Wenn man sich von Westen her näherte, sah die Stadt Krasnojarsk gewaltig aus. Sie erstreckte sich über Felder, Wälder und Schluchten hinweg. Sie schliff die großen, von der Eiszeit in die Gegend geworfenen Steinriesen glatt und trocknete auf dem Weg nach Osten die Seen aus. Sie machte Dörfer dem Erdboden gleich und gebar Wolkenkratzer aus Beton. Dicker Wald verwandelte sich in Kahlschläge, Kahlschläge wurden zu Baustellen, Baustellen zu Vorstädten und die Vorstädte schließlich zur Innenstadt verschweißt.
Durch die Niederungen jagte der Frostwind und zerriss und verwirbelte den schwarzen Qualm aus den Fabrikschloten über der Stadt. Immer dichter verzweigten sich die Gleise. Der Zug hüpfte sanft über die Weichen, die Verbindungsstellen knackten, alles knirschte. Schließlich eine lange, ruhige Bremsung, und der Zug erreichte Krasnojarsk, die geschlossene Stadt, das Zentrum der sowjetischen Rüstungsindustrie. Es fing an zu schneien. Frauen in grauen Filzstiefeln unterbrachen die Reinigungsarbeit an den Schienen und schauten auf den Zug aus Moskau. Auf dem Gang ertönte Arisas Stimme:
»An diesem Bahnhof steigt mir keiner aus!«
»Eine Sonderstadt«, stellte der Mann fest. »Gefängnis für Spezialisten, aber eines, in dem es Urlaub gibt.«
Die Abteiltür ging auf. Eine Frau von der Größe eines Zeitungskiosks, die sich bislang noch nicht gezeigt hatte, warf zunächst einen wütenden Blick auf die junge Frau und schnaufte dann in Richtung des Mannes:
»Tag für Tag höre ich mir eure widerwärtigen Geschichten an. Ihr gehört ins Irrenhaus!«
Der Mann richtete den Blick aufs Fenster und runzelte das Kinn.
Die Frau lachte verächtlich auf und setzte erneut an:
»Ich …«
»Halt den Rüssel, du alte Fettfabrik!«
Die Fremde erschrak und trat einen Schritt zurück. »Schämen Sie sich!«
Die junge Frau flüchtete sich an der Dicken vorbei auf den Gang. Dort wehten an einem Fenster die weißen Vorhänge im Wind. Kurz darauf schob der Mann die Dicke wie eine Kuh aus dem Abteil.
Arisa beobachtete den Vorgang aus der Entfernung, bevor sie den Mann anbrüllte: »Am liebsten würde ich euch beiden die Beine um den Hals schlingen!«
Als sich der Zug wieder schwerfällig in Bewegung setzte, erhob sich ein Mäusebussard vom Dach der erschöpften Lokomotive auf dem Nebengleis. Er stieg im hellen Mondlicht weit in die Höhe und schwebte schließlich unterhalb einer grünen Wolke. Über den zylinderförmigen Waffenfabriken flog eine Flugstaffel im Blau des Horizonts einen Bogen, donnerte auf die Innenstadt zu, durchbrach die Schallmauer und verschwand hinter dem Wohnblockwald. Im Zug lag der Geruch von schwerem glühendem Eisen.
Der Mann sagte, er werde mal nachsehen, ob der Speisewagen eventuell geöffnet sei, und kam schnell wieder zurück.
»Nichts los. Keine einzige Fotze. Außer einem obszönen Weib mit einem Arsch wie eine Betonmischmaschine.«
Vor Ärger zuckten seine Wangen, die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und hinter der Enttäuschung schimmerte Niedergeschlagenheit hervor. Den ganzen Tag saßen sie stumm da, bis ins violette Licht der Nacht hinein. Erst dann öffnete der Mann eine Schnapsflasche, goss sich ein Glas voll in den Hals und sagte heiser:
»Ich liebe den Wodka, so wie wir alle. Wenn ich einmal angefangen habe, kann ich sieben Flaschen am Tag trinken. Bis zum bitteren Ende. Dann kommt Katinka mit dem Besen und holt mich heim. Eine Woche später bin ich wieder ein anständiger Kerl und gehe zum Saufen auf den Bau. Bei der Trinkerei entstehen auf der Baustelle die Minimalergebnisse ganz von selbst in Maximalzeit. Aber wenn ich keinen Wodka kriege, raste ich aus.«
Die junge Frau war müde. Sie wollte schlafen.
»Wie trinkt man denn bei euch? Wahrscheinlich lebt ihr auf die baltische Art. Die Männer kreisen um die Flasche, die Frauen um die Männer, und um die Frauen kreisen die Kinder. Die Flasche hält die ganze Bande auf Trab. Bei uns geht es andersherum. Wir lassen die Flasche kreisen, nicht umgekehrt.«
Die junge Frau schaute den Mann an. Sie wirkte nicht überzeugt. Sein Gesicht versteinerte, und er blickte finster zurück.
»Deine Meinung interessiert mich nicht. Für mich bist du bloß Abschaum.«
Sie saßen still da. Die junge Frau schluckte.
»Ich bin ein Dummkopf, verzeih mir, mein Mädchen«, sagte der Mann schließlich, mit echter Reue in der Stimme.
Sie richtete den Blick aufs Fenster. Draußen glitt der vom Mond erleuchtete Jenissei vorbei, der die Stadt Krasnojarsk teilte. Auf seiner Eisdecke saßen Pilker, Möwen und Kolkraben, am Ufer lagen eingefrorene Prahme und Schlepper. Die matten Sterne in der Ferne schienen auf dem Eis zu schlafen.
Als der Jenissei zurückblieb, trat die junge Frau auf den Gang. Dort lag nun ein Hauch von Frühjahrswind, man konnte ihn sogar durch das Fenster riechen. Draußen fiel leichter Schnee, in großen Flocken schwebte er auf die eisige Erde zu. Plötzlich bremste der Zug ohne Vorwarnung heftig, die Räder dröhnten, die Waggons erzitterten, vom Gleisbett stob weicher Schnee auf, und irgendwo schrie eine Frau. Die junge Frau stieß mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen und fing sofort an zu bluten. Arisa rief am Ende des Ganges mit rauer Stimme:
»Volksgenossen! Wir sind in Taischet. Von hier sind es 4515 Kilometer bis Moskau, und die Uhr geht der Moskauer Zeit fünf Stunden voraus.«
Die junge Frau hielt sich die Stirn und kehrte ins Abteil zurück, wo der Mann damit beschäftigt war, die Scherben eines Teeglases auf dem Fußboden einzusammeln.
Er reinigte die Stirnwunde mit Wodka, klebte das Gazepflaster, das ihm die junge Frau gegeben hatte, darüber und blies ihr zum Abschluss in die Haare. Die verpestete Luft im Abteil löste Übelkeit bei der jungen Frau aus. Sie schnappte sich den leeren Wasserkanister des Mannes, ging auf den Gang und stieg aus dem Waggon. Im Freien war die Luft schneidend kalt und roch nach Kerosin. Hinter einer rötlichen Wolke zeigte sich flüchtig der Mond. Sie ging an der Lokomotive vorbei auf die andere Seite des Zuges. Auf dem Nebengleis war eine gebrechliche Lok umgekippt. Die junge Frau eilte daran entlang und fand bald das Fenster ihres Abteils. Sie stellte den Kanister auf einen Stapel Bahnschwellen, stieg mit einem Bein darauf und wischte das Fenster mit einem schmutzigen Strumpf sauber. Anschließend kehrte sie auf den Bahnsteig zurück und betrat wieder den Zug.
Der Mann röchelte im Tiefschlaf wie ein Starkbierfass. Auch die junge Frau schlief ein, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, frühstückte sie geschwind. Wenige Stunden später wachte der Mann auf. Zuerst zuckte die Hand, dann ein Finger, dann ein Auge; die Zunge bewegte sich, leckte über die Lippen. Schließlich ein Ruck und ein Strecken. Träge richtete er sich auf, zog seinen Trainingsanzug an, machte Gymnastik und bereitete sich eine schwere Mahlzeit zu.
Bis zum Abend saßen sie da. Die junge Frau zeichnete, hörte Musik, aß und zeichnete wieder. Der Mann döste, legte eine endlose Patience und döste erneut. Nach der langen, aber ungezwungenen, bis zum folgenden Mittag reichenden Stille schlug der Mann vor, zum Essen in den Speisewagen zu gehen.
»Man muss im Sibirien-Express wenigstens mal im Speisewagen gegessen haben. Dafür ist er schließlich da, und jetzt hat er sogar geöffnet.«
Die junge Frau schlüpfte in das braune Kleid aus Wollstoff, das sie noch kein einziges Mal getragen hatte. Der Mann tauschte den Trainingsanzug gegen Terylenhosen und ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln. Er zog einen runden Spiegel aus seiner Reisetasche, stellte ihn mitten auf den Tisch und kämmte sich lang und sorgfältig die spröden, schweren Haare.
Der Speisewagen war voll. Per Ellenbogentaktik versuchten die Reisenden, einen Platz zu ergattern. Der Mann bahnte sich dreist den Weg zu einem weiß gedeckten Tisch, an dem ein bärbeißiges Ehepaar gerade seine Mahlzeit beendete. Der Mann hatte einen gepflegten Viereckschnurrbart, bei der Frau spross der Schnurrbart ungebändigt. Auf jedem Tisch standen kurzstielige rosa Plastiknelken in Kristallvasen. Der Mann und das Ehepaar nahmen ein seltsames, sprunghaftes Gespräch auf, unter das sie Wörter mischten wie: Petrowka … Schipok … Samoskworetschje … Warwarka … Soljanoi Dwor … Trubnaja … Kusnezki Most.
Die junge Frau verschloss das Gehör vor dem Lärm, maß mit dem Blick die breiten Fenster ab und dachte an eine Seenlandschaft an einem Sommermorgen, bis eine müde Bedienung geschäftig an den Tisch kam.
»Wären Sie so freundlich und würden dem Fräulein ein Senator-Bier und mir eine Flasche Wodka bringen und dazu ein Tellerchen Wobla?«
»Es gibt keinen Wodka«, sagte die Bedienung säuerlich.
»Warum nicht?«
»Alkoholverbot.«
»Es gibt keine Regel ohne Ausnahme«, sagte der Mann zuversichtlich.
»Es gibt keinen Wodka. Ist das so schwer zu verstehen, verehrter Genosse?«, sagte die Bedienung unwillig.
»Dann bring mir eine Flasche Kognak. Das geht auch.«
Nachdem er den kleinen Teller mit den Fischen und seinen Kognak bekommen hatte, nahm der Mann einen ordentlichen Schluck, zog eine Grimasse und biss ein Stück getrockneten Wobla ab.
»Jetzt bin ich so weit, dass ich etwas zum Essen bestellen kann.«
Die Bedienung sah ihn weiterhin überdrüssig an.
»Als Vorspeise Soljanka. Als Hauptspeise fünfzehn Blinis, Schaschlik, gekochte Teewürste, Salat und eine Flasche Kognak.«
Statt eines Schaschliks bekamen sie trockene Hühnerschenkel, statt des Salats in Margarine gebratene Kartoffeln. Der Mann goss sich Kognak ins Glas und erklärte, Breschnew habe seinerzeit betont, zweihundertfünfzig Gramm Wodka auf einen Schluck sei das richtige Maß für den russischen Mann.
Die junge Frau warf einen Blick auf die schnurrbärtige Frau und hörte kurz zu, was deren viereckschnurrbärtiger Mann zu sagen hatte.
»Für mich hat der Krieg nur fünf Jahre gedauert, und damals wusste jeder, wohin er zielen musste, aber unsere Ehe dauert nun schon achtundzwanzig Jahre, und ich weiß immer noch nicht genau, aus welcher Richtung der Angriff kommt …«
Die junge Frau tröstete sich selbst. Woran man sich nicht erinnert, das hört auf zu existieren. Vielleicht hat es gar nicht existiert.
Der Mann füllte das Glas des Viereckschnauzers und schlug ihm auf den Rücken. Dann sagte er zu der jungen Frau, es sei Zeit, wieder ins Abteil zu gehen. Die angebrochene Kognakflasche nahm er mit.
»Ich kann zwar ohne Grund saufen, aber ich trinke nie allein. Wir Russen bechern immer in Gesellschaft. So macht es mehr Spaß. Der Mann leidet und darum trinkt er, so wie ich jetzt.«
Er packte die Fuselflasche, die ihm die junge Frau mitgebracht hatte, aus und stellte sie mitten auf den Tisch. Lange starrte er die Flasche mit betrübter Miene an.
»Und du, mein Mädchen, zwingst mich, alleine zu trinken.«
Er wischte über die Flasche, platzierte sie neben der halb leeren Kognakflasche und sah die junge Frau mit schlaffer Neugier an.
»Von 1961 bis 1964 lebte ich komplett ohne Geld. Ich hatte keine einzige Kopeke, und trotzdem lebte ich. Hier bei uns ist das möglich. Man kann Graswurzeln auslutschen oder Schnecken von den Blättern pflücken, und Wodka treibt man immer auf. Jeder Schweinerüssel findet seine Unratschüssel, wie man bei uns sagt. Im Winter ist es schwieriger. Aber man kann Zapfen lutschen und Rinde nagen. Der Wodka hat den Vorteil, dass er nicht gefriert, auch wenn es noch so kalt ist.«
Er füllte sein Glas und gurgelte, aß rasch ein Stück grüne Zwiebel und brummte dann vor sich hin, wobei er unwillig zu der jungen Frau hinüberschaute und eine amüsierte Miene aufsetzte.
»Sind alle finnischen Frauen so trocken und kalt wie du? Die russischen Nutten fangen sofort an zu furzen, wenn man sie gebumst hat. So eine bist du nicht, das weiß ich.«
Kaum hatte er die Kognakflasche aus dem Speisewagen geleert, röchelte er schwer, deutete auf die Flasche ohne Etikett und fuhr mit abgewetzter Stimme fort:
»Mir platzt der Kopf. Wahrscheinlich muss ich die noch wegtrinken.«
Die junge Frau verzog sich auf den Gang. Der Zug ratterte in gleichmäßigem Takt voran. Auf dem Dach eines schiefen Hauses neben der Strecke stand ein alter Mann und schippte Schnee. Hinter dem Haus schlängelte sich ein rostiger Bach durch die weiße Schneefläche und verschwand im Dunkel eines ermatteten alten Waldes. Wenig später schluckte massiver Wald alles andere. Am Ende des Waggons riss jemand wütend an einer Harmonika. Das Poltern des Zuges und die scharfen slawischen Klänge des Akkordeons ließen die junge Frau in befreienden Halbschlummer sinken. Sie stellte sich die winterliche Landschaft sommerlich vor, sah eine zitronengelbe Wiese vor sich, die warmen, bläulichen Umrisse des Waldes, vom Sonnenuntergang rot gefärbte Birken, dunkle, kühle Schatten auf den Feldern und eine kleine gelockte Wolke.
Schließlich ging sie widerwillig zur Abteiltür und machte sie vorsichtig auf. Der Mann lag wie ein Aas in seinem Bett.
Die junge Frau schlich sich zu ihrem Bett und setzte sich auf den Rand. Es war feucht im Abteil, der ständig ziehende Tee sorgte für Dunst und schwere Luft. Eine dicke Speichelspur rann dem Mann aus dem Mundwinkel. Sein Gesichtsausdruck war gelassen, als hätte er allem Ungemach und aller Trauer, die ihm in seinem Leben begegnet waren, verziehen. Die junge Frau zog sich aus und legte sich ins lieb gewonnene Bett. Sie dachte an Mitka, wie er mit dem Bleistiftmesser einen Apfel teilte und ihr die eine Hälfte gab. Mitka, der nach Haushaltsseife und Gras roch. Mitka, der, obwohl lethargisch und faul, ein guter Schwimmer und der Schachgroßmeister seiner Schule war.
Und so verlor sich der Tag in der Abenddämmerung, durch die Dunkelheit hindurch gefror die Nacht zu einem blauen Tagesanbruch vor dem Fenster. Der gelbe Mond kehrte der feurigen Sonne den letzten Stern aus dem Weg. Ein neuer Morgen brach an, langsam wurde ganz Sibirien hell. Der Mann machte in Trainingshose und weißem Unterhemd Liegestütze zwischen den Betten, Schweiß auf der Stirn, verschlafene Augen, trockener, übel riechender Mund, im Abteil der klebrige Gestank des Schlafs, das Fenster, das nicht atmete, stille Gläser auf dem Tisch, schweigende Krümel auf dem Boden. Ein neuer Tag brach an, gelbe, bereifte Birken, Kiefernwälder, in deren Schutz sich Tiere flüchteten, frischer Schnee, der in den Ebenen Wellen schlug. Weiße, flatternde Unterhosen, schlaffe Penisse, Mischi, Maschi, Muschi, weite Blumennachthemden aus Flanell, Wollsocken, Schals, Zahnbürsten mit in alle Richtungen abstehenden Borsten, die Nacht saust durch die Dunkelheit und wird zum Morgengrauen, schwere Schlange zum allerheiligsten Klo, Trockenwäsche im Pissegestank, Husten, Scham, peinlich berührte Mienen, dampfende Teegläser, große Platten kubanischen Zuckers, papierleichte Löffel, Schwarzbrot, Viola-Käse, geschnittene Tomaten und Zwiebeln, der Torso eines gebratenen Hähnchens, ein Glas Meerrettich, hart gekochte Eier, Salzgurken, ein Glas Mayonnaise, Fischkonserven.
Die Nacht verfliegt zum neuen Tag. Der Schnee klettert an den Baumstämmen empor, die Stille der Wipfel erlischt, ein Greifvogel sitzt auf einer orangefarbenen Wolke und schaut auf den Zug, der sich ringelt wie ein Wurm.