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Thomas ignorierte das klingelnde Telefon in seiner Hand und starrte auf die Badezimmertür, die Inez zugeworfen hatte. Diese Tür war genauso leer und schmucklos wie die Mauer, gegen die er in ihrem Kopf angerannt war. Er hatte versucht, in ihre Gedanken einzudringen, um die Erinnerung daran zu löschen, dass er von ihr getrunken hatte, aber zu seinem Erstaunen war ihm das nicht gelungen.

Er hatte es noch einmal versucht, diesmal mit mehr Energie, doch wieder war er von dieser Mauer einfach abgeprallt, als habe jemand mit roter Farbe „Zutritt verboten!” darauf gesprüht. Er konnte Inez Urso nicht lesen.

Das Telefon verstummte, setzte aber einen Moment später erneut ein. Seufzend sah Thomas auf das Display und las Bastiens Namen, dann klappte er das Handy auf.

„Thomas?”, hörte er Bastien fragen. „Ja.”

„Hast du von Inez getrunken?” „Ja.”

„Gut, sehr gut. Bist du schon auf dem Weg zum Flughafen?” „Nein.”

Nach kurzem Schweigen fragte Bastien: „Warum nicht?”

„Wir haben ein Problem”, gab Thomas zurück. „Was für ein Problem?”

„Ich kann ihre Erinnerung nicht löschen.” „Was?”, rief sein Cousin ungläubig.

Aus dem Badezimmer war ein lauter Knall zu hören, als hätte sie etwas zu Boden geworfen. Daraufhin entfernte sich Thomas weiter von der Tür, damit sie von seinem Telefonat nichts mitbekam. „Ich kann nicht in ihre Gedanken eindringen, um die Erinnerung daran zu löschen, dass ich sie gebissen habe.” Wieder folgte eine längere Pause, dann fluchte Bastien: „Verdammt, Thomas! Inez ist eine meiner besten Angestellten.”

Er nahm das Telefon vom Ohr und betrachtete es sekundenlang verständnislos. „Was hat denn das bitte mit meinem Problem zu tun?”, sagte er dann.

„Na ja, wenn du schon unbedingt deine Lebensgefährtin finden musstest, konnte es dann nicht eine Frau sein, die woanders angestellt ist? Jetzt werde ich sie verlieren. Sie wird mit dir zusammen sein und mit nach Kanada kommen wollen und.... ”

Thomas hörte ein Rascheln und wusste, dass Bastien sein Telefon für einen Moment an die Brust gedrückt hielt, während er mit jemandem in seinem Büro redete. Vermutlich Etienne, dem er brühwarm berichtete, was sich zugetragen hatte. Bei Sonnenuntergang würde es die ganze Familie wissen, überlegte Thomas und verdrehte die Augen.

„Schon gut”, meldete sich der ältere Unsterbliche plötzlich wieder und klang ein wenig betreten. „Ich bin bloß müde und gereizt. Meinen Glückwunsch.”

„Glückwunsch?”, wiederholte Thomas ratlos.

„Ja, meinen Glückwunsch, Thomas. Du bist soeben deiner Lebensgefährtin begegnet.”

„Ich habe soeben meine Lebensgefährtin gebissen”, konterte Thomas. „Und sie hat sich jetzt im Badezimmer eingeschlossen und schnitzt vermutlich längst ein Kreuz und einen Pflock aus der Seife, die da liegt.”

„Ach, Blödsinn.”

„Von wegen Blödsinn”, knurrte Thomas ihn an. „Du hast gesagt, ich soll sie beißen, damit mich während des Flugs keine Gelüste überkommen. Geniale Idee, Bastien.”

„Zum Teufel, Thomas! Woher sollte ich wissen, dass sie sich als deine Lebensgefährtin entpuppt? Konntest du nicht versuchen, ob du sie lesen kannst, bevor du sie gebissen hast?”

„Warum sollte ich denn so was machen?”, gab Thomas zurück. „Ich hatte keine Ahnung, dass sie meine Lebensgefährtin sein könnte!”

„Okay, okay”, beschwichtigte Bastien ihn rasch. „Lass mich nachdenken.” Thomas rollte aufgebracht mit den Augen, schwieg aber. „Sie hat sich im Badezimmer eingeschlossen?”

„Ja.”

„Hast du versucht, mit ihr zu reden?”

„Was soll ich ihr denn deiner Meinung nach sagen, Bastien? Oh, tut mir leid, Inez, ich wollte Sie nicht beißen, aber meine Zähne sind mir rausgerutscht.”

„Du könntest versuchen, ihr zu erklären, was wir sind.”

„Ich glaube, sie hat längst begriffen, was wir sind”, konterte Thomas sarkastisch. „Und angesichts der Tatsache, dass sie sich im Bad eingeschlossen hat, dürfte sie darüber nicht allzu erfreut sein.”

„Gib ihr dein Telefon, dann werde ich versuchen, mit ihr zu reden.”

„Hatte ich schon erwähnt, dass sie sich im Bad eingeschlossen hat? Ich kann ihr mein Telefon nicht geben.”

„Okay, warte kurz.” Wieder hielt Bastien das Mikrofon zu und beriet sich vermutlich mit Etienne.

Thomas schüttelte den Kopf und ging in dem kleinen Flur zwischen den verschiedenen Zimmern der Suite auf und ab.

„Thomas?” „Ja.”

„Du musst versuchen, mit ihr zu reden.” „Und was schlägst du vor, was ich sagen soll, Bastien?”, fragte Thomas gereizt.

„Frag sie, ob es ihr gut geht.”

Kopfschüttelnd ließ er das Telefon sinken und ging zum Badezimmer. Bevor er jedoch zu reden begann, legte er erst einmal das Ohr an die Tür und lauschte. Lediglich ein hastiges, keuchendes Atmen war zu hören, was eigentlich nur den Schluss zuließ, dass die Frau kurz vor einer Panikattacke stand.

„Inez?”, rief er und bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall. Da er hören konnte, wie sie sich von der Tür entfernte, schien er nicht den richtigen Ton getroffen zu haben. „Geht es Ihnen gut?” Ein Wortschwall in portugiesischer Sprache drang durch die Tür. Irritiert hielt Thomas sein Telefon ans Ohr. „Hast du das gehört? Was hat sie gerade geantwortet?”

„Ich weiß nicht, das war zu undeutlich”, gab Bastien betrübt zurück. „Halt das Telefon an die Tür und bitte sie, es zu wiederholen.”

Grummelnd tat Thomas, was Bastien von ihm verlangte, dann räusperte er sich. „Ahm.... Inez, würden Sie das bitte wiederholen? Ich spreche kein Portugiesisch, und Bastien hat nichts verstanden.”

„Sie haben mich gebissen!”

Thomas wartete, ob noch etwas folgte, schließlich hielt er den Hörer wieder ans Ohr. „Hallo?”

„Das war nicht Portugiesisch”, erklärte Bastien.

„Verdammt, Bastien, das habe ich auch gemerkt. Beim ersten Mal ist es aber Portugiesisch gewesen.” Aus dem Hörer kam ein aufgebrachtes Schnauben, dann unterhielt sich Bastien abermals mit Etienne. „Was meint er?”, fragte Thomas.

„Er meint, du sollst dich wieder und wieder entschuldigen. Anders kann man einer Frau nicht beikommen”, erklärte Bastien und fügte hinzu: „Bei Terri funktioniert das.”

„Entschuldigen”, murmelte Thomas und hielt vorsorglich das Telefon an die Badezimmertür, falls sie erneut auf Portugiesisch antworten würde.

„Inez? Es tut mir leid, dass ich Sie gebissen habe”, beteuerte er und fügte einer Eingebung folgend hinzu: „Das war Bastiens Idee.”

„Was?”, kreischte sie, und die gleiche Frage plärrte auch aus dem Telefon. „Naja, stimmt doch”, wandte sich Thomas an seinen Cousin.

„Du hast mir gesagt, ich soll sie beißen. Ich wollte ja nicht, aber du hast immer weiter auf mich eingeredet, damit ich nicht hungrig ins Flugzeug steige. Ansonsten wäre ich nie auf die Idee gekommen, sie zu beißen. Du hast mich dazu gebracht.” Thomas hörte Bastien am anderen Ende der Leitung fluchen, hielt aber das Telefon schnell wieder an die Tür, da Inez abermals auf Portugiesisch zu schimpfen begann, dann jedoch klar verständlich mit der Bemerkung schloss: „Ich arbeite für den Teufel.”

„Tja, da sollten Sie erst Mal erleben, was es heißt, sein Cousin zu sein”, murmelte Thomas offenbar laut genug, um von Inez gehört zu werden. Sie schwieg abrupt, wohingegen Bastiens Stimme unverändert aus dem Telefon plärrte und sich anhörte wie eine Maus aus einem Zeichentrickfilm. Seufzend hielt er den Hörer wieder ans Ohr.

„Was hat sie gesagt?”, fiel er Bastien ins Wort.

„Dass du ein seelenloser Vampir bist, ein blutsaugender Teufel, und dass sie ein Kreuz bei sich hat, mit dem sie umzugehen weiß”, übersetzte Bastien mit einem ironischen Unterton. „Hör zu, ich gebe dich jetzt an Etienne weiter und werde mit meinem Mobiltelefon im Londoner Büro anrufen, damit jemand zu euch kommt und ihre Erinnerung löscht.”

„Nein, tu das nicht!”, erwiderte Thomas abrupt. Er wusste nicht, warum, aber ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass ein anderer Unsterblicher in ihren Verstand eindrang. Nachdem er tief durchgeatmet hatte, fuhr er fort: „Lass mir ein paar Minuten Zeit. Ich kriege das schon hin. Es ist nicht nötig, ihre Erinnerung zu löschen.”

Er ließ Bastien keine Zeit für einen Einwand, sondern nahm das Telefon vom Ohr und stellte sich wieder dichter an die Badezimmertür. „Hören Sie, Inez, es tut mir ehrlich leid, dass ich Sie gebissen habe. Wie gesagt, Bastien hat darauf gedrängt. Ich hätte nicht auf ihn hören sollen, aber.... es hat doch nicht wehgetan, oder?”

Inez machte eine finstere Miene, ihr misstrauischer Blick war weiter auf die Badezimmertür gerichtet. Wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte der Biss eigentlich gar nicht wehgetan. Ganz im Gegenteil, er war sogar sehr angenehm gewesen.... zumindest bis zu dem Moment, da sie seine Reißzähne gesehen und begriffen hatte, was er ihr angetan hatte. Der Gedanke machte sie stutzig. Sie hatte ihn im Spiegel sehen können, aber Vampire sollten doch gar kein Spiegelbild haben. Vielleicht war er nur ein Freak, der sich ein paar falsche Zähne aufgeklebt hatte. Das war auf jeden Fall wahrscheinlicher als die Sache mit dem Vampir.

Ein Freak war immer noch besser als ein Vampir, oder nicht? Sie grübelte über diese Frage nach, konnte sich jedoch nicht entscheiden, was von beidem schlimmer war. „Was sind Sie?”, rief sie plötzlich. „Irgend so ein Gothic-Freak, der sich für einen Vampir hält?”

„Nein, ich.... ” Er verstummte kurz, dann hörte sie ihn sagen: „Nein, Bastien, ich will nicht, dass jemand herkommt, um ihre Erinnerung zu löschen. Lass mir einfach ein paar Minuten Zeit, okay?” Verwundert lauschte sie der sich anschließenden Stille und rätselte, was er damit wohl meinte, ihre Erinnerung zu löschen. Auch wenn sie nicht wusste, was das zu bedeuten hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie das wollte.

„Nein”, wiederholte Thomas energischer. „Sie ist meine verdammte Lebensgefährtin, Bastien, und du lässt nicht ihre Erinnerung löschen!”

Nochmals stutzte sie. Sie war seine verdammte Lehensgefährtin? Was sollte denn das nun wieder sein? War sie jetzt buchstäblich verdammt, nachdem er sie gebissen hatte? Sie drehte sich zum Spiegel um und musterte den Biss. War aus ihr eine Vampirin geworden? Sie fühlte sich weder seelenlos noch tot, und sie hatte auch nach wie vor ihr Spiegelbild.

„Fünf Minuten mehr oder weniger werden auch nichts daran ändern”, hörte sie Thomas seinen Cousin anherrschen. „Du hast selbst gesagt, dass sie deine beste Angestellte ist. Sie ist intelligent und vernünftig. Ich kann ihr alles erklären. Anstatt Wyatt anzurufen, damit er herkommt, solltest du lieber die Fluglinie veranlassen, für sie einen Platz in der Maschine nach Amsterdam zu buchen.”

Inez wurde hellhörig, als der Name Wyatt fiel. Er war der Präsident der Entwicklungsabteilung von Argent, dem britischen Ableger von Argeneau Enterprises. Er war ihr unmittelbarer Vorgesetzter, ein Mann, den sie stets gut hatte leiden können. Jetzt allerdings fiel ihr ein, dass er ebenfalls allergisch auf Sonnenschein reagierte so wie praktisch alle leitenden Angestellten!

Oh Gott, sie hatte die ganze Zeit über in einem Vampirnest gearbeitet! Wie konnte es nur sein, dass sie das nie zuvor bemerkt hatte? Da es ihr nun bewusst geworden war, fielen ihr auch andere Besonderheiten auf. Keiner aus der Führungsebene des Unternehmens aß und trank so wie andere Leute, nicht mal Tee oder Kaffee. Sie alle waren freundlich, nett und intelligent, aber sie gingen nach einem erfolgreichen Vertragsabschluss nie zusammen irgendwo etwas trinken, und sie kamen auch nicht zu Weihnachtsoder anderen Betriebsfeiern. Bestürzt erkannte sie, dass es nur die unteren Ebenen des Unternehmens waren, die man auf solchen Veranstaltungen traf.

„Ja, wir können den Flug nach Amsterdam noch kriegen”, beharrte Thomas auf der anderen Seite der Tür. „Lass mich nur in Ruhe mit der Frau reden, ohne mich ständig zu unterbrechen.”

Inez konnte Bastiens Antwort nicht hören, doch er musste eingewilligt haben, da sich Thomas auf einmal räusperte und zu ihr sagte: „Hören Sie, Inez. Ich habe jemanden gefunden, der Tante Marguerites Mobiltelefon orten konnte. Es hat sich herausgestellt, dass sie gar nicht in London ist, sondern in Amsterdam. Ich muss hinfliegen, und ich habe bereits den Flug um zehn vor sieben gebucht. Wenn ich den noch erwischen will, muss ich mich bald auf den Weg machen.”

„Okay, dann machen Sie das”, schlug sie vor und hörte ihn auf der anderen Seite der Tür seufzen.

„Das kann ich nicht, wenn ich nicht erst mit Ihnen geredet habe.”

„Es gibt nichts zu bereden. Mir geht es gut”, behauptete Inez.

„Fliegen Sie ruhig nach Amsterdam.”

„Das geht nicht. Ich will Ihnen alles erklären, damit Sie keine Angst mehr vor mir haben”, beharrte er ruhig.

„Ich habe keine Angst vor Ihnen”, log sie.

„Ja, sicher”, kam seine ironische Antwort.

„Okay, vielleicht habe ich im Moment ein bisschen Angst, aber das legt sich wieder”, versicherte sie ihm, während sie inständig hoffte, dass er sie endlich in Ruhe ließ. Sie würde das Hotel verlassen und die Polizei anrufen.... nein, das ging nicht. Man würde sie für verrückt halten. Aber vielleicht konnte sie sich an ihre Kirche wenden. Dort musste doch irgendjemand etwas über das Böse wissen, das im Herzen von London lebte, oder nicht? „Inez, ich kann nicht einfach weggehen.”

Sie kniff die Augen zu, als sie ihn reden hörte, dann willigte sie ein: „Also gut, dann erklären Sie es mir.”

„Das kann ich jetzt auch nicht. Jedenfalls nicht in diesem Moment. Das würde zu lange dauern, und wir verpassen dann unseren Flug nach Amsterdam.”

„Wir?”, wiederholte sie beunruhigt.

„Ja. Würden Sie bitte aus dem Badezimmer kommen und mit mir nach Amsterdam fliegen, damit ich Ihnen alles erklären kann? Ich verspreche Ihnen auch, ich werde Sie nicht wieder beißen.” Inez erwiderte nichts, schüttelte aber entschieden den Kopf. Auf keinen Fall würde sie mit diesem Mann verreisen. Um Himmels willen, er hatte sie gebissen! Wie dumm war er eigentlich, wenn er glaubte, sie würde ihn jetzt noch irgendwohin begleiten?

„Inez? Sie waren den ganzen Tag hier, und es ist Ihnen nichts passiert. Wenn ich Ihnen etwas hätte tun wollen, dann wäre das gleich heute Morgen passiert, als wir allein in der Suite waren. Aber ich habe Ihnen nichts getan, richtig? Stattdessen habe ich Ihnen ein Bad eingelassen und das Frühstück aufs Zimmer bestellt, und ich.... ”

„Und dann haben Sie mich gebissen”, unterbrach sie ihn, bevor er sie daran erinnern konnte, welche angenehmen Gefühle sie zwischenzeitlich für ihn empfunden hatte. Sie hatte ihr Schaumbad genossen und darüber nachgedacht, was für ein aufmerksamer, netter Mann Thomas Argeneau war. Sie war über das Frühstück hergefallen, und mit jedem Bissen hatte sie ihn als noch freundlicher und noch zuvorkommender wahrgenommen.

Und der Tee erst! Nach dem ersten Schluck von diesem goldenen Nektar war ihr Thomas wie ein Gott unter Menschen erschienen. Nach dem Bad hatte sie nach ihm gesehen und ihn schlafend auf dem Sofa vorgefunden. Sie musterte sein Gesicht und erkannte, wie attraktiv er doch war. Am liebsten hätte sie sein seidiges, dunkles Haar berührt, um es ihm aus der Stirn zu streichen.

Doch sie tat es nicht, und genauso wenig brachte sie es übers Herz, ihn aufzuwecken. Stattdessen zog sie sich ins Schlafzimmer zurück und erledigte ihre Telefonate. Als Erstes veranlasste sie, dass die Limousine mit den getönten Scheiben aus der Lagerhalle in die Stadt gebracht wurde; dann rief sie ein Hotel nach dem anderen an, anschließend die Autoverleiher in der Stadt. Sie unterbrach ihre Arbeit nur von Zeit zu Zeit, um nach Thomas zu sehen und sein hübsches Gesicht zu betrachten, während sie sich vorstellte, wie wunderbar es wohl sein musste, mit einem Mann wie ihm das Leben zu teilen.

Jedes Mal, wenn sie bei einem ihrer Telefonate in der Warteschleife landete, saß Inez da und malte sich aus, wie es wäre, nach Feierabend zu einem Mann wie ihm heimzugehen. Sie stellte sich vor, wie er sie an der Tür mit einem Kuss begrüßte, wie ihr der Geruch einer köstlichen Mahlzeit aus der Küche entgegenkam, während er ihr aus ihrer Kleidung half und jeden Zentimeter Haut liebkoste, den er dabei freilegte.... Oh ja, Inez hatte sich in diesen Stunden eine reizende kleine Traumwelt zusammengesponnen, und es hatte sie gefreut, als er nach dem Aufwachen sofort zu ihr gekommen war.... bis zu dem Moment, da er sie gebissen hatte.

„Ich werde Ihnen nichts tun”, beteuerte Thomas. „Wenn ich wollte, hätte ich diese Tür längst aus den Angeln treten können, aber ich habe es nicht gemacht. Ich will Ihnen nichts antun, und ich will Ihnen auch keine Angst einjagen, Inez. Wenn wir die Suite verlassen haben, werden wir ständig von anderen Leuten umgeben sein hier im Hotel, im Taxi, auf dem Flughafen und auch im Flugzeug. Dort werden Sie im Hotel Ihr eigenes Zimmer haben, und Sie müssen sich mit mir nur in der Öffentlichkeit treffen, wo Sie sich sicher fühlen, während ich Ihnen alles erkläre. Sie sind doch bestimmt neugierig, was uns angeht, oder nicht?”

Inez musterte skeptisch die Tür und verfluchte sich dafür, dass sie das Versprechen einer umfassenden Erklärung tatsächlich für so verlockend hielt.

„Bitte”, redete er leise weiter. „Wie lange arbeiten Sie schon für Bastien?”

„Acht Jahre”, antwortete sie unwillig.

„Acht Jahre, genau. Und er sagt, Sie sind eine der besten Angestellten, die er je hatte. Er würde nicht zulassen, dass Ihnen jemand etwas antut.”

„Vor fünf Minuten haben Sie mir noch erzählt, dass er gesagt hat, Sie sollen mich beißen”, hielt sie dagegen.

„Ja, aber er dachte nicht, dass es Ihnen wehtun würde oder dass Sie sich überhaupt daran erinnern würden. Ich sollte den Zwischenfall aus Ihrem Gedächtnis löschen.” Sie reagierte darauf mit einem aufgebrachten Schnauben. „Hören Sie, Inez. Wenn Sie nicht mitkommen und mich alles erklären lassen, dann wird er jemanden herschicken, der hier sauber macht.”

„Sauber macht?”, wiederholte sie verständnislos.

„Ja. Er wird einen Unsterblichen kommen lassen, der Ihnen die Erinnerung an den gesamten Vorfall nimmt.”

„So wie Sie das eigentlich vorhatten?”, fragte sie spitz. „Ja.” Sie schob die Furcht beiseite, die dieser Gedanke in ihr weckte. „Sie haben es nicht geschafft, wieso glauben Sie dann, dass es dem Nächsten gelingen wird?”

„Das werde ich Ihnen auch alles erklären, aber im Augenblick haben wir dafür keine Zeit. Ich muss zum Flughafen fahren. Also entscheiden Sie sich: Wollen Sie hier warten, bis jemand kommt, der Ihre Erinnerung an den Vorfall löscht? Oder wollen Sie mitkommen, mit intakter Erinnerung und ohne jede Gefahr für Ihr Leben?”

Inez zögerte, da sie erst noch ihre Alternativen abzuwägen versuchte, da ergänzte Thomas: „Wenn man Ihre Erinnerung löscht, dann vermutlich bis zurück zu dem Tag, an dem Sie befördert wurden. Dann werden Sie wieder das sein, was Sie vor der Beförderung zur Vizepräsidentin waren.”

„Was?”, rief sie bestürzt. Sie war sich zwar im Augenblick nicht mehr so sicher, ob sie diesen Job weiter ausüben wollte, aber sie war auch noch nicht so weit, ihn sofort aufzugeben. Diese Sache mit den Vampiren, für die sie arbeitete, machte das Ganze etwas unerfreulich. Doch sie war seit acht Jahren bei Argeneau Enterprises, und sie hatte für diese Beförderung eine Menge geopfert und auf ihr Privatleben verzichtet, nur um all ihre Energie in ihre Karriere zu stecken und es bis zur Vizepräsidentin zu schaffen. Das wollte sie sich von niemandem wegnehmen lassen.

„Eine andere Möglichkeit gibt es nicht”, machte er ihr klar. „Entweder Sie begleiten mich nach Amsterdam und lassen mich alles erklären, oder wir warten auf Wyatt, damit er Ihre Erinnerung löscht.”

„Aber nur die Erinnerung an den Biss”, protestierte sie. „Er würde nicht.... ”

„Er wird die letzten Monate komplett auslöschen”, erwiderte er nachdrücklich. „Bastien hätte Ihnen alles über unsere Art anvertrauen sollen, als Sie befördert wurden. Eigentlich hätten Sie ohne diese Erklärungen gar nicht aufsteigen dürfen. Sie wurden nach New York geschickt, um die Wahrheit über uns zu erfahren. Wären Sie nicht in der Lage gewesen, dieses Geheimnis für sich zu behalten, dann hätte Bastien Ihre Erinnerung gelöscht, und Sie wären nie befördert worden.”

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Dummerweise war Bastien zu der Zeit etwas abgelenkt, da er kurz zuvor seiner Lebensgefährtin begegnet war und weil sich noch einige andere Dinge ereignet hatten, die seine Aufmerksamkeit erforderten. Er hat Sie befördert und nach England zurückgeschickt, ohne Sie in alles einzuweihen. Wyatt sollte alles Verdächtige von Ihnen fernhalfen, bis Bastien Gelegenheit gehabt hätte, nach London zu fliegen und das Versäumte nachzuholen. Wenn Sie uns und unsere Erklärungen nicht akzeptieren können, wird Wyatt alles aus Ihrem Gedächtnis löschen, auch Ihre Beförderung.”

Thomas ließ seine Worte eine Weile wirken, dann fuhr er fort: „Wie entscheiden Sie sich? Amsterdam und eine ausführliche Erklärung von mir? Oder Wyatt und damit der Abschied von Ihrer Beförderung?” Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Dann werden Sie Ihren Job ausüben, aber nur so lange, wie man benötigt, um Sie aus dem Unternehmen insgesamt zu entfernen.”

Darüber musste Inez nicht lange nachdenken. Ihre Karriere war zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden. So leicht würde sie sich ihre Anstellung nicht wegnehmen lassen. Vielmehr würden die anderen schon warten müssen, bis sie tot und die Leichenstarre eingetreten war, ehe sie sich von irgendjemandem den Schlüssel zu ihrem Büro abnehmen ließ. Dennoch zögerte sie. Ihr Blick ruhte auf dem Türgriff, aber ihre Finger wollten ihn nicht umschließen.

Schließlich griff sie nach der Halskette, an der ein goldenes Kreuz hing, das während einer Italienreise vom Papst gesegnet worden war. Es musste daher doppelt so wirkungsvoll sein, aber als Thomas sie gebissen hatte, da war es unter ihrer Bluse verborgen gewesen. Nun aber holte sie es rasch hervor und hielt es wie einen Schild vor sich, erst dann schloss sie auf und öffnete die Tür. „Zurück mit Ihnen, Nosferatu!”, herrschte Inez Thomas an und gab sich alle Mühe, die Angst hinter ihrer Wut zurücktreten zu lassen. Zu ihrer Erleichterung wich er tatsächlich sofort einen Schritt zurück. Seine Hände hielt er in einer Geste erhoben, als wolle er ein Wildpferd besänftigen, doch seine Lippen umspielte ein flüchtiges Lächeln. „Ich wusste, Sie würden herauskommen”, sagte er und klang so stolz, als habe sie etwas Lobenswertes vollbracht, nicht aber eine unsagbare Dummheit begangen.

„Sagen Sie Mr. Argeneau, er soll Wyatt nicht herschicken. Wir fahren zum Flughafen”, wies sie ihn an und hielt das Kreuz noch etwas höher.

Thomas nickte und hob das Telefon wieder ans Ohr. „Wir machen uns jetzt auf den Weg. Vergewissere dich, dass für uns zwei Flugtickets bereitliegen.” Er wartete Bastiens Antwort nicht ab, klappte sein Telefon zu und drehte sich um, weil er ins Esszimmer gehen wollte.

Inez holte ihre Handtasche aus dem Schlafzimmer und folgte ihm vorsichtig ins Esszimmer, wobei sie bei jedem Schritt das Kreuz vor sich hielt. Während er damit beschäftigt war, das Ringbuch und seinen Stift in einer Vordertasche des Rucksacks zu verstauen, wartete sie an der Tür. Er wandte sich um und kam zu ihr, woraufhin sie die Tür öffnete und rückwärts die Suite verließ. Auch im Flur ging sie weiter so vor ihm her, damit sie ihm ja nicht den Rücken zuwandte.

„Sie können jetzt aufhören, mir das Kreuz vors Gesicht zu halten”, meinte er gelassen. „Sie machen damit bloß andere Leute auf sich aufmerksam.”

Rasch sah sie nach links und rechts, dabei entdeckte sie im Flur ein Zimmermädchen und zwei Paare, die alle neugierig in ihre Richtung sahen. Daraufhin ließ sie die Hand mit dem Kreuz sinken, hielt es aber weiterhin fest, um gewappnet zu sein, falls er sich vielleicht doch auf sie stürzen würde. Thomas stieß einen tiefen Seufzer aus und machte eine Geste.

„Nach Ihnen.”

„Nein”, widersprach sie. „Nach Ihnen.”

Mit einem Schulterzucken ging er vor ihr her in Richtung Aufzug, sie folgte ihm in sicherer Entfernung und beobachtete aufmerksam jede seiner Bewegungen. Er nickte im Vorbeigehen dem ersten Paar zu, während Inez von den beiden kaum Notiz nahm, dann stellte er sich zu dem älteren Paar, das bereits auf den Aufzug wartete.

„Was für ein schönes Kreuz, meine Liebe.”

Inez warf der Frau einen nervösen Blick zu, lächelte flüchtig und sah Thomas warnend an, als sie entgegnete: „Das wurde vom Papst gesegnet.”

Thomas hob eine Augenbraue, als er ihre Bemerkung hörte, und fragte interessiert: „Von welchem? Dem aktuellen oder seinem Vorgänger?”

Sie stutzte und überlegte, ob einer von beiden wohl heiliger als der andere war, und beschloss, sich mit einer Lüge in alle Richtungen abzusichern: „Von beiden.”

„Das kann ja ein langer Flug werden”, meinte Thomas amüsiert und folgte dem älteren Paar in die Aufzugkabine. Inez stieg als Letzte ein und musste ihm insgeheim zustimmen. Es kam ihr so vor, als sei sie innerhalb weniger Minuten um zehn Jahre gealtert, und unter diesem Gesichtspunkt würde es tatsächlich ein langer Flug werden.

Schweigend fuhren sie bis ins Erdgeschoss, durchquerten die Lobby und saßen bereits im Taxi, als Thomas wieder sprach.

„Am Flughafen werden wir für Sie noch Parfüm kaufen müssen.”

Argwöhnisch sah sie ihn an. „Warum?”

„Weil ich Ihre Angst riechen kann, Inez. Und das weckt bei mir den Wunsch, Sie zu küssen und zu trösten”, gab er freimütig zu.

Erschrocken riss sie die Augen auf, während ihre Erinnerung Bilder hervorrief, wie er sie in seinen Armen hielt, wie er sie küsste und streichelte und welche überwältigende Leidenschaft erwacht war, als er sie gebissen hatte. Sie musste sich zwingen, sich angesichts dieser Erinnerungen nicht sofort an ihn zu schmiegen. Sie hatte seine Berührungen genossen, ja, sogar den Kuss, jedenfalls bis zu dem Moment, als ihr klar geworden war, dass er sie gerade biss. Sie verdrängte diese Bilder und konzentrierte sich wieder ganz auf den Mann, von dem sie vermutete, dass er all diese Dinge irgendwie in ihren Kopf projizierte, dass er sie glauben machte, sie begehre ihn. Erst jetzt wurde deutlich, wie viel gefährlicher dieser Flug für sie werden würde.

„London Gatwick Airport”, sagte Thomas zum Taxifahrer, während Inez sich in ihren Sitz sinken ließ. Als sie sah, wie beim Einatmen seine Nasenflügel leicht vibrierten, fragte sie sich, ob er immer noch ihre Angst roch oder ob er diese Angst von dem Verlangen unterscheiden konnte, das sie bei dem Gedanken an die vorangegangene Umarmung durchflutet hatte. Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und seine sonst so wunderschönen silberblauen Augen leuchteten wie von Feuer erfasst in einem intensiven Silber auf. Unwillkürlich errötete sie, da sie verstand, dass er ihr Verlangen sehr wohl bemerkt hatte.

Sie reagierte beunruhigt, als Thomas auf der Rückbank ein Stück weit zu ihr herüberrutschte, bis seine Hand flüchtig ihren Oberschenkel berührte. Der beiläufige Kontakt löste ein Schaudern aus, das von einer beängstigenden Intensität war. „Schaffen Sie Ihren seelenlosen Hintern ans andere Ende der Sitzbank”, zischte sie ihm zu und warf einen nervösen Blick in Richtung des Fahrers. Bestimmt würde Thomas es nicht wagen, sie hier im Taxi noch einmal zu beißen, oder doch?

„Tut mir leid”, murmelte er. „Ich dachte.... ”

Er führte den Satz nicht zu Ende, ging aber auf Abstand zu ihr und schaute aus dem Seitenfenster, als versuche er, ihre Anwesenheit zu ignorieren. Sie beschloss bis zur Ankunft am Flughafen zu warten, ehe sie ihn auf die versprochenen Erklärungen ansprechen würde. Im Moment genügte es ihr, dass er sie nicht beachtete. Das Schlimmste an allem war, dass sie sich insgeheim nach einem toten, seelenlosen Ding verzehrte.

Als sie durch London fuhren, musterte sie Thomas aus dem Augenwinkel. Sein ausdrucksstarkes Gesicht war zwar blass, aber nicht wie bei einem Toten, sondern mehr wie bei einem Mann, der nur selten in der Sonne war. Seine Wangen wiesen einen gesunden rosa Schimmer auf, und sie fragte sich mürrisch, ob er das wohl ihrem Blut verdankte. Als seine Nasenflügel abermals zu zucken begannen, verkrampfte sie sich unwillkürlich, und als er sich zu ihr umdrehte und sie das silbrige Feuer in seinen Augen bemerkte, da sank sie in sich zusammen wie ein wildes, in die Enge getriebenes Tier.

Zum Glück sah er gleich darauf wieder aus dem Fenster, und sie schaffte es, sich ein wenig zu entspannen.

Sie kam zu dem Schluss, dass seine Idee gar nicht so verkehrt war. Sobald sie am Flughafen angekommen waren, würde sie sich umgehend eine Flasche Parfüm kaufen, da sie nicht wollte, dass er in der Lage war, ihre Gefühle zu wittern. Vor allem nicht jetzt, da sie nun mehr Verlangen als Furcht empfand, nur weil sie sich in der Öffentlichkeit sicherer aufgehoben fühlte. Ja, sie würde auf jeden Fall Parfüm kaufen, denn wenn er ihr Verlangen nicht so leicht wahrnahm, fiel es ihr auch leichter, selbst darüber hinwegzugehen.