das Blut gar nicht schmecken?”, fragte sie neugierig.
Er schüttelte den Kopf, während sich seine Nasenflügel aufblähten, da Inez näher gekommen war und er ihren Geruch wahrnahm. Verdammt, im Hotel in London hatte er den Duft noch als verlockend empfunden, doch jetzt war er davon regelrecht berauscht. Er verfluchte den Boten mit der falschen Kühlbox, aber er verfluchte auch sich selbst, weil er sich nicht die Zeit genommen hatte, erst einen Blick auf das Etikett zu werfen.
„Das ist gut”, verkündete Inez und riss ihn aus den Gedanken. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Blut gut schmeckt.”
Thomas starrte sie weiter an, während er so viel wie möglich von ihrem Duft zu inhalieren versuchte. Seine Haut kribbelte leicht, und er konnte die Wärme spüren, die ihr Körper abstrahlte. Er wollte ihr näher sein, also.... ging er einen Schritt nach hinten. Das würde für ihn eine Tortur werden, das wusste er schon jetzt. Er musste auf Distanz zu ihr gehen.
„S. E.K.”, las Inez von dem Etikett des leeren Blutbeutels ab, der auf dem Tisch gelegen hatte. Dieses Kürzel, das in großen, leuchtend roten Buchstaben auf dem Etikett geschrieben stand, war das einzige Merkmal, das diesen Beutel von den später gelieferten, richtigen Konserven unterschied. Aber er hatte sich nicht die Zeit genommen, auf das Etikett zu achten, sondern einfach in den erstbesten Beutel gebissen, der ihm in die Finger geraten war. Nur durch Bastiens Anruf war er davon abgehalten worden, sofort noch einen zweiten Beutel zu trinken und stattdessen einen Blick auf den Aufkleber zu werfen.
„Wofür steht S. E.K.?”, fragte sie, als er den leeren Beutel von seinen Zähnen zog.
„Sweet-Ecstasy-Konzentrat”, brummte er und griff nach dem nächsten Beutel, noch bevor sie fragen konnte, was das war. Er wusste, sie würde es nachholen, sobald er diese Konserve geleert hatte, aber er beabsichtigte nicht, es ihr zu sagen. Er kam sich wie ein Idiot vor, dass ihm ein Fehler unterlaufen war. Und ausgerechnet ein solcher Fehler! In seinem Körper befand sich jetzt der komplette Inhalt eines Beutels Sweet Ecstasy, und als sich Inez ihm wieder näherte und ihm prompt der Schweiß ausbrach, da wusste er, die Wirkung hatte bereits eingesetzt. Der erste Beutel wurde nun von seinem Körper verwertet, und dann würde es nicht mehr lange dauern, bis er die allergrößte Mühe haben würde, die Finger von Inez zu lassen, wenn er nicht von hier verschwand, bis die Wirkung nachgelassen hatte.
Sein Blick wanderte über ihren Körper, der noch in derselben zerknitterten Bluse und Hose steckte, da sie beides früh am Morgen in aller Eile angezogen hatte, um auch ja rechtzeitig am Flughafen zu sein, damit sie ihn abholen konnte. Sie sah noch immer genauso verlockend aus, und es kostete ihn große Überwindung, eben nicht darauf zu achten, wie sich der seidige Stoff der Bluse bei jedem Atemzug über ihren Brüsten spannte. Es war nur eine winzige Bewegung des Stoffs, dennoch nahm er sie wahr, als wäre er in einer Peepshow gelandet.
Er schüttelte flüchtig den Kopf und entschied, dass er schnellstens etwas benötigte, womit er sich ablenken konnte. Den freien Arm schob er durch einen der Tragegurte des Rucksacks, mit der anderen Hand nahm er zwei weitere Blutkonserven aus der Kühlbox, dann verließ er den Raum und machte sich auf die Suche nach seinem Schlafzimmer. Die Tür zum ersten Schlafzimmer stand offen, das Licht brannte, und auf dem Bett lag Inez’ Handtasche, also ging er weiter zum nächsten Raum. Der war in Dunkelheit getaucht, aber er machte sich nicht die Mühe, erst noch das Licht einzuschalten. Stattdessen warf er zunächst den Rucksack aufs Bett und legte die Blutbeutel auf den Nachttisch, dann erst schaltete er das Licht ein. Zu seiner Erleichterung war Inez ihm nicht bis hierher gefolgt.
Mit dem Fuß stieß er die Tür zu und musste dann feststellen, dass der Beutel, aus dem er bis gerade eben noch getrunken hatte, inzwischen leer war. Er legte ihn weg und suchte in seinem Rucksack nach einem sauberen Hemd und einer neuen Jeans. Seit seinem Abflug aus Kanada hatte er nicht mehr geduscht, und das konnte er jetzt gut nachholen, während er die beiden nächsten Blutkonserven trank. Anders würde er das nicht durchstehen. Er musste hier raus und nach Marguerite suchen.
Thomas nahm Jeans und Hemd sowie die Beutel mit ins Badezimmer, betrat die Duschkabine, drehte das Wasser auf und stellte die richtige Temperatur ein. Er zog sich aus und entschied, Inez nichts davon zu sagen, wohin er wollte. Stattdessen würde er die Tür benutzen, die von seinem Schlafzimmer aus direkt in den Korridor führte. Es war einfach zu gefährlich, sie im Augenblick in seine Nähe zu lassen, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass es ihr so früh in ihrer Beziehung gefallen würde, von ihm förmlich besprungen zu werden. Auch wenn er wusste, dass sie seine Lebensgefährtin war, hatte sie davon aber keine Ahnung, und wenn er gleich am ersten Abend über sie herfiel, würde das ihrer Beziehung sehr wahrscheinlich ein jähes Ende bereiten.
Er ignorierte seine Erektion und drückte stattdessen den nächsten Blutbeutel an seine Zähne, dann stellte er sich unter die Dusche. Es war die perfekte Ironie, dachte er, als das Wasser über seinen nackten Körper strömte. Es war die Rache dafür, dass er seinerzeit Rachel und Etienne im Night Club unbemerkt Sweet Ecstasy untergeschoben hatte, als die beiden sich gerade erst näher kennenlernten. Er verdiente jeden Augenblick, den er jetzt dafür leiden musste.
Zu schade, dass das Schicksal nicht so gnädig gewesen war, Inez auch etwas Sweet Ecstasy zukommen zu lassen, dann hätte er nicht allein leiden müssen.... vorausgesetzt, er konnte ihr aus dem Weg gehen. Das warme Wasser strich wie eine zärtliche Berührung über seine Erektion, und er wandte sich stöhnend wieder der Brause zu. Ja, der erste Blutbeutel zeigte jetzt eindeutig Wirkung, und es würde sehr rasch nur noch heftiger werden. Er duschte kurz, dann zog er sich in aller Eile an und verließ die Suite durch sein Schlafzimmer, damit er in seiner Verfassung Inez nicht noch einmal zu Gesicht bekam. Die von Herb mitgeteilten Koordinaten hatte er zwar auf dem Tisch liegen lassen, aber er brauchte sie eigentlich nicht, weil er sich genau an die Daten erinnern konnte.
Inez hörte, wie in Thomas’ Badezimmer die Dusche angestellt wurde. Offenbar würde sie vorläufig noch keine Antworten von ihm erhalten. Ungeduldig ging sie zum Fenster und stellte verwundert fest, dass vor dem Gebäude eine Art Kanal verlief. Während sie nach draußen sah, ließ sie sich durch den Kopf gehen, was der Blutkurier ihr gesagt hatte. Ein Lebensgefährte war ein Partner fürs Leben, jemand, der zu einem passte und mit dem man glücklich sein konnte.
Wieder dachte sie über diese Worte nach. Ein Partner fürs Leben.... jemand, mit dem man glücklich sein konnte. Das war sie für Thomas.... und das musste er ja wohl auch für sie sein.... ein Partner fürs Leben.... ein besonderer Mensch, ausgewählt von den Nanos oder von Gott oder irgendeiner anderen mysteriösen Macht. Sie waren füreinander ausgesucht worden, und das war auch schon alles. Sie waren sich begegnet, er hatte sie gebissen und versucht, sie zu lesen, und als das nicht funktionierte, bedeutete es, dass sie beide Lebensgefährten waren.
Sie wusste nicht, ob sie vor Freude Purzelbäume schlagen oder wie ein verängstigtes Häschen nach England zurückkehren sollte. Einerseits war es wie ein Wirklichkeit gewordener Traum, nein, nicht bloß wie ein Traum, sondern für sie war tatsächlich ein Traum Wirklichkeit geworden. Schließlich hatte sie sich den ganzen Tag über ausgemalt, wie es sein würde, von der Arbeit nach Hause zu kommen und von diesem Mann begrüßt zu werden. Wer hätte nicht eine solche Gelegenheit beim Schöpf gepackt? Thomas sah gut aus, er war intelligent und so unglaublich rücksichtsvoll.... ganz zu schweigen davon, dass er gefährlich sexy aussah.
Aber es hatte auch etwas Beängstigendes. Immerhin war der Mann intelligent, gut aussehend und sexy, während sie.... einfach nur sie selbst war. Von leicht unterdurchschnittlicher Größe, ein paar Kilo mehr auf den Hüften, als eine Frau nach den aktuellen Maßstäben haben durfte, wenn sie als attraktiv angesehen werden wollte. Ihre Nase war eine Idee zu spitz, um hübsch zu sein, die Wangen etwas zu rundlich, das Haar zu widerspenstig.... Natürlich war das die körperliche Seite. Inez fürchtete, sie würde nicht das Aussehen vorweisen können, um einen Mann wie ihn an sich zu binden. Andererseits war da die Tatsache, dass er intelligent war und rücksichtsvoll und.... und das war eigentlich auch alles, was sie über ihn wusste. Genau genommen kannte sie ihn gar nicht.
Sie wusste nichts über seine Vorlieben und Abneigungen. Sie hatte keine Ahnung von seinen Interessen, sie konnte nicht sagen, ob und wie ehrgeizig er war. Aber wenn sie dem Boten Glauben schenkte, dann war das alles unwichtig. Sie waren Lebensgefährten, sie sollten ihr Leben gemeinsam verbringen, und alles andere würde sich schon finden.
Es war eine wirklich verlockende Vorstellung: ein Lebensgefährte, mit dem man die schönen und die schlechten Dinge des Lebens teilen konnte, jemand, zu dem man nach Hause kommen, dem man sich anvertrauen konnte. Ein Geliebter, ein Freund und ein Partner. Nie wieder würde sie sich einsam fühlen. Zugegeben, das kam schon jetzt nur selten vor, weil sie meistens viel zu beschäftigt war, um sich einsam zu fühlen. Aber sie war weit von ihrer Familie entfernt, und bei den seltenen Gelegenheiten, da sie etwas Zeit für sich hatte, wurde ihr jedes Mal sehr deutlich, wie allein und einsam sie war. Mit Thomas als ihrem Lebensgefährten würde das nie wieder der Fall sein. Und wenn es stimmte, was dieser Bote gesagt hatte, dann war das Beste an allem, dass es sich nicht nach einer Weile als Fehler entpuppen konnte. Er würde nicht auf einmal der falsche Mann für sie sein, und sie würde nicht irgendwann versuchen, sich aus einer hässlichen Beziehung zu befreien. Wenn er sie nicht lesen konnte, war sie seine Lebensgefährtin, und Lebensgefährten kamen miteinander aus. Punkt.
Es war fast zu schön, um wahr zu sein. So wie Eiscreme ganz ohne Fett oder Schokolade, die keine Kalorien hatte. Es war das Wunderbarste, das ihr in ihrem Leben widerfahren war, und sie wollte unbedingt daran glauben. Sie wollte Thomas haben. Noch nie hatte sie sich so sehr zu einem Mann hingezogen gefühlt wie zu ihm. Üblicherweise musste sie einen Mann erst einmal kennenlernen und ihn sympathisch finden, bevor sie mit ihm irgendwelche romantischen Gedanken verband. Aber bei Thomas.... nachdem er ihr das Bad eingelassen und ein Frühstück aufs Zimmer bestellt hatte, um ihr zu beweisen, dass er sie nicht absichtlich übergangen hatte.... bereits da war es um sie geschehen gewesen.
Gut aussehend und auch noch zum Anbeißen verlockend? Großer Gott, dieser Mann war wie ein wandelnder Becher Schokoladeeis mit Sahne. Er war unwiderstehlich, und so wie es aussah, gehörte er ihr ganz allein. All ihre Träumereien, von ihm an der Haustür empfangen zu werden, wenn sie von der Arbeit heimkehrte, wie er sie küsste und sie auszog, um sie zu lieben all das war mit einem Mal zum Greifen nah, und diese Vorstellung ließ ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. Plötzlich konnte sie es kaum noch erwarten, dass er endlich aus dem Badezimmer kam. Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, bis er an dem leeren Blutbeutel hängen blieb.
„Auf Sie wartet eine höllische Nacht”, hatte der Bote gesagt, und die Erinnerung an sein Grinsen ließ sie stutzig werden. Irgendetwas musste anders sein mit dem Blut, das er versehentlich zuerst geliefert hatte. Thomas hatte gesagt, dass S. E.K. für Sweet-Ecstasy-Konzentrat stand. Aber was bedeutete das? Sie wünschte, er hätte es ihr erklärt, bevor er sich in sein Zimmer zurückzog. Jetzt war ihre Neugier fast übermächtig, und sie wünschte, sie hätte den Boten nach der Bedeutung gefragt.
Würde sie doch jemanden kennen, der es ihr sagen konnte.... Auf einmal kam ihr ein Gedanke, und sie lief in ihr Schlafzimmer, um ihr Handy aus der Handtasche zu holen. Sie tippte die Kurzwahl für das Büro ein und wartete. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich die Zentralle, und sie ließ sich mit Wyatt verbinden.
„Ms. Urso”, hörte sie die überraschte Stimme seiner Sekretärin. „Ich dachte, Sie sind nach Amsterdam geflogen, um Mr. Argeneaus Cousin zu helfen.”
„Das bin ich auch, weil ich von Amsterdam aus anrufe”, entgegnete sie ruhig. „Ist Wyatt da?”
„Ja, natürlich. Einen Augenblick.”
Inez ging im Zimmer auf und ab, während sie wartete. Als sie hörte, dass sie durchgestellt worden war, blieb sie stehen.
„Inez! Wie ist es in Amsterdam?”, fragte Wyatt Kenric, Inez’ unmittelbarer Vorgesetzter, freundlich.
„Gut, sehr gut”, antwortete sie und schüttelte den Kopf, als sie darüber nachdachte, dass dieser gut gelaunte Mann auch ein Unsterblicher war.... und dass sie so lange mit ihm zusammengearbeitet hatte, ohne etwas zu bemerken. Sie hätte sich denken sollen, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Er kam immer erst am Abend ins Büro und überließ ihr tagsüber die Leitung der Geschäfte. Wie viele Präsidenten eines Unternehmens taten das schon? Seufzend ging sie über die Frage hinweg und sagte: „Hören Sie, Wyatt, wir haben hier eine Lieferung Blut ins Hotel geschickt bekommen, aber ich habe das Gefühl, dass da etwas schiefgelaufen ist. Was bedeutet S. E.K. unter dem Bluttyp?”
Das plötzliche Schweigen am anderen Ende der Leitung verwunderte sie nicht, vielmehr hatte sie damit sogar gerechnet, weshalb sie sich jetzt zu einem lässigen Lächeln zwang und hinzufügte: „Oh, tut mir leid, Sie wissen ja noch gar nichts davon. Ich bin Thomas’ Lebensgefährtin, er hat mir alles erklärt.... wegen Atlantis und so weiter.”
Inez konnte ihn deutlich ausatmen hören. Er klang erleichtert und erschrocken zugleich, als er fragte: „Wirklich?”
„Ja. Er konnte mich nicht lesen und auch nicht meine Erinnerung löschen. Mr. Argeneau hätte Sie beinah angerufen, um das für Thomas zu erledigen. Aber dann hat er mir alles dargelegt, und jetzt.... na ja, jetzt sind wir hier in Amsterdam.”
„Na, dann gratuliere ich Ihnen, Inez. Ich freue mich für Sie. Sagen Sie Thomas bitte, dass ich mich für ihn ebenfalls sehr freue.”
„Das mache ich. Er steht im Augenblick unter der Dusche, und deswegen rufe ich Sie an, weil ich ihn damit nicht behelligen will. Ich hoffe, Sie können mir eine Antwort geben, bevor er aus dem Badezimmer kommt.”
„Ach ja, die Lieferung Blut”, murmelte er und klang mit einem Mal nicht mehr ganz so umgänglich. „S. E.K. sagten Sie?”
„Richtig. Ich weiß noch nicht genug, um einschätzen zu können, ob das seine Richtigkeit hat. Mag sein, dass es gar nichts zu bedeuten hat, aber auf den anderen Blutbeuteln stand das nicht, und es ist in roten Buchstaben geschrieben, deshalb habe ich mich gefragt.... ”
„Das haben Sie gut gemacht”, erklärte Wyatt völlig ernst. „S.E.K. steht für Sweet-Ecstasy-Konzentrat. Sie werden nicht wollen, dass er davon einen Beutel trinkt, schon gar nicht in konzentrierter Form.”
„Sweet Ecstasy”, wiederholte sie und hoffte, so zu klingen, als hätte sie den Begriff schon mal gehört, könne ihn aber nicht zuordnen. „Was ist das? Kann das für ihn gefährlich sein?”
„Sweet Ecstasy ist für Unsterbliche das, was für Sterbliche eine Mischung aus Viagra und Spanischer Fliege darstellen würde”, erläuterte er. „Dieses Blut ist vollgepumpt mit Oxytocin, Dopamin, Norepinephrin, Phenylethylamin und verschiedenen anderen Hormonen und Pheromonen. Das Spenderblut wurde dehydriert, um den Flüssigkeitsgehalt auf mindestens die Hälfte zu reduzieren, sodass ein konzentrierter Mix aus Chemikalien dabei herauskommt. Dieses Konzentrat wird in einem Drink namens Sweet Ecstasy mit Sodawasser gemixt und im Glas serviert. Ein Beutel Konzentrat reicht normalerweise für mindestens vier Drinks, manchmal auch für sechs, wenn der Clubbesitzer aufs schnelle Geld aus ist.”
„Verstehe”, sagte sie leise.
Wyatt lachte amüsiert. „Es ist gut, dass Sie das Kürzel bemerkt haben, bevor er davon trinken konnte. Ansonsten hätten Sie schon bald alle Hände voll zu tun.”
„Aha”, machte sie und grübelte, wie sie das deuten sollte. Würde sich Thomas in einen rasenden, läufigen Hund verwandeln, der alles ansprang, was er finden konnte? Oder würde er.... ?
„Ich rufe das Amsterdamer Büro an, damit jemand vorbeikommt und Ihnen das richtige Blut bringt”, beruhigte Wyatt sie. „Mit etwas Glück ist das erledigt, bevor er mit dem Duschen fertig ist.”
„Nein, nein, das ist nicht nötig, Wyatt”, erwiderte sie aufgeregt. „Ich will Ihnen keine Arbeit machen. Ich kann das von hier aus erledigen. Wenn Sie mir die Nummer geben, dann rufe ich sofort an.”
„Ach, hören Sie auf. Ich erledige das. Das dauert nicht Mal eine Minute.” Inez biss sich auf die Lippe. Mit einer solchen Entwicklung hatte sie nicht gerechnet, aber sie hätte es in Betracht ziehen sollen. Hektisch überlegte sie, dann rief sie: „Oh, es hat gerade geklopft. Einen Moment, Wyatt.”
Sie drückte das Telefon an ihre Brust und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, dann hielt sie es wieder ans Ohr und lachte ausgelassen. „Sieht so aus, als hätte ich Sie ganz umsonst angerufen. Das war gerade der Bote. Offenbar hat er die Kühlboxen verwechselt und uns die gebracht, die für einen Night Club bestimmt ist.”
„Aha”, gab Wyatt gedehnt zurück.
Vielleicht war sie ja paranoid, aber Inez war sich sicher, aus seiner Stimme einen misstrauischen Ton herauszuhören. Das Kuriose war, dass sie inhaltlich gar nicht gelogen hatte. Es war lediglich die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse, die nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach. Jetzt hatte sie das Gefühl, sich irgendwie rechtfertigen zu müssen, dass sie die Wahrheit sagte.
„Ja”, fuhr sie fort und hoffte, nicht so gekünstelt zu klingen, wie sie sich in ihren Ohren anhörte. Sie war schon immer eine miserable Lügnerin gewesen, selbst wenn sie gar nicht so richtig log, also so wie in diesem Moment. „Er hat die Boxen ausgetauscht, aber ich habe ihm versprochen, dass ich mit seinem Vorgesetzten telefoniere und dafür sorge, dass er wegen der Verwechslung keinen Ärger bekommt. Er hat mir bloß nicht gesagt, wer sein Vorgesetzter ist. Wissen Sie das zufällig?”
„Ja, ja, ich werde das für Sie erledigen.”
„Danke, Wyatt”, sagte sie und wurde ruhiger. Er würde anrufen, erfahren, dass die Fakten alle der Wahrheit entsprachen, und dann würde er ihr Versprechen einlösen, damit der Bote keinen Ärger bekam.
„Kein Problem, Inez. Ich weiß, Sie beide sind damit beschäftigt, Marguerite zu finden. Jetzt müssen Sie sich um diese andere Sache nicht auch noch kümmern. Viel Glück bei Ihrer Suche. Marguerite ist eine gute Frau, und ich weiß, Thomas mag sie sehr gern. Ich hoffe, sie taucht unversehrt wieder auf.”
„Das hoffe ich auch, Wyatt”, versicherte sie ihm ernst.
„Ja, ich weiß. Nun gut, ich werde dann mal diesen Anruf für Sie erledigen”, entgegnete er und zögerte einen Moment lang, dann fragte er vorsichtig: „Werden Sie ins Büro zurückkehren, wenn Sie sie gefunden haben?”
„Ja, natürlich”, antwortete sie erschrocken, weil sie nicht glauben konnte, dass er eine solche Frage an sie richtete.
„Gut, gut”, sagte er sofort. „Ich war nur in Sorge, dass.... nun ja, Thomas lebt in Kanada, und.... ach, vergessen Sie’s. Noch mal viel Erfolg bei Ihrer Suche. Wir sehen uns, wenn sie wieder hier sind.” Er legte auf, und Inez klappte ihr Telefon zu, starrte es aber noch eine Weile an, während Wyatts Worte in ihrem Kopf nachhallten.
Thomas lebt in Kanada.... Daran hatte sie gar nicht gedacht. Diese Geschichte mit den Lebensgefährten war ihr perfekt erschienen, weil sie sich die ganze übliche Mühe sparen konnte, um erst Mal einen geeigneten Kandidaten zu finden, dass ihr diese Frage gar nicht in den Sinn gekommen war. Aber eigentlich konnte das doch kein Thema sein, überlegte sie. Sie hatte ihre berufliche Zukunft in England, sie war Vizepräsidentin mit einem exzellenten Gehalt, während er in Kanada bloß Blut auslieferte und Noten schrieb.
Nein, das würde kein Problem darstellen, entschied Inez und lächelte flüchtig über sich selbst, dass sie überhaupt eine Minute lang darüber nachgedacht hatte. Thomas würde es nichts ausmachen, nach England zu ziehen, um bei ihr zu sein. Alles würde bestens werden. Sie redete sich nur wieder wie üblich Probleme ein, die gar nicht existierten. Mit einem Kopfschütteln steckte sie das Handy in ihre Handtasche. Zurück in der kleinen Diele blieb sie stehen, als sie hörte, wie in Thomas’ Schlafzimmer eine Tür zugezogen wurde. Es war nicht die Badezimmertür gewesen, sondern eine Tür, die in den Hotelkorridor führte. So hatte es sich auch angehört, als sie die Tür zur Suite geöffnet hatte.
Sie ging zu seinem Schlafzimmer und lauschte, aber es war kein Laut zu hören. Die Dusche lief nicht mehr, doch es war auch kein Geräusch zu vernehmen, dass Thomas in seinem Zimmer hin und her ging. Nach kurzem Zögern klopfte sie an und rief: „Thomas?”
Sie bekam keine Antwort, und als das Schweigen zu lange anhielt, öffnete sie die Tür. Das Zimmer war verlassen, und auch im Bad hielt sich niemand auf. Fluchend ging sie zur Haupttür der Suite, musste aber kehrtmachen und ihre Handtasche holen. Schließlich wusste sie nicht, ob sie später die Codekarte noch brauchte, um wieder in die Suite zu gelangen. Dann lief sie nach draußen in den Korridor und sah gerade noch, wie sich auf ihrer Etage eine Aufzugtür schloss.
„Verdammt”, fluchte sie leise. Wenn sie auf einen der anderen Aufzüge wartete, hatte er längst die Lobby verlassen und war im Getümmel auf der Straße untergetaucht, bevor sie ihn einholen konnte. Sie kannte sich in Amsterdam nicht aus, und selbst wenn es doch der Fall gewesen wäre, hatte sie keine Ahnung, wohin er wollte.
Dieser Gedanke veranlasste sie dazu, zielstrebig zur Suite zurückzukehren und zum Tisch zu gehen, auf dem der Notizblock lag. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die mit energischer Schrift notierten Koordinaten entdeckte, die Herb ihm durchgegeben hatte. Ganz sicher war Thomas dorthin unterwegs.
Inez trennte das oberste Blatt ab und verließ abermals die Suite. Sie benötigte einen Stadtplan von Amsterdam, um diese Koordinaten zuordnen zu können, aber sie würde die Stelle finden und damit auch Thomas. Vermutlich würde es ihn ärgern, dass sie ihm ungefragt folgte, aber wenn er ihr Lebensgefährte sein wollte, dann sollte er auch wissen, dass sie ihn mit keiner anderen zu teilen beabsichtigte. Sie würde diesen Dummkopf nicht allein mit einer Überdosis Viagra im Leib umherziehen lassen, erst recht nicht in Amsterdam.