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Thomas und Inez lösten sich voneinander, sahen sich aber weiter in die Augen, während sein Handy klingelte. Als er nicht reagierte, zog sie es aus der Gesäßtasche seiner Hose und hielt es ihm hin. Seufzend setzte er sie auf dem Pflaster ab und nahm das Telefon an sich, klappte es auf und fauchte: „Hallo?”

Sofort begann Herb zu reden, doch Thomas nahm nichts von dem wahr, was der Mann sagte. Sein Blick war so wie seine ganze Konzentration auf Inez gerichtet, die damit begann, ihre Kleidung zurechtzuziehen und ihre Blöße zu bedecken. Er beobachtete aufmerksam, wie jedes verführerische Fleckchen Haut wieder unter Stoff verschwand, und er musste sich zwingen, nicht das Handy wegzuschleudern und ihr alles vom Leib zu reißen, was sie trug. Das war der vorherrschende Gedanke, obwohl eine ferne Stimme in seinem Hinterkopf ihn dazu aufforderte, vor ihr auf die Knie zu sinken, sich zu entschuldigen und sie um Verzeihung anzuflehen. Die konzentrierte Portion Sweet Ecstasy in seinem Körper machte ihn rasend, aber ein Teil seines Verstands funktionierte immer noch, und der genügte, um ihn neben der Begierde und Lust auch ein bisschen Schuld empfinden zu lassen.

Es handelte sich wirklich nur um einen winzigen Teil seines Verstands, doch der machte ihn darauf aufmerksam, dass er Inez in die Toreinfahrt gezerrt und sie mehr oder weniger überfallen hatte. Er wusste, das stimmte, und es war ihm sogar klar gewesen, als er ihr das antat, dennoch hatte er sich nicht in der Lage gefühlt, sieh zu bremsen. Die Erregung, als Inez auf einmal in seinen Armen lag, war so überwältigend gewesen, da hatte es für ihn schlicht kein Zurück mehr gegeben.

Dass so etwas geschehen würde, hatte er befürchtet, und deshalb war er auch ernsthaft bemüht, seit der flüchtigen Berührung in der Bahn jeden weiteren körperlichen Kontakt zu vermeiden. Er wusste, dadurch würde seine Begierde völlig außer Kontrolle geraten und seine Beherrschung wie von einem Tornado weggerissen werden. Vielleicht hätte er es noch abwenden können, wäre es bei der Berührung ihres Ellbogens geblieben, als er sie vor der grölenden Männerhorde in Sicherheit brachte. Aber als sie dann stolperte und sie beide gegen die Wand stießen, wobei Inez für einen Moment gegen ihn gedrückt wurde, da war sein Verlangen einfach übermächtig geworden.

Ein Feuer war durch seinen Körper gerast und hatte jeden Flecken Haut, an dem sie beide sich berührten, in Flammen aufgehen lassen, und dann war er über sie hergefallen. Anders ließ sieh sein Verhalten nicht beschreiben, das war ihm klar. Er hatte sich wie ein Tier auf sie gestürzt, und das trotz ihrer Gegenwehr. Erst als sie seinen Namen sagte und an seinen Haaren zog, kam er ein wenig zur Besinnung, doch seine einzige Reaktion bestand darin, sie noch tiefer in den Schatten zu zerren und einen Gang zurückzuschalten, um sie dazu zu bringen, ihm von sich aus das zu geben, was er von ihr haben wollte. Wäre nicht Herbs Anruf dazwischengekommen, hätte es für ihn im Schutz der Dunkelheit kein Halten mehr gegeben. Und es war allein die Tatsache, dass sie keinen Rock, sondern eine Hose trug, die ihn aufgehalten hatte, sonst wäre nicht mal das klingelnde Handy ein Grund gewesen, von seinem Tun abzulassen.

„Thomas? Hast du alles mitbekommen?” Thomas stutzte und wandte den Blick von Inez ab, um sich auf die Stimme am anderen Ende der Leitung zu konzentrieren. „Nein, tut mir leid, Herb. Kannst du das bitte wiederholen?”, erwiderte er.

„Ich sagte, du hast recht. Sie scheint sich tatsächlich durch die Stadt zu bewegen. Die neuen Koordinaten weichen von den letzten Daten ab. Kann ich sie dir durchgeben?” „Ja”, erwiderte er. „Fang an.”

Er ließ Herb die Zahlen zweimal wiederholen, um Gewissheit zu haben, dass er sie sich richtig eingeprägt hatte. Er bedankte sich bei Herb und steckte das Handy weg, dann machte er hastig seine Hose zu und kehrte auf die belebte Straße zurück, um auf dem Stadtplan die neue Position festzustellen. Wie nicht anders zu erwarten, stellte sich Inez zu ihm. Während er sich auf den Plan zu konzentrieren versuchte, hätte er sie am liebsten angebrüllt, sie solle ins Hotel zurückkehren. Dass er das nicht tat, lag einzig daran, dass er sie einerseits zwar wegschicken, andererseits aber an seiner Seite haben wollte. Er versuchte, gegen die Wirkung des Sweet Ecstasy anzukämpfen, doch das verdammte Zeug setzte sich beharrlich zur Wehr.

„Wie lauten die neuen Koordinaten?”, fragte sie, als er den Stadtplan aufschlug.

Er betrachtete das zaghafte Lächeln, das sie ihm zeigte, und schüttelte erstaunt den Kopf, dass sie ihm keine Szene wegen seines Verhaltens machte. Diese Frau war einerseits ausgesprochen verständnisvoll, andererseits aber fehlte ihr jegliches Empfinden dafür, wie schwierig es für ihn war, die Kontrolle über sich zu behalten. Ansonsten hätte sie nämlich ganz sicher die Flucht ergriffen und wäre längst auf dem Weg zum Flughafen, um schnellstens nach England zurückzukehren. Oder zumindest hätte sie sich in ihrem Hotelzimmer eingeschlossen, auch wenn ihn eine verschlossene Tür nicht aufhalten würde, wenn er erst einmal völlig die Beherrschung über sich verloren hatte.

Er sah sich den Stadtplan an, fand die neuen Koordinaten, verglich sie mit ihrer derzeitigen Position und faltete den Plan zusammen.

„Hier entlang”, sagte er und ging vor Inez her, immer darauf bedacht, sie bloß nicht zu berühren. Sie mussten in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, was ihn grübeln ließ, ob sie auf dem Weg hierher womöglich an Marguerite vorbeigegangen waren, ohne sie zu bemerken, oder ob sie längst an ihrer neuen Position gewesen war, als er noch nicht mal das Hotel verlassen hatte. Das war wohl wahrscheinlicher, da es aus seiner Sicht keinen vernünftigen Grund gab, warum sie sich an den zuvor genannten Koordinaten hätte aufhalten sollen. Zumindest konnte er keine Erklärung dafür finden, dass sie vor einem der beleuchteten Fenster stehen geblieben wäre.

Es sei denn, sie war hergekommen, um zu trinken. Auf einmal wurde ihm klar, dass Bastien ihr kein Blut schicken konnte, solange er ihren Aufenthaltsort nicht kannte. Von einem Sterblichen zu trinken, stellte hier kein großes Problem dar, immerhin hatte Bastien selbst gesagt, dass der europäische Rat nach anderen Regeln verfuhr als der nordamerikanische. Hier war es ihr möglich, einen Sterblichen zu beißen, auch wenn die meisten Unsterblichen, die er kannte, der Sicherheit den Vorzug gaben, die eine Blutkonserve für sie bedeutete. Sie wollten hierzulande wohl nur nicht ganz auf die Möglichkeit verzichten, von Zeit zu Zeit auf frisches, warmes Blut von der Quelle zugreifen zu können.

Marguerite konnte durchaus den im Rotlichtviertel herrschenden Trubel ausgenutzt haben, um ein Opfer auszuwählen, von dem sie dann in irgendeiner dunklen Gasse trinken konnte.

Für Thomas hatte dieser Gedanke etwas Beunruhigendes. Ihm war nie bekannt gewesen, dass seine Tante frisches Blut einer Konserve vorzog, aber das musste der Fall sein, wenn sie nicht mit Bastien Kontakt aufnahm, um sich von ihm einige Beutel schicken zu lassen. Je länger die Funkstille anhielt, umso unruhiger wurde er. Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu, und es war seine Aufgabe, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Er durfte nicht scheitern, denn er wollte den Rest der Familie nicht enttäuschen. Vor allem aber musste er selbst die Gewissheit haben, dass mit ihr alles in Ordnung war. Für ihn war sie der absolute Mittelpunkt. Jeanne Louise und Lissianna liebte er als Schwestern, aber Marguerite verkörperte für ihn alles, was Familie und ein Zuhause ausmachten. Es hatte ihn kaum gestört, als Marguerites Ehemann Jean Claude starb, weil das nur bedeutete, dass er ihr das Leben nicht länger zur Hölle machen konnte. Aber sollte er Marguerite verlieren, dann würde ihm das einen schweren Schlag versetzen.

Die rot beleuchteten Fenster waren jetzt nur noch spärlicher anzutreffen, dazwischen reihten sich immer mehr Bars und Geschäfte aneinander. Als sie die neuen Koordinaten erreichten, stellte Thomas fest, dass sie auf einem Gehweg standen, der geringfügig breiter war als zuvor. Rechts fanden sich diverse Bars und Restaurants, links hatten die Kneipen Tische und Stühle vor die Tür gestellt und Sonnenschirme aufgespannt, die für verschiedene Biermarken warben.

Zweifellos hatten sie hier irgendwo eine Pause eingelegt, um etwas zu essen. Zwar war Marguerite mit ihren über siebenhundert Jahren längst nicht mehr an irgendwelchem Essen interessiert, aber Tiny McGraw war ein Sterblicher, und er musste von Zeit zu Zeit Nahrung zu sich nehmen. Wenn das zutraf, dann würden sie sich vielleicht nach wie vor hier in der Nähe aufhalten, da sie wohl kaum so schnell ein Gericht serviert bekommen und es auch noch aufessen konnten.

„Sind wir da?”, fragte Inez und sah sich um. Er nickte, und sie gingen langsam zwischen den Tischen hindurch, um die Gäste zu mustern, ob irgendwo Marguerite zu entdecken war. „Vielleicht sitzt sie in einem der Lokale, aber nicht auf der Terrasse”, gab sie schließlich zu bedenken.

Thomas gab einen zustimmenden Laut von sich und betrachtete unschlüssig die Häuser ringsum. Was sollte er machen? Wenn sie in dem einen Restaurant nach ihr suchten, bestand die Gefahr, dass Marguerite und Tim in der Zwischenzeit ein anderes Lokal verließen und ihnen entwischten. „Ich könnte hier draußen warten, während du dich drinnen umsiehst”, überlegte sie. „Auf die Weise wären wir uns sicher, dass sie nicht unbemerkt verschwindet.”

Er war ihr für diesen vernünftigen Vorschlag dankbar, da sein Gehirn nach wie vor kaum einen klaren Gedanken zuließ, dennoch erwiderte er: „Weißt du überhaupt, wie sie aussieht?”

„Ja, als ich in New York war, bin ich ihr begegnet.”

Erleichtert darüber, dass sich ein weiteres Problem von selbst erledigt hatte, schaute er sich wieder um und sagte: „Wie wäre es, wenn du dich hier hinten an einen der Tische setzt? Von hier kannst du alle Eingänge überblicken, und ich werde so schnell wieder herkommen, wie es geht.”

Sie war einverstanden und nahm so an einem freien Tisch Platz, dass sie den Gehweg hinter sich hatte und den gesamten Straßenabschnitt im Auge behalten konnte. Kaum saß sie, machte sich Thomas daran, sich in der ersten Bar umzusehen.

Eine Viertelstunde später beobachtete sie, wie er das letzte Lokal aufsuchte, und sie seufzte frustriert. Es war offensichtlich, dass er Marguerite nirgends hatte entdecken können, und sie ging nicht davon aus, dass dieser letzte Anlauf daran etwas ändern würde. Sie hatten sie einfach schon wieder verpasst. Vermutlich hatte sie keines der Lokale aufgesucht, sondern war nur in dem Moment geortet worden, als sie gerade hier vorbeikam. Sie würden wohl Thomas’ Freund Herb erneut anrufen müssen, um ihn um einen weiteren Ortungsversuch zu bitten, und sie begann zu fürchten, dass es so die ganze Nacht weitergehen würde: Sie hetzten vergeblich von einem Punkt zum anderen, bis irgendwann die Sonne aufging, und dann war sie ganz bestimmt so hundemüde, dass sie sich im erstbesten Hotellein Zimmer nehmen würde, anstatt erst noch in ihre luxuriöse Suite zurückzukehren.

Lautes Gelächter lenkte ihren Blick zu einem Tisch vor einer der anderen Bars, und sie musste flüchtig lächeln, als sie die Junggesellentruppe aus dem Flugzeug wiedererkannte. Die Männer machten einen vergnügten, ausgelassenen Eindruck, lediglich der Bräutigam wirkte etwas mitgenommen. Seine Perücke saß völlig schief auf dem Kopf, die Strümpfe wiesen etliche Laufmaschen auf, und sein ohnehin grässliches Makeup war restlos verschmiert, da sein Gesicht schweißnass war. Aber nach seiner strahlenden Miene zu urteilen, schien er den Ausflug immer noch zu genießen.

Amüsiert schüttelte Inez den Kopf und beobachtete wieder die Lokale. Plötzlich hielt sie inne, da sie einen Mann bemerkte, der hinter der Junggesellentruppe allein an einem Tisch saß. Er war recht klein, hatte schwarzes, zu einer Igelfrisur geschnittenes Haar, und irgendwie kam ihr sein schmales Gesicht bekannt vor.

Sie musterte ihn nur kurz und kam zu dem Schluss, dass er ebenfalls im gleichen Flugzeug gesessen haben musste. Amsterdam war zwar eine Großstadt, aber Touristen landeten früher oder später doch alle im Rotlichtviertel, selbst wenn sie nur herkamen, um Mal einen Blick zu riskieren. Wenn sie lange genug hier wartete, würde sie vermutlich jeden Wiedersehen, der den gleichen Flug wie sie genommen hatte.

Man hätte meinen können, dass es eine langweilige Aufgabe sein würde, die Eingangstüren zu den verschiedenen Lokalen im Auge zu behalten, doch das Gegenteil war der Fall. Es war ein angenehmer Abend, keine Wolke stand am Himmel, dazu wehte eine leichte Brise, und dann noch das leise Plätschern des Wassers in einem weiteren Kanal ganz in der Nähe. Inez hatte schon immer Spaß daran gehabt, Leute zu beobachten, und das fiel ihr hier besonders leicht. „Hallo, schöne Lady.”

Inez hob erschrocken den Kopf und sah drei Männer, die sich ungefragt zu ihr an den Tisch setzten. Sie hatte sie zuvor bemerkt, war aber davon ausgegangen, dass sie sich einen freien Tisch suchen würden. Jetzt schaute sie einen nach dem anderen mit großen Augen an: ein Blonder, ein Brünetter und ein Kahlrasierter. Alle waren etwa im gleichen Alter wie sie, und jeder von ihnen trug dieses halb betrunkene, halb bekiffte Lächeln im Gesicht, woran zu erkennen war, dass sie dort waren, um ihren Spaß zu haben.

„Können wir Ihnen einen Drink spendieren?”, fragte der Blonde, ein Engländer, schleppend.

„Nein, danke. Ich habe bereits bestellt.... und ich warte hier auf jemanden”, fügte sie voller Unbehagen hinzu. Mit solchen Situationen hatte sie keine Übung, und wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie so etwas noch nie erlebt. Ihre Arbeit hielt sie die meiste Zeit über davon ab, abends auszugehen, und wenn sie es doch einmal einrichten konnte, dann traf sie sich mit ihren Freundinnen Lisa und Sherry, die im Haus nebenan wohnten.

Kennengelernt hatten sie sich an dem Tag, an dem sie von Portugal nach London gekommen war. Lisa schrieb eine Kolumne für ein landesweit erscheinendes Magazin, Sherry arbeitete im gleichen Verlag in der IT-Abteilung. Die zwei hätten ebenso gut als Models tätig sein können, waren sie doch beide groß und schlank Lisa blond, Sherry rothaarig , sodass sie alle Aufmerksamkeit auf sich lenkten, während Inez gar nicht erst in die Verlegenheit kam, irgendwelche Annäherungsversuche abweisen zu müssen.

Das war im Übrigen auch mit ein Grund, warum Inez sich von Zeit zu Zeit bereit erklärte, die beiden zu begleiten, denn sie fungierten als eine Art Schutzschild. In ihrer Gegenwart wurde Inez eins mit ihrer Umgebung, sodass sie sich nicht mit fremden Männern abgeben musste. Im Beruf besaß sie zwar jede Menge Selbstvertrauen, und sie war exzellent in dem, was sie tat, doch im Privatleben mangelte es ihr ganz erheblich an Selbstbewusstsein.

Inez war klein und wog, zumindest ihrer Meinung nach mindestens zwanzig Pfund zu viel, ihre Lippen waren zu voll, und die feuchte englische Luft sorgte dafür, dass sie ihre Haare kaum gebändigt bekam. In der Mode waren glatte, ordentliche Frisuren angesagt, aber sie konnte zu noch so vielen Mitteln greifen, ihre glänzenden, schwarzen Locken wollten sich ihr einfach nicht unterordnen. Was ihre übrigen Mängel anging, gab es leider keine Cremes, die sie so groß und so rank und schlank werden ließen wie ein Model.

„Ach, zieren Sie sich nicht so”, sagte der Mann mit dem rasierten Schädel. „Wir wollen nur freundlich sein.”

Sie verspürte den dringenden Wunsch, den Kerlen zu sagen, sie sollten sich verziehen. Sie hatte jetzt Thomas, ihren Lebensgefährten, der ihr von den Nanos oder von Gott oder von beiden zusammen geschickt worden war, ohne dass sie dafür etwas hatte tun müssen. In seiner Gegenwart musste sie sich nicht verstellen, sie fühlte sich nicht unsicher oder unbehaglich, sondern einfach nur rundum wohl.

Ihre eigenen Gedanken ließen sie stutzen, und sie sank auf ihrem Platz in sich zusammen. Es stimmte tatsächlich. Wenn sie an Thomas’ Seite war, dann zweifelte sie nicht an sich, und sie kam sich auch nicht fehl am Platz vor, wie es ihr bei anderen Männern erging. Sie war müde und hungrig, und auch wenn sie am Morgen noch im Dorchester gebadet hatte, trug sie doch nach wie vor das Gleiche wie am Tag zuvor. Sie hatte nicht Mal ein Gummiband zur Hand, um ihre Locken nach hinten zu binden, und außer dem Lippenstift in ihrer Tasche führte sie keinerlei Makeup bei sich. Kurz gesagt: Sie war eigentlich alles andere als vorzeigbar und doch hatte Thomas sie im Hotel geküsst, und erst vor ein paar Minuten war er sogar noch weiter gegangen. Natürlich machte ihn diese Überdosis Vampir-Viagra schärfer als gewöhnlich, hielt sie sich vor Augen, doch das allein wäre kein Grund gewesen, nur sie bespringen zu wollen, aber keine andere Frau, von denen es vor allem im Rotlichtviertel mehr als genug gab.

„Hören Sie, Süße, es ist ja wirklich faszinierend, Ihnen zuzusehen, wie Sie mit sich selbst reden, aber es wäre bestimmt vergnüglicher, wenn Sie mit uns reden würden”, sagte der Blonde und drängte sich ungefragt in ihre Gedanken. „Wir spendieren Ihnen einen Drink, und Sie unterhalten sich ein bisschen mit uns, okay?”

Sie wusste, es war nicht ratsam, betrunkenen Männern gegen über unhöflich zu sein, daher wollte sie sie freundlich darum bitten, sie in Ruhe zu lassen. Doch in dem Moment kehrte Thomas zu ihr zurück und stellte sich neben sie an den Tisch. Als sie ihm ins Gesicht sah, bemerkte sie seine versteinerte Miene und ein silbernes Leuchten in den Augen. So hatte sie ihn schon mal gesehen und zwar, als sie sich gerade geküsst hatten.

„Sie hat ,Nein, danke!’ gesagt”, ließ Thomas verlauten, während Inez mit Sorge die Männer betrachtete. Seit fast acht Jahren lebte sie mittlerweile in England, und sie wusste, wenn es eines gab, was man vermeiden sollte, dann, einen angetrunkenen Briten in Rage zu bringen. Die ganze Welt hielt diese Leute für steif und konservativ, und grundsätzlich stimmte das auch. Aber sie hatte auch noch nie mehr brutale Gewalt zu sehen bekommen als in den Momenten, wenn Briten betrunken waren. Vermutlich hatte es etwas mit dieser konservativen Art zu tun, die sie zwang, all ihre Gefühle ständig im Zaum zu halten, und wenn sie genug getrunken hatten, gab es für sie kein Halten mehr. Jedes Mal, wenn sie mit Lisa und Sherry weggegangen war, hatte sie irgendwann am Abend in irgendeiner Bar einen Streit oder eine handfeste Schlägerei mitbekommen.

Inez wusste, Thomas war alles andere als ein normaler Mensch. Er war schneller und stärker, er konnte die Gedanken anderer Leute kontrollieren, doch sie war sich nicht sicher, ob er auch in der Lage war, sich gegen drei Typen gleichzeitig zu behaupten.

Sie legte ihre Handtasche um, stand auf und sagte leise: „Thomas, ich glaube, wir sollten weitergehen und uns von Herb neue Koordi…. ”

„Nein, nein, Schätzchen, setz dich schön wieder hin. Wir wollen dir was zu trinken spendieren.” Die Worte wurden von einem kräftigen Ruck an ihrer Hand begleitet, der sie zurück auf ihren Platz plumpsen ließ. Aufgebracht sah sie den Mann neben ihr an, der sich gerade an Thomas wandte und betont lässig erklärte: „Ich kann keinen Ring an ihrem Finger entdecken. Sie hat also das gute Recht, sich zu uns zu setzen.”

Inez bekam nichts davon mit, dass Thomas sich bewegte, aber im nächsten Augenblick hatte er den Blonden am Hals gepackt und hochgezogen, sodass seine Füße nicht länger den Boden berührten. „Thomas”, sagte sie nervös, sprang auf und griff nach seinem freien Arm, aber er riss sich von ihr los, als hätte sie ihn verbrannt. Er drehte den Kopf zu ihr herum, in seinen Augen loderte ein silbernes Feuer. Inez stockte einen Moment lang der Atem, sodass sie ihn nur anstarren konnte und dann erschrocken aufschrie, da der dunkelhaarige Kerl aufgesprungen war und sich Thomas von hinten näherte. Ihre Warnung kam zu spät, da der Mann bereits ein Messer gezückt hatte und es Thomas in den Rücken jagte.

Der versteifte sich, drückte den Rücken ein wenig durch und ließ dann den Blonden fallen, um sich blitzschnell zu dem zweiten Angreifer umzudrehen. Er bleckte die Zähne und fauchte ihn an, und der andere wich bereits erschrocken zurück, doch dann ging sie entschlossen dazwischen. „Thomas”, warnte sie ihn leise.

Sekundenlang rechnete sie damit, er würde sie einfach zur Seite stoßen, um sich auf den Briten zu stürzen, doch dann ließen laute Rufe und hastige Schritte sie auf zwei Polizisten aufmerksam werden, die zu ihnen gerannt kamen. Thomas knurrte bei ihrem Anblick, und im nächsten Moment hatte er Inez so gepackt und an sich gedrückt, als wäre sie ein Rugbyball. Dann stürmte er mit ihr davon, noch bevor die Polizisten sie erreicht hatten.

Inez nahm wahr, dass sie aus dem Licht in die Dunkelheit wechselten und dann wieder ins Licht zurückkehrten. Sie vermutete, dass er mit ihr in die Richtung rannte, aus der sie ursprünglich gekommen waren. Leute riefen etwas oder stießen erschrockene Rufe aus, während er sich im Zickzackkurs einen Weg durch die Menge bahnte. Inez ahnte, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Ihr wurde bewusst, wie sehr er unter dem Einfluss von Sweet Ecstasy stand. Bislang war sie davon ausgegangen, das Konzentrat wirke sich nur auf seinen Körper aus, doch jetzt war ihr klar, welchen Einfluss es auch auf seinen Verstand hatte. Er hatte in der Öffentlichkeit seine Zähne gebleckt, und er machte alle Welt auf sich aufmerksam, indem er mit übermenschlicher Geschwindigkeit durch die Stadt rannte.

Das einzig Gute daran war, dass vermutlich niemand ihn genau genug sehen konnte, um später eine Beschreibung zu liefern. Dennoch war es für sein Volk von größter Wichtigkeit, nicht aufzufallen. Immerhin unternahmen sie ihr Leben lang alle erdenklichen Anstrengungen, um nicht auf sich und ihre Art aufmerksam zu machen. Daher wusste sie, dass er das, was er gerade tat, eigentlich nicht machen sollte. Diese Erkenntnis war ihr soeben durch den Kopf gegangen, da bog er um eine Ecke und blieb so abrupt stehen, dass ihr fast übel wurde, während er sie absetzte.

Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, da ihre Knie weich wie Pudding waren, doch er sorgte mit einer Hand unter ihrem Arm dafür, dass sie nicht zu Boden sinken konnte. Dann führte er sie in ein Gebäude, und erst als sie die Lobby fast durchquert hatten, wurde ihr klar, dass sie zurück in ihrem Hotel waren. Vermutlich sollte sie sich darüber nicht wundern. Immerhin war er deutlich schneller als die Straßenbahn gewesen, und so lange hatte die Fahrt in die Stadt nun auch nicht gedauert. Erst als sie im Lift standen und die Türen sich langsam schlossen, warf sie einen Blick zurück in die Lobby und bemerkte die verstörten Blicke der wenigen Gäste, die sich dort aufhielten.

Irritiert sah sie Thomas an und fürchtete insgeheim, seine Reißzähne könnten immer noch zu sehen sein, aber das war nicht der Fall. Allerdings.... steckte das Messer nach wie vor in seinem Rücken.

„Oh Gott!”, hauchte sie und spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich. Thomas beachtete sie gar nicht, sondern starrte auf die Fahrstuhlanzeige über der Tür. Inez biss sich auf die Unterlippe und griff nach dem Messer, um es ohne Vorwarnung herauszuziehen, damit der Schmerz hoffentlich nicht so schlimm war. Doch sie ließ auf halber Höhe ihre Hand wieder sinken, da sie nicht glaubte, es tun zu können, selbst wenn sie ihn vorwarnte.

Der Aufzug hielt an, und sie folgte Thomas in den Flur. Der Anblick der Klinge in seinem Fleisch war so irritierend, dass sie seinen unsicheren Gang erst bemerkte, als sie fast die Tür zur Suite erreicht hatten. „Geht es dir gut?”, fragte sie ängstlich und stellte sich neben ihn.

Als sie sah, wie bleich er war, erschrak sie. „Thomas?”

„Nein, Inez, es geht mir nicht gut. In meinem Rücken steckt ein Messer. Schließ bitte auf, weil ich nicht in meine Tasche greifen kann, um die Codekarte für die Tür herauszuholen.”

„Oh.” Sie begriff, dass er vermutlich schlimme Schmerzen verspüren musste, wenn er nach seiner Gesäßtasche fasste, und durchsuchte hastig ihre Handtasche. Nachdem die Tür geöffnet war, ging sie vor, hielt sie ihm auf und wurde von noch größerer Sorge erfasst, als sie sah, wie er sich in die Suite schleppte. Sie schloss hinter ihm ab, damit niemand ungebeten hereinkommen konnte, und als sie sich zu ihm umdrehte, sah sie eben noch mit an, wie er auf die Knie sank und dann vornüber aufs Gesicht fiel.

„Thomas!”, rief sie aufgeregt, kniete sich neben ihm auf den Boden und musterte sein kreidebleiches Gesicht. Er war offenbar ohnmächtig geworden.

Inez ging in die Hocke und betrachtete widerwillig das Messer, das aus seinem Rücken ragte. Er hatte gesagt, dass die Nanos alle Verletzungen reparierten, aber wahrscheinlich konnten sie das nicht, solange die Klinge noch in seinem Fleisch steckte. Sie würde das Messer herausziehen müssen, anders ging es nicht, auch wenn der bloße Gedanke daran sie aufstöhnen ließ. Plötzlich hörte sie ein seltsames, gedämpftes Geräusch. Sie war so aufgewühlt, dass sie mehrere Sekunden benötigte, um das Geräusch als das Klingeln eines Handys zu erkennen. In den Gesäßtaschen seiner Jeans steckten seine Brieftasche und der zusammengefaltete Stadtplan, nicht aber sein Telefon. Da das Geräusch so gedämpft klang, konnte es sich demnach nur in einer der vorderen Taschen befinden.

Solange er das Messer im Rücken hatte, konnte sie ihn aber nicht umdrehen, also beschloss sie, das Klingeln zu ignorieren. Stattdessen wandte sie sich der Verletzung zu. Das T-Shirt rings um die Einstichstelle war blutgetränkt, und seine Jeans war an einem Bein fast bis zur Kniekehle dunkel verfärbt. Er hatte eine Menge Blut verloren. Sie musste das Messer herausziehen und dann die Blutkonserven aus der Kühlbox zu ihm bringen, damit er irgendwie zu trinken begann. Wie sie das anstellen sollte, wusste sie zwar nicht, aber sie konnte sich ohnehin nur einem Problem nach dem anderen stellen.

Widerstrebend beugte sie sich vor und ließ die Finger über dem Heft des Messers schweben, doch dann auf einmal sprang sie auf. Handtücher. Sie benötigte Handtücher. Sie musste verhindern, dass sich sein Blut auf dem Fußboden verteilte. Gerade sammelte sie im Badezimmer alle Handtücher ein, die sie finden konnte, als ihr eigenes Telefon zu klingeln begann. Verblüfft sah sie auf ihre Handtasche, die sie über die Schulter geschlungen, aber in der allgemeinen Aufregung ganz vergessen hatte. Sie legte die Handtücher zur Seite und holte ihr Telefon heraus.

„Ist da Inez?”

Die knappe Frage ließ sie stutzen, da sie die Stimme nicht erkannte. „Ich.... ahm.... ja.... wer ist da?”

„Hier spricht Herb Longford”, antwortete der Mann in einem breiten englischen Akzent. „Bei seinem letzten Anruf hat Thomas mir Ihre Nummer gegeben. Er sagte, der Akku in seinem Telefon sei fast leer, und falls ich ihn nicht erreichen könne, solle ich es über Sie versuchen.”

„Aha”, machte sie und seufzte leise. Wenigstens wusste sie jetzt, wer vorhin angerufen hatte.

Nach einer kurzen Pause fuhr Herb fort: „Ich wollte Thomas die neuen Koordinaten durchgeben.”

„Neue Koordinaten?”, wiederholte sie, um Zeit zu schinden, während sie krampfhaft überlegte, was sie tun sollte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass niemand etwas von dem Zwischenfall im Straßencafe erfahren sollte, zumal sie fürchtete, es könnte Thomas Arger einbringen, wenn sich herumsprach, dass er in der Öffentlichkeit seine Zähne gebleckt hatte und dann mit irrsinniger Geschwindigkeit vor der Polizei davongelaufen war.

„Ja”, sagte Herb ungeduldig. „Er sprach davon, dass er sich in den Lokalen rings um die letzten Koordinaten umgesehen habe, aber seine Tante sei da ebenfalls nicht zu entdecken gewesen. Ich sollte daher das Handy noch einmal orten. Das ist jetzt geschehen, und wenn Sie ihn mir geben, kann ich ihm die neuen Zahlen durchsagen.”

„Oh, ich.... er.... er ist gerade zur Toilette”, behauptete sie kurzerhand. „Wenn Sie mir die Zahlen nennen, werde ich sie ihm weitergeben.”

„Okay, haben Sie etwas zu schreiben zur Hand?”

„Ja.” Mit einer Hand kramte Inez in ihrer Tasche, dann holte sie einen Notizblock und einen Stift raus. „Okay, legen Sie los.”

Herb rasselte die Zahlen herunter. „Geben Sie die schon mal an Thomas weiter, in der Zwischenzeit werde ich eine weitere Ortung vornehmen. Falls sich ihre Position erneut verändern sollte, melde ich mich wieder.”

„Ja, danke.” Sie hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da wurde die Leitung bereits unterbrochen. Kopfschüttelnd steckte sie das Telefon weg und hob die Handtücher auf. Sie musste das Messer aus Thomas’ Rücken ziehen und ihm Blut zu trinken geben, dann konnte sie sich auf den Weg zur letzten bekannten Position von Marguerites Telefon machen. Schließlich war sie hergekommen, um ihm bei der Suche nach seiner Tante zu helfen, also würde sie auch genau das tun, sobald sie Gewissheit hatte, dass es ihm gut ging.

„Ja, du schaffst das schon”, redete sie sich Mut zu, während sie zu Thomas zurückkehrte. Allerdings klangen diese Worte in ihren eigenen Ohren nicht sehr überzeugend. Thomas lag noch da, wo er zu Boden gesunken war. Sie ließ die Handtücher neben ihm auf den Boden fallen und sah sich das Messer genauer an, wobei sie einzuschätzen versuchte, wie tief die Klinge wohl in seinem Körper steckte. Einige Zentimeter mussten es sein, so viel stand fest. Plötzlich bemerkte sie, wie sehr ihre Finger zitterten.

Frustriert betrachtete sie ihre Hand, dann ging sie zur Minibar, nahm eines der kleinen Schnapsfläschchen heraus und kippte den Inhalt in einem Zug herunter. Sie fand, dass diese Situation es rechtfertigte, sich erst einmal Mut anzutrinken, bevor sie zur Tat schritt. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, während sie zum zweiten Fläschchen griff. Das ließ sich schon leichter schlucken, aber der Geschmack war kein bisschen besser. Gerade wollte sie ein drittes öffnen, da entschied sie sich noch rechtzeitig dagegen. Sie trank nur selten Alkohol, und dann auch nur wenig, und sie vermutete, dass zwei von diesen Fläschchen für sie mehr als genug waren. Sie wollte schließlieh nicht in einem Vollrausch neben Thomas auf dem Fußboden enden.

Sie schloss die Tür der Minibar, straffte die Schultern und wandte sich zu Thomas um. Der Alkohol konnte noch nicht in ihren Blutkreislauf gelangt sein, trotzdem fühlte sie sich jetzt schon ein kleines bisschen ruhiger. Vermutlich ein rein psychologischer Effekt. Als sie neben Thomas kniete, musterte sie abermals das Messer. Allein der Gedanke, es aus seinem Körper ziehen zu sollen, bereitete ihr Unbehagen, aber sie wusste auch, es musste sein.

Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, in der sie nichts anderes tat, als die Klinge anzustarren. Dabei suchte sie unablässig nach irgendeiner Lösung, wie sie sich doch noch davor drücken konnte. Vielleicht konnte sie ein paar Blutkonserven nachbestellen und dann den Boten dazu veranlassen, es für sie zu erledigen. Im Grunde war das alles ja eigentlich dessen Schuld, weil er die falsche Box abgegeben hatte. Thomas hätte nicht das verkehrte Blut getrunken, und die Situation wäre nicht so aus dem Ruder gelaufen, dass er nun ein Messer im Rücken hatte. Jedenfalls glaubte sie, ohne den Beutel Sweet Ecstasy hätte er die Ruhe bewahrt. Er war ihr nicht wie der eifersüchtige Typ Mann erschienen, der sofort auf Konfrontationskurs ging. Dafür war er viel zu rücksichtsvoll und zu nett gewesen.

Inez überlegte ernsthaft, neue Blutkonserven zu bestellen, aber dann kam ihr in den Sinn, dass womöglich ein anderer Bote das Blut liefern würde, und damit würde noch jemand wissen, was sich heute Abend zugetragen hatte. Ihr Instinkt riet ihr davon ab, diese Idee in die Tat umzusetzen. „Jetzt mach schon!”, drängte sie sich selbst zum Handeln. Sie atmete tief durch und legte beide Hände um das Heft, wobei sie darauf achtete, das Messer möglichst nicht zu bewegen. Dann schloss sie die Augen, zählte bis drei, umklammerte das Heft und zog es ruckartig nach oben. Als Thomas vor Schmerzen aufstöhnte, sah sie ihn erschrocken an, doch da sein Kopf von ihr abgewandt war, konnte sie nicht erkennen, ob er das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Sie wartete ab, aber es kam keine weitere Reaktion von ihm, und sie legte das Messer auf eines der Handtücher und griff nach dem nächsten.

Mit einer Hand zupfte sie vorsichtig sein T-Shirt aus dem Hosenbund, um sich die Verletzung genauer anzusehen. Als sie feststellte, dass weiterhin Blut aus der Einstichstelle austrat, verzog sie entsetzt das Gesicht. Ihrer Ansicht nach verlor er deutlich zu viel Blut, also legte sie das Handtuch auf die Wunde und presste minutenlang den Stoff auf seinen Rücken. Schließlich nahm sie das getränkte Tuch weg und sah sich wieder die Einstichstelle an.

Zwar hatte Thomas ihr erklärt, dass die Nanos alle Verletzungen reparierten, jedoch lief das nicht ganz so schnell ab, wie man es wohl im Film oder im Fernsehen dargestellt hätte. Dennoch kam es ihr vor, als ob die Blutung sich verlangsamt hätte. Wieder drückte sie das Handtuch auf die Stelle, und als sie einige Minuten später erneut nachsah, hatte die Blutung deutlich nachgelassen.

Erleichtert atmete sie auf, legte das benutzte Handtuch zur Seite und nahm ein frisches, mit dem sie die Einstichstelle lediglich bedeckte, damit das wenige noch austretende Blut von dem dicken Stoff aufgefangen wurde, ehe es auf den Boden tropfen konnte. Dann stand sie auf und holte ein paar Blutkonserven aus der Kühlbox, brachte sie zu Thomas und kniete sich neben ihn, konnte ihn aber nur ratlos ansehen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn zum Trinken bewegen sollte. Hätte er auf dem Rücken gelegen, wäre es möglich gewesen, das Blut einfach in seinen Mund tropfen zu lassen und zu hoffen, er werde es schon schlucken. Aber er lag auf dem Bauch, und sie konnte ihn nicht einfach auf den Rücken drehen.

Sie grübelte eine Weile, dann legte sie die Beutel einfach so vor sein Gesicht, dass er sie sofort sehen würde, wenn er aufwachte. Falls er aufwachte, schoss es ihr durch den Kopf, doch dann erinnerte sie sich daran, wie er zu ihr gesagt hatte, dass es kaum eine Verletzung gab, die einen Vampir umbringen konnte. Nicht Mal ein Pflock ins Herz vermochte das, wenn er schnell genug wieder herausgezogen wurde.

Er würde aufwachen, sagte sie sich. Sie musste sich unterdessen auf den Weg machen und an den letzten bekannten Koordinaten nach Marguerite suchen. Schließlich wollte sie nicht, dass Herb ein weiteres Mal anrief und sie fragte, wieso sie nicht überprüft hatten, ob Thomas’ Tante sich dort irgendwo aufhielt. Außerdem war das ja der eigentliche Grund für die Reise nach Amsterdam. Sie wollte aufstehen, aber dann fiel ihr ein, dass Bastien womöglich anrief, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Für den Fall war es das Beste, wenn er sie auf Thomas’ Telefon erreichte.

Angestrengt presste sie die Lippen zusammen, während sie eine Hand unter seinen Körper schob, die Tasche fand und das Telefon herausfischte. Als sie es endlich in ihren Fingern hielt, atmete sie erleichtert auf. Sie steckte es in ihre Handtasche, zog den Stadtplan aus der Gesäßtasche seiner Jeans und wollte sich zur Tür umdrehen. Dann zögerte sie aber, da sie ein schreckliches Gefühl bei dem Gedanken überkam, ihn dort so zurückzulassen. Schließlich schob sie noch ein zusammengefaltetes Handtuch unter seinen Kopf und verließ dann die Suite.