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Zurück bleibt Irkutsk, die stille, vom Eis umklammerte Frühjahrsstadt. Zurück bleibt Irkutsk mit den gelben Kacheln der Universitätsbibliothek, der rosa Zwiebelkirche, den Parks und Grünanlagen, den lauten, dampfenden öffentlichen Saunas, der müden Erde, der vom rostbraunen Hochwasser überfluteten Anlage, der klassischen Musik aus dem kleinen Lautsprecher am Torpfosten des Parkeingangs, dem Schnee und den weichen Wehen in den Gärten, zurück bleibt Irkutsk, und der entgegenkommende elektrische Zug rauscht auf dem Nebengleis vorbei, es folgen Häuser, kleine, solide Häuser, weiße Fensterrahmen, Blumenschmuck an den Läden, gewitzt geschnitzte Traufen, ein einsamer elfstöckiger Plattenbau zwischen den Feldern, die Spätwintersonne, rauchende Schornsteine, ein Mann, der auf einem Brennholzstapel steht. Das hier ist noch Irkutsk, das russenblaue Bahnhofsgebäude und der undurchdringliche, dschungelhafte Wald. Moor, Zwergwald, Sturmschäden und Kahlschlaglinien, das hier ist nicht mehr Irkutsk, die Baikal-Amur-Magistrale, die der Sumpf geschluckt hat, ein Haus, eingestürzt unterm Schnee. Im Waggon nebenan schweben ein paar von Schellen begleitete Akkordeonklänge in der Luft. Der Zug taucht in die Natur ein, stampft durch das verschneite, leere Land. Alles ist in Bewegung: Schnee, Wasser, Luft, Bäume, Wolken, Wind, Städte, Dörfer, Menschen und Gedanken.

Langsam glitt der Zug die schroffe, schöne Uferböschung entlang, durch plötzliche Felsdruchbrüche und zig Tunnels. In unmittelbarer Nähe des Ufers ragte eine bucklige Insel aus dem Wasser. Auf ihrem einzigen Baum, einem abgestorbenen Kiefernstumpf, hockte ein Seeadler und folgte mit dem Blick der Fahrt des Zuges. Der Baikal war groß wie ein Meer, weit wie ein Universum. Die junge Frau stellte sich sein ultramarinblaues Wasser voller Untiefen, Riffe, großer Inseln, gesunkener Schiffe, ertrunkener Seeleute, ausgestorbener toter Tiere vor. Fische vielleicht. Das Eis hatte sich bereits so weit bewegt, dass breite Spalten entstanden waren. Baikalwracks konnte man nicht erkennen. Von Norden her blies ein schluchzender Wind und brachte das dunkle Wasser in den Spalten zum Zittern. Aufgetaute alte Birken mit unebener Rinde wuchsen in alle Richtungen und verdeckten mit ihrem Geäst den westlichen Himmel. Rings um die Felsinseln wölbten sich Eiswellen vor spärlichem Schilf. An einem Ufer stand ein riesiges Fabrikkombinat, dessen dicke Schornsteine rote Wolken ausstießen. Der Name der Fabrik prangte in lastwagengroßen Buchstaben auf einem Felsen zwischen zwei Zellulosekombinaten: »Woroschilow«. Die junge Frau dachte an Moskau, an die bewölkten Tage im November dort, an die kalten Märznächte, an die Moskwa, an deren Ufer sie oft spazieren gegangen war, an deren schäumendes Wasser und an die Fische, die auf den Ufersteinen verwesten.

Der Mann öffnete eine Wodkaflasche und füllte zwei Gläser.

»Weißt du, was mit Gagarin passierte, als er in seiner Kapsel die Erde umrundete? Er begriff, dass die Erdkugel ein kleines Stück Scheiße im großen Universum ist und dass sie jederzeit zerstört werden kann. Als er aus dem All zurück auf die Erde kam, fing er an zu saufen, obwohl ihm sämtliche Privilegien zur Verfügung standen: das Lebensmittelgeschäft der Astronautengemeinschaft, die Sanatorien der Parteiführung, Krankenhäuser und Westmedikamente. Chruschtschow kaufte ihm sogar ein kleines Flugzeug, um den Genossen aufzumuntern! Aber wie es dann so geht. Gagarin flog mit der Maschine über den Wolken und suchte den Tod. Lange musste er nicht suchen, weil er gegen einen Berghang prallte und starb. Auf Juri Gagarin und die tapferen Kosmonautenhunde Belka und Strelka!«

Am Nordostufer des Baikal hatte man dicht am Wasser eine Zwiebelkirche errichtet, die wie ein Spielhäuschen für Kinder aussah. Um sie herum standen einige Zirbelkiefern, von deren schwankenden Ästen der schmelzende Schnee tropfte. Wenn der Wind stärker wurde, kratzten die weichen, langen Nadeln der Bäume an den zerfasernden Wänden der Kirche. Die junge Frau stellte sich vor, wie sich die schwere Nacht über den Baikal legte und wilde, ruhelose Sterne wie Glühwürmchen zwischen den dichten Kiefernästen aufblinkten. Zwei Motorräder mit Beiwagen fuhren über das Eis. Der eine Beiwagen war rot und voller lebender, aneinandergebundener Hühner, der andere blau. Hier und da kauerten Eislochangler. Mit quietschenden Rädern fuhr der Zug in einem Bogen nah ans Ufer heran. Die junge Frau sah ein kleines Karussell und Klettergestelle für Kinder, die unter dem Schnee begraben lagen. Langsam schlängelte sich der Zug voran, bis er einen fröhlichen Pfiff ausstieß und in einen Tunnel einfuhr. Stille Dunkelheit machte sich breit. Der Zug polterte träge voran, dann hielt er plötzlich an.

Eine halbe Stunde lang stand er im dunklen Tunnel, die stechenden Strahlen der Deckenlampe zeichneten ein Muster auf den Kunststoffboden. Die junge Frau spürte den Atem und die friedlichen Herzschläge des Mannes. Er sah sie unter schweren Lidern hervor an.

»Ein Fall aus dem Leben, meine kleine Beere«, sagte er und ließ sich aufs Bett fallen. »Ein gewisser Kolja kratzte zwei Tage, bevor er vierzig wurde, ab. Wir begruben ihn auf dem neuen Friedhof von Moskau neben der jung verstorbenen schönen Anna Pawlowna Dorenko. Ein Jahr verging, und es kam Christi Himmelfahrt. Magnetischer Wind blies aus dem Norden, als ich, Wowa und Gafur beschlossen, unserem alten Freund auf dem Friedhof Guten Tag zu sagen. Wir nahmen zwei Taschen Proviant und fünf Flaschen Wodka mit. Wowa breitete eine Tischdecke auf dem Grab aus, und Gafur verteilte das Essen darauf. Wir gaben Kolja etwas Wodka und ließen Belomorkanal-Zigaretten aufs Grab fallen, als ein Grüppchen reizender Mädchen auftauchte, und so kam es, dass ich schon vor Mitternacht einen prallen Hühnerarsch bumste. Das Flittchen lag mit gespreizten Beinen auf dem Grabhügel, und ich starrte auf das hübsche Gesicht der Anna Pawlowna, das auf den Grabstein gemalt war. Anna schaute zurück und lächelte. Da dachte ich zum ersten Mal im Leben, dass nach dem Tod vielleicht doch noch etwas kommt.«

Die junge Frau machte die Abteiltür einen Spaltbreit auf. Auf dem Gang spielte ein kleines Lockenköpfchen mit einer Matrjoschka. Es dauerte nicht lange, und die kleinste Puppe, diejenige, die der Schreiner nicht mehr fertig geschnitzt und der Künstler nicht mehr richtig bemalt hatte, fiel dem Mädchen aus der Hand und rollte auf dem Gangteppich zum Klo, dessen Tür nicht geschlossen war und deshalb klapperte.

Der Mann saß in einem bunten Hemd auf dem Bett und schaute müde aus dem Fenster. Man sah nur die felsige Tunnelwand, auf die jemand mit roter Farbe geschrieben hatte: »Der Baikal geht kaputt.«

»Weißt du, was eine Wiener Quadrille ist? Sie geht so: Man holt fünfzig Mann aus einem Kerker und fährt sie mit einem Lastwagen zum Hinrichtungsort. Dort befiehlt man ihnen, sich in einer Reihe aufzustellen. Dann wird zum Beispiel die Zahl Acht ausgegeben. Das heißt, dass jeder Achte erschossen wird. Die Übrigen werden wieder ins Verlies gebracht, wo sie auf die nächste Nacht warten. So was. Und Quadrille heißt es deshalb, weil die Gefangenen zum Beispiel sechs Mal den Platz wechseln müssen, wenn jeder Achte erschossen wird. Zuerst bist du der Dritte, dann der Fünfte, dann bist du der Erste und so weiter.«

Der Zug fuhr ruckhaft an und aus dem Tunnel hinaus. Die Helligkeit des Frühjahrstages blendete. Jemand rief Hurra. Beiderseits des Ausblicks wurden die Ufer des Baikal breiter.

»Letztes Jahr um diese Zeit sah ich vom Fenster dieses Zuges aus zu, wie ein Rettungshubschrauber versuchte, ausgekühlte Pilker von treibenden Eisschollen zu holen. Jedes Frühjahr dasselbe. Die Pilker hocken auf dem Eis, das Eis gerät in Bewegung, und die Kerle treiben auf den Eisschollen. Ein Teil ertrinkt, ein Teil erfriert, ein Teil wird gerettet. Warum nur? Es hat ihnen schließlich keiner befohlen, da hinzugehen.«

Allmählich führte die Strecke vom See weg. Von Osten her schoben sich niedrig ziehende dunkle Wolken heran. Am Rand eines gewellten Ackers, dicht an der Bahnlinie, zappelte ein altes Schneehuhn mit den Flügeln. Weiter weg, ebenfalls an einem Feldrand, duckten sich ein windschiefes Gewächshaus und dahinter der Viehstall einer Kolchose. Vor dem Stall sah man ein Pferd und eine Heufuhre, auf der sich zwei Frauen zu schaffen machten, eine jüngere und eine ältere. Beide stopften Heubüschel durch die kleine Luke des Stallbodens. Dem Pferd hatte man eine schwarze Decke über den Rücken gelegt, ruhig und andächtig kaute es Heu. Ein schwarz gewordener Tretschlitten ragte aus dem Schnee. Die junge Frau hörte, wie jemand an der offenen Abteiltür vorbeiging und sagte, der Baikal reinige sich selbst.

»Die Tataren hatten den Brauch, Kriegsgefangene an tote Soldaten zu fesseln«, sagte der Mann. »Bein an Bein, Bauch an Bauch und Gesicht an Gesicht. So tötete der Tote den Lebenden. Der Gute mag etwas erreichen, aber der Böse kriegt alles. Es ist vollkommen sinnlos, dem Bösen Widerstand zu leisten. Man wird es nicht los, auch wenn so manch einer von der Güte Gottes spricht.«

Die Schienen ächzten in der grünen Dämmerung. Inzwischen war der Baikal weit zurückgeblieben. Die junge Frau stellte sich vor, wie zwischen seinen geheimnisvollen Untiefen seltsame Fische lebten und Medusenschwärme wolkengleich in der Tiefe jenes Meeres schwebten.

Dann bremste die Lokomotive auf einmal wütend. Der Zug näherte sich einem Bahnhof und wirbelte heftigen Wind auf, der den in der Nacht gefallenen graupenartigen Schnee unbändig in alle Richtungen schleuderte. Der Zug hielt am Bahnhof von Ulan-Ude.

Faul stieg die junge Frau aus. Auf dem Bahnsteig kamen ihr drei Katzen entgegen. Bei der einen war der Schwanz gestutzt, die zweite hatte ein glänzendes Fell und lächelte neugierig, der dritten waren die Ohren abgeschnitten worden. Wie betrunken torkelte sie über den gefegten Bahnsteig.

Der nasskalte Nordostwind brachte die herben Klänge einer Balalaika mit, auf den Schienen verschnauften erschöpfte, stille Lokomotiven. Der Mann rannte bloß im Hemd an der jungen Frau vorbei, vorbei auch an dem Straßenfeger und direkt auf das Bahnhofsgebäude zu. Inzwischen hatte der milchweiße, rasch herabfallende Himmel angefangen, die vom Frostwind gezauste Erde mit kaltem Schneeregen zu bewerfen. Deprimierende Tristesse erfüllte das ganze Universum.

Als der Mann zurückkehrte, hielt er in der einen Hand eine Flasche Sauerrahm und eine Einkaufstasche, in der anderen einen Strauß Chrysanthemen, eingewickelt in eine Prawda. Er überreichte der jungen Frau die Blumen, zwinkerte und verschwand flugs im Zug. Unter beiden Armen klemmten Wodkaflaschen. Auf dem Nebengleis kam zirpend ein Regionalzug angezuckelt. Das Volk, das ihm entstieg, dünstete eine dicke Wolke aus gemischten Hausgerüchen aus, der Wind packte die Wolke und schleuderte sie der jungen Frau entgegen. Sie betrat den Zug und ging in ihr Abteil. Dort saß der Mann mit gelassenem Gesichtsausdruck auf dem Bett, die Flaschen hatte er auf den Tisch gestellt.

»Hier haben wir zwei volle Flaschen mit sogenanntem Wodka. Anständiges Land. Zwar herrscht Alkoholverbot, aber hier, im Tal der Randgebietssorgen, weiß man davon nichts. Den Grenzregionen kann keiner Vorschriften machen.«

Er bedachte die junge Frau mit einem sanften Blick.

»Weißt du, Baba Jaga, dass wir uns in der Hauptstadt der autonomen sozialistischen Sowjetrepublik Burjatien befinden? Die kauderwelschen in einer seltsamen Sprache und beten Buddha und Jesus gleichzeitig an.«

Er deutete auf die Haare der jungen Frau.

»Vorne Pony und hinten gerade. Nicht besonders elegant.« Der Mann lachte, legte seine Hand väterlich auf die Hand der jungen Frau und drückte sie.

»Wir passen gut zusammen, die Hexe und Kostschej der Unsterbliche, der Geist des Teufels … Dieses Land beherbergt mehr als hundert verschiedene Nationalitäten. Wenn davon eine oder auch drei vernichtet werden, ist das eine Kleinigkeit. Im Norden hüten sie Rentiere, und in Georgien keltern sie Wein. Hier gibt es die nordische Tundra und die unendlichen Wälder. Im Süden breiten sich die Steppen aus, im Südosten die Sandwüsten, und in Kaukasien ragen gewaltige Berge empor, mit engen Pässen dazwischen. Wenn der Wind rauschend über einen solchen Pass hinwegbläst, bringt er eine große Wolke mit. Es gibt die Küste der Krim und die Sümpfe Weißrusslands. Es gibt die Arschgeigen mit den Birkenrindenschuhen an der Wolga, das kreischende Ringelreihen der Tschetschenen, die Zaubertrommeln der Jakuten, die Rentiere der Tschuktschen, Ainu, Samojeden und Korjaken, die Schafe der Kalmücken und die Säbel der Kosaken, den Schinken aus Tambow, den Sterlet aus der Wolga und die Äpfel aus Rjasan. Und was noch alles … Lass gut sein. Ein Georgier hat mir mal gesagt, die Geschichte der Georgier und der Armenier sei länger und großartiger als die der Russen. Die Russen hätten noch in Höhlen Laute ausgestoßen, als die Georgier schon Kirchen gebaut und Gedichte gemacht hätten. Das ist eine Lüge.«

Der Zug pfiff heiser, und die Räder setzten sich wimmernd in Bewegung. Arisa stand auf der obersten Stufe, hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest und ließ ein Bein in der Luft baumeln.

»Alle fernen Völker und ihre schönen Kulturen blühen strahlender als je zuvor, auch wenn man sie eigentlich russisch machen sollte. Denk nur an all die tausend Sprachen, die bei uns Jahr für Jahr bewahrt werden, obwohl die russische Sprache ohne Weiteres ausreichen würde! Wir Russen sind bescheidene, zähe und geduldige Leute, wir machen den anderen bereitwillig Platz. Aber ewig kann das so nicht weitergehen.«

Er nahm Nadel und Faden aus der Tasche und fing an, den gerissenen Griff der Tasche zu reparieren. Während des Nähens blickte er kurz auf den Lautsprecher, aus dem Beethovens Siebte drang.

»Wenn wenigstens jemand singen würde, aber von dem verdammten Getöse wachsen einem ja Haare in den Ohren.«

Die stattliche Stadt Ulan-Ude mit dem größten Lenin-Kopf der Welt auf ihrem zentralen Platz verschwand in der Ferne, der Zug zockelte durch die wilden Täler und Berge der unterm Schnee begrabenen ewigen Taiga. Schwarze Höhenketten säumten die Ebenen. Die junge Frau dachte an Mitka und an den Maschendraht vor dem Gangfenster der Psychiatrie. Der Diagnose des Militärarztes zufolge war Mitka psychotisch, weshalb man ihm Psychosemedikamente verabreichte. Zwingt man einen gesunden Menschen, solche Medikamente einzunehmen, heißt das nichts Gutes. Mitka war in der Klinik schwer erkrankt, er konnte nichts mehr essen, sein seelischer Zustand war erbärmlich.

Der Löffel klimperte im Teeglas. Hin und wieder unterbrach der Mann seine Näharbeit und beschäftigte sich mit seinen Wodkaflaschen, wischte sie ab, studierte die Etiketten, kontrollierte, ob die Verschlüsse richtig zu waren. Aber er machte sie nicht auf, sondern betrachtete und bewunderte sie nur.

»Wenn ich zwischen zwei Übeln wählen muss, nehme ich immer beide.«

Etwas später legte er Staudensellerie und frischen Knoblauch auf den Tisch und öffnete ein Glas mit kaltem Borschtsch. Der jungen Frau reichte er einen riesigen Löffel. Er schmatzte und schnaubte, und seine großen Ohren wackelten. In gleichmäßigen Abständen fügte er der Suppe kochendes Wasser und Sauerrahm hinzu. Die Suppe schmeckte gut, und der Duft des Selleries erfüllte das Abteil. Der Mann gab der jungen Frau eine Flasche Pepsi.

»Wenigstens einmal während dieser Fahrt sollst du einen heimatlichen Geschmack im Mund haben, mein Mädchen. Das hier ist Breschnews Getränk, und darum trinke ich es nicht.«

Mitten in der Nacht erreichte der Zug den Bahnhof Chabarowsk. Das Stadtschild war von dickem Schnee verhüllt, das galt auch für die Dächer der Waggons, die auf den Gleisen schliefen. Die junge Frau beeilte sich, aus dem Zug zu kommen. Brennender Nachtfrost ergriff ihr Gesicht. Die Luft war so brüchig, dass man nur schwer atmen konnte. Aus einigen Lampen sickerte gelbliches Licht, vergeblich versuchten sie, den Bahnhof zu erleuchten. Die Stadt war so voll von dichter Nacht, dass die junge Frau schon wieder umkehren wollte.

Sie zwang sich aber weiterzugehen und betrat mit knirschenden Schritten das Bahnhofsgebäude. Kein Mensch hielt sich darin auf, die Fahrkartenschalter waren zu, und im Dunkeln schmollten geschlossene Kurzwarengeschäfte.

Die junge Frau ging durch die Bahnhofshalle, vorbei an einem Lädchen, das Plastikstifte und Notizbücher verkaufte. Eine fette Katze kam ihr entgegen, sah neugierig zu ihr herauf, bewegte den Schwanz, sprang dann über eine Schlammpfütze hinweg, die von den Reisenden hereingetragen worden war, und verschwand hinter einem Zeitschriftenkiosk. Vor dem Haupteingang der Bahnhofshalle war im Laufe des Tages eine große Pfütze entstanden, die in der Nacht abgekühlt war. Eine dünne Eisschicht glänzte auf der Oberfläche.

Am Rand des Bahnhofsplatzes standen zwei schwarze, elchnasige Wolgas, die mädchenhaft lächelten, ein Moskwitsch, ein kleiner roter Jalta und ein giftgrüner Pobeda. Die Motoren liefen, während die Fahrer im Kreis beieinanderstanden und sich unterhielten. Eine dichte Abgaswolke hüllte den Platz ein. Vorsichtig näherte sich die junge Frau den Männern und fragte, ob sie jemand zum Hotel Progress fahren könne. Die Männer brachen in lautes Gelächter aus. Einer mit schwarzem Schnurrbart, in dessen Mund ein Goldzahn blitzte, schnappte sich ihren Rucksack und winkte sie zu seinem Moskwitsch.

Der Fahrer schaltete das Radio ein, und im Nu füllte Galina Wischnewskaja mit der Briefarie der Tatjana den Wagen. Allerdings jammerte die Schaltung, und der Motor brüllte die Arie nieder. Im Licht des Halbmonds leuchtete der gefrorene Schneematsch. Der Fahrer wandte sich der jungen Frau zu:

»Chabarowsk ist die schönste Grenzstadt der Welt. Hier steht das größte Wunder des zwanzigsten Jahrhunderts, die Brücke über den Amur. Auf der anderen Seite liegt China, eine Provinz von uns. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen morgen die Brücke. Ich komme um zwölf vors Hotel. Einverstanden?«

Das grüne Licht eines anderen Taxis huschte vorbei und verschwand im undurchsichtigen Kältenebel. Die junge Frau atmete die Großstadtnacht ein, sie roch in schon vertrauter Weise nach verkohltem Eisen und ofenfrischem Stahl. Im Süden war der Himmel über der Stadt stockfinster, doch im Osten blinkten die schmutzig gelben Lichter des fernen Hafens, am Himmel funkelte ein roter Stern.

Lange musste die junge Frau an der Tür des sechzehnstöckigen Hotels rütteln, bis eine schläfrige, grauhaarige Frau in Pantoffeln kam, um aufzusperren. Die Hotelhalle war äußerst gedämpft erleuchtet. An der Wand hingen Kopien von Cézannes Obststillleben und Wasnezows Kriegern. Die junge Frau legte ihr Hotelvoucher vor und füllte einen Stoß fleckiger Formulare aus, dann stieg sie die Treppe in den zwölften Stock hinauf, der Aufzug funktionierte nicht.

Das Hozelzimmer war groß und das Bett breit und sauber. Der Heizkörper zischte wie ein Dampfbügeleisen. Sie drehte den Hahn an der Badewanne auf. Wütend spuckte er braunes Wasser. Die Millionenstadt schlief fest.

Am nächsten Morgen verhüllte dunstige Dämmerung den gelben Mond zur Hälfte, am östlichen Himmel zeigte sich rasches Purpur. Aus der raschelnden Bettwäsche heraus betrachtete die junge Frau die nach Zigaretten riechende Leselampe aus Terylenstoff. Sie hatte so eine Lampe schon mal irgendwo gesehen, wusste aber nicht mehr, wo. Dann schob sie die vom Leben verfleckten Vorhänge zur Seite und ließ den Morgen herein.

Auf der anderen Seite des Amur, in China, wankte die Sonne und spie eisige Lichtfasern auf die Flachdächer der Plattenbauten. In der Mitte des Flusses verlief eine Fahrrinne, wo sich die losen Eisschollen über Nacht zu Packeis gestaut hatten. Weit unten ratterte mit stechendem Klirren eine rote Straßenbahn vorbei.

Die lebendige Sonne setzte sich in Bewegung. Sie kroch von der Eisfläche des Amur auf die schneebedeckten Dächer der erwachenden Stadt. Gelbrotes Licht, der einheitliche Strom kleiner Schneeflocken sowie der Lärm der zur Arbeit hastenden Einwohner – all das wehte durch das offene Belüftungsfenster ins Zimmer. Zwischen den Schneewällen auf dem baumlosen Boulevard gingen ameisengroße Menschen mit Essenstüten, Räucherfischkisten oder Gurkengläsern. Ein Schornsteinfeger hing an uralten Gurten und putzte den Kamin eines grünen Wohnblocks. Auf den Autodächern glitzerte Reif, Hupen röhrten, Motoren heulten, Auspuffe schrammten über vereistes Bitumen, die Oberleitungsbusse schlugen Funken, Straßenbahnen klonksten von Haltestelle zu Haltestelle.

Die junge Frau duschte, trocknete sich die Haare und zog sich träge und genussvoll langsam an, dann ging sie in die Hotelhalle hinunter, wo man ihr lauwarmen Tee und guten fettigen Fisch servierte.

Draußen hustete der klapprige Moskwitsch, der aussah, als wäre er in Heimarbeit zusammengebaut worden. Als der Fahrer die junge Frau sah, nickte er zufrieden. Sie hörte kurz den herben Klängen eines charismatischen Akkordeons zu, die aus einer fernen Straße herangetragen wurden, eine simple Melodie über eine Liebe, die nie erfüllt wurde, dann schob sie sich auf die Rückbank, und der Moskwitsch schoss scheppernd los. Wo die Mittagssonne den sauberen Schnee auftaute, kam die rußige Schlacke der umliegenden Fabriken zum Vorschein.

Der Fahrer musterte die junge Frau im Rückspiegel. Er war ein wettergegerbter alter Mann, der Rücken von schwerer Arbeit gekrümmt, das Gesicht ausgezehrt, die Augen vertrocknet. Die dichten Augenbrauen wuchsen miteinander und die Koteletten mit dem Bart zusammen, die spärlichen Haare hatte er mit Hausbier in Fasson gefettet. In der Nacht hatte er vollkommen anders ausgesehen. Auch der Goldzahn war nicht mehr zu erkennen.

»Sind Sie Landvermesserin?«

Die junge Frau sagte nichts. Wieder sah sie der Fahrer im Rückspiegel an.

»Ich meine Geologin. Eine ausländische Geologin aus Moskau. Ich fahre, wohin Sie wollen, aber zuerst die Neuigkeiten aus Moskau. Wie geht es dem Roten Platz? Ist er noch der alte? Und die Moskwa? Wie viele Autos gibt es in Moskau?«

Leicht schlingernd sauste der Moskwitsch an einem versiegten, fünfeckigen Springbrunnen vorbei, den gerade mehrere chinesische Touristen fotografierten. In der Sonnenwärme fiel matter Schnee von den Wohnblockdächern und landete in großen Placken auf den Gehsteigen. Dort standen sibirische Menschen, stark und schön, und bildeten krumme Schlangen vor den Geschäften. An den Kreuzungen heulte der Frühjahrswind.

Der Fahrer fuhr in einen Kreisverkehr. Rechts trotzte ein Turm aus scheckigen Arbusen der Frühjahrsglätte, links lagen Holzkisten kreuz und quer übereinander, sie sahen nach Majakowskis Treppe aus.

Der Fahrer setzte die junge Frau an der Amurbrücke ab.

Trotz der hellen Sonne wurde die Brücke von Scheinwerfern auf Wasserhöhe angestrahlt, deren irreales Licht für einen seltsamen Perspektiveindruck sorgte. Die Brücke schlängelte sich förmlich über den Amur. Die junge Frau schaute auf die Lastwagen, die den Fluss überquerten, und auf die Silhouetten der Hafengebäude. Vor den Schlagbäumen blieb sie stehen, weit weg von den Häuschen der Grenzposten.

Über dem Fluss schimmerte fahl der bläuliche Himmel. Der Aprilwind schleuderte der Betrachterin eine Handvoll graupeligen Schnee ins Gesicht. Sie stützte sich aufs Geländer und blickte auf den Fluss hinunter. Nahe dem Ufer und in der Fahrrinne schwappte lebendiges Schmelzeis auf dem bleigrauen Wasser. Dazwischen hüpfte ein hellblaues Benzinfass. In der Fahrrinne herrschte Gedränge. Zwei chinesische Eisbrecher brachen das Packeis auf. Im Eisbrei trieben chinesische, koreanische und russische Frachter, lange Prahme, Schleppkähne, Baggerschiffe und Fähren in allen Größen, die immer wieder Signale ausstießen. Auf dem Ufereis hatten sich braune Lachen gebildet.

Nach einer Weile machte sich die junge Frau auf den Weg zu einer Bushaltestelle. Der Schnee roch nach Frühling. Eine aufgedonnerte Frau kam ihr entgegen, deren geblümter Rock im Wind flatterte. Sie trug einen kleinen Storch, der Flecken auf dem Gefieder hatte und einen Flügel hängen ließ.

Die junge Frau stieg in den Bus, setzte sich hinter den nickenden Fahrer und fuhr zum größten Hafen der Stadt, nach Ochotsk.

Dort schlenderte sie am vereisten, stellenweise auch quatschend schlammigen Ufer entlang. Eingehend betrachtete sie ein durchgerostetes Schiffswrack, das auf der Seite lag, sie lauschte dem melancholischen Heulen des Windes und dem Geklapper der Hafenmaschinen. Bald kam sie an eine Stelle, wo die Uferwellen wild aufwallten, große Eisschollen abbrachen und die Masse dann gegen den schroffen Fels wuchtete. Der Wasserspiegel stieg offensichtlich und mit ihm die Schollen. Auf einem Felsvorsprung kauerten zwei Männer. Ihren kleinen Jalta hatten sie ein Stück weiter weg geparkt. Über einem Feuer grillten die Männer Spieße mit Aland und Kaulbarsch.

Sie winkten die junge Frau zu sich. Die Wintersonne hatte die Gesichter der beiden braun gebrannt, ihre Jacken waren vorne voller Fischschuppen. Der eine dünstete Harz aus, der andere starken Wein, und beide rochen nach Elend.

»Bald kommt der magnetische Sturm auf und nimmt das Eis mit. Besser, man geht nicht mehr am Ufer entlang.«

Die Männer boten der jungen Frau übel riechenden Wodka und wohlschmeckenden Fisch an. Derjenige, der nach Harz stank, hatte unglaublich schlechte Zähne und erzählte, im Sommer sei ein Giftteppich aus einer chinesischen Chemiefabrik auf dem Amur getrieben und habe fast alle Fische getötet.

»Früher konnte man in diesem Fluss Hechte, Welse, Karauschen, Karpfen, Alande und Kaulbarsche fangen. Und jetzt? Nichts mehr. Aber ich fische noch. Ich fische, weil ich immer gefischt habe. Gegen seine Natur kommt man nicht an.«

Ohne sich um die Warnungen der Männer zu kümmern, setzte die junge Frau ihre Wanderung am vermüllten Ufer fort, vorbei an einem verrosteten Transportschlitten, alten Vorhängeschlössern, dem riesigen Rohling einer Boje, einem Fahrraddynamo, einer Erinnerung an eine Feuerspritze, an verrotteten Schubkarren, Stahlstangen, einem Zylinder aus Kupfer, einem kleinen Motor, an Stöpseln, Deckeln, zerschlagenen Wodkaflaschen, Metalleimern ohne Boden, einem verölten Emailletopf, an Hängegewichten, Wasserrohren, Schrotkugeln, einem Traktorlenkrad, dem Boden eines Federbetts und einem durchgerosteten Schild mit der Aufschrift »Hauptstelle der wissenschaftlich-technischen Organisation zur Erforschung der Erschütterungen von Industrieaggregaten«.

Die vitale Frühjahrssonne brachte das Eis am Ufer zum Schmelzen. Der Wind rauschte, und der Fluss stank verdorben. Ein Geruch nach morschem Holz, aufgeweichten Sägespänen, Haushaltsmüll, Öl, Diesel und Abfällen der Frachtschiffe überlagerte den immateriellen Duft des weichenden Eises.

Immerhin lag an schattigen Stellen noch reiner Pulverschnee. Dort fühlten sich die Sumpfvögel wohl, die mit ihren glatten Schnäbeln Löcher ins Flusseis schlugen. Jemand hatte mit weißer Farbe auf die felsige Uferböschung geschrieben: »Nieder mit Jermak, nieder mit den Stalin-Hitlern!« Ein heimtückischer Wind zerrte an einem kleinen Frachter mitten im Packeis, und aus den zerfaserten Schornsteinen des sechswandigen Hafengebäudes stieg dünner, bläulicher Qualm auf.

Die junge Frau erklomm den hohen Uferwall. Unmittelbar über ihr schwebte ein tausendköpfiger Schwarm Wildgänse. Vom Oberlauf des Flusses strömten trübe Wassermassen herbei und ließen die Eisschollen immer höher steigen. Das Grollen nahm zu. Auch die letzten Eisfelder zerbrachen zu Schollen, die sich übereinanderschoben und gegen die Uferböschung krachten. Nichts konnte die Wucht des Eises aufhalten, es zermalmte sämtliche Konstruktionen und Stege am Ufer. Die junge Frau kletterte auf einen Felsen. Dort war ein Herz hineingeschlagen worden, in dessen Mitte stand: »Walentina + Wolodja 14.8.1937«.

Sie stieg immer weiter nach oben und sah dann etwas weiter weg einen kleinen Park, zu dem ein Trampelpfad führte. Dort setzte sie sich kurz zum Ausruhen auf eine Bank. Die gelassen vom blassblauen Himmel herabblickenden Wolken rochen ebenfalls nach Frühling. Sie lauschte dem fernen Ochotskischen Meer und betrachtete die Baustellen der modernen Wohnblocks, die langsam in der Erde zu versinken schienen. Hinter einer verschneiten Zirbelkiefer tauchte eine Militärkapelle auf. Die Musiker trugen schwarze Mäntel und schwarze Pelzmützen mit Kokarden und bewegten sich mit Trippelschritten auf einen kleinen Springbrunnen im Park zu. Vor dem zugeschneiten Brunnen stand ein Pfahl, an dem eine Lampe mit Blechhaube befestigt war. Sie klapperte scharf im mäßigen Wind, der vom Fluss kam. Die Musiker stimmten ihre kalten Instrumente, dann schwenkte der Dirigent den Taktstock, und ein leichter Militärmarsch erscholl.

Gegen Abend fing es an, Eisnadeln zu regnen. Die junge Frau irrte noch immer durch die Stadt. Über den unebenen Straßen hing das grellrote Licht der sterbenden Sonne. Als sie weiter aus der Innenstadt hinausging, wurden die Straßen zunächst schmal und kränklich und verliefen launisch, wurden dann aber gerade und übersichtlich. Sie sehnte sich nach Moskau und Arbat, wo sich die engen Straßen lustig schlängelten. Allmählich erzeugte der böige Ostwind Schneegestöber. Er zerriss die Wolken und ließ den Himmel aufklaren. Da machte sich die junge Frau auf den Weg zurück ins Stadtzentrum.

Im Hotel ging sie direkt zum Restaurant. An der Tür hingen drei Schilder: »Geschlossen«, »Zur Abendessenszeit geschlossen«, »Geschlossen wegen Inventur«. Das Restaurant war voll, und die junge Frau trat ein. Neben Einheimischen saßen ein paar chinesische Handelsreisende, zwei Koreaner und der eine oder andere japanische Hotelgast. Eine Bedienung mit birnenförmigem Körper wies ihr einen Fenstertisch an, wo bereits eine dünne Frau mit lebhaftem Gesicht und struppiger Pelzmütze saß. Die beiden Frauen blickten sich im Saal um und sahen zwischendurch einander an. Die Dünne nahm ein schönes Zigarettenetui aus ihrer jugoslawischen Handtasche und rauchte mit einer Zigarettenspitze aus gelbem Bernstein. Ihre Handgelenke waren zart und schön.

Die junge Frau bestellte Hirsebrei, Sauerkraut und Kotelett, in Wodka gequollene Erbsen, Lauchzwiebeln und Rührei mit Tomatenscheiben.

»Ist in Ihrem Bad alles in Ordnung?«, fragte die Frau. »Ich kann nicht schlafen, weil der Gasboiler die ganze Nacht pfeift und dröhnt. Ich bin so einen Lärm nicht gewohnt. Die letzten fünfzehn Monate habe ich in der Taiga verbracht, das Stadtleben greift meine Nerven an.«

Sie schmunzelte, rückte ihre Pelzmütze zurecht und nahm eine neue Zigarette aus ihrer kleinen Handtasche.

»Monatelang haben wir weit im Norden nach Öl gesucht, aber diesmal nichts gefunden.«

Sie zündete sich die Zigarette an und betrachtete lange die Glut.

»Wenn Öl gefunden wird, machen die Planierraupen alles platt, und es werden Ölpumpen installiert. Die Hunde werden erschossen, weil man sie nicht mehr braucht. Die Dorfbewohner werden abtransportiert, ins Nachbardorf, das unter Umständen dreihundert Kilometer entfernt liegt. Straßen gibt es natürlich nicht.«

Sanft blies sie den Rauch auf die rosa Nelke, die allein in der hohen Vase strammstand.

»Dieses Mal sind wir mit leeren Händen abgezogen. Zurückgeblieben ist ein von Geländewagen, Traktoren und Raupenfahrzeugen misshandeltes Dorf. Unsere Niederlage war das Glück der Dorfbewohner. Jetzt fliege ich nach Moskau, um mich auszuruhen, ich habe drei Monate Urlaub. Mit meinen nichtsnutzigen Freunden werden ich über den Mira-Prospekt spazieren, wir werden in Cafés herumsitzen und geistreichen Unsinn reden. Nach drei Monaten Urlaub komme ich immer gern wieder hierher. Mir gefällt es hier. Ihnen nicht?«

Sie sah die junge Frau mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an.

»Ich bin nicht verheiratet, weil ich gern unter Menschen bin. Ich denke wie Tschechow: Wenn du die Einsamkeit liebst, dann heirate.«

Hinter dem Tresen hielten sich mindestens zehn Bedienungen auf. Am einen Ende saß eine aufgequollene Kassendame, die von jungen auf die Entladung ihres Lastwagens wartenden Männern zum Lachen gebracht wurde. Der Türwächter mit dem steifen Rücken plauderte mit einer alten Aufseherin. Diese hockte hinter ihrem kleinen Tisch, in eine gehäkelte Angorastola gewickelt, und spitzte Bleistifte. Vor sich hatte sie ein grünes Plastiktelefon und einen braunen Kalender. In einer Ecke im Eingangsbereich saßen überalterte Putzfrauen mit Blecheimern zwischen den Füßen und riesigen schwarzen Lappen in den Händen. Die Geschirrabräumer hatten einen Restauranttisch in Beschlag genommen, die Garderobiere war auf ihrem knarzenden Stuhl eingeschlafen, umgeben von schweren Wintermänteln.

Dann betrat eine Kapelle in einheitlicher dunkler Kleidung das Podest. Der Bassist war Chinese, der Schlagzeuger sah koreanisch aus. Nicht lange, und die Melodie von Moskauer Fenster schwebte im Zigarettenqualm über der Tanzfläche.

Ein eleganter junger Japaner forderte die Frau mit der Pelzmütze zum Tanzen auf. Bald bewegten sich mehrere Paare langsam auf dem Parkett, bestrahlt von einer Kristalllüsternachbildung aus Plastik, die sich in alle Richtungen streckte. Darunter verdichtete sich alles, was an Fröhlichkeit und Traurigkeit in der dunklen, in nächtlicher Feuchtigkeit schlummernden Stadt vorhanden war.

Draußen wirbelte der Wind Schneeflocken auf. Lenin winkte unbeschwert mit einer Hand zum Fenster herein. Es dauerte nicht lange, bis sich die Frau mit der Pelzmütze von ihrer jungen Tischnachbarin verabschiedete und mit ihrem Japaner in den Tiefen des Hotels verschwand.

Die junge Frau verließ das Restaurant. Draußen war der entfärbte wolken- und sternenlose Himmel ihr Begleiter auf dem Weg durch die im Schlaf versinkende Stadt. In einer Seitenstraße steckte sie den Kopf zur Tür eines Bierlokals hinein, und bitterer Rauch schlug ihr entgegen. Sie zögerte kurz, trat aus Neugierde aber ein. Auf dem schmutzigen Boden lagen zwei betrunkene Muschiken. Sie bestellte ein Glas Bier, bekam jedoch ein blaurotes Gebräu, das übel schmeckte. Sie stellte das Glas auf den Tisch und ging.

Um sie herum weitete sich die menschenleere, undurchdringliche Nacht. Nur der Wind bewohnte die finstere Stadt, begleitet vom Schneetreiben. Sie kam am Denkmal von Chabarowsk vorbei, der einen erbärmlichen Fichtenschössling in der Hand hielt, ging einen Boulevard mit Laubbäumen entlang und betrachtete die prächtigen Ornamente an den Häusern. Von zwei Straßen wählte sie immer die schmälere. Die Häuser waren dunkel, nur in wenigen Fenstern brannte mattgelbes Licht.

Irina hatte sie zum ersten Mal im Lenin-Mausoleum geküsst. Es war so schnell und zart vonstattengegangen, dass die jungen Wachsoldaten es nicht gemerkt hatten. Oder falls doch, so hatten sie ihren Augen nicht getraut. Als die beiden Frauen nach Hause zurückkehrten, wurden sie von Mitka mit einem schiefen Lächeln begrüßt. Auf den zweiten Kuss musste die junge Frau lange warten. Als es dann geschah, gab es kein Zurück mehr. Es passierte zur selben Zeit, in der Mitka, mit Gurten fixiert, in der Irrenanstalt lag. Und dann kam der Tag, an dem Mitka freigelassen wurde. Es war für sie alle ein Freudentag, auch wenn Irina und die junge Frau wussten, dass ihnen und Mitka das Schlimmste noch bevorstand.

Nachdem sie lange genug nach Süden und nach Norden gegangen war, beschloss die junge Frau, mit der Straßenbahn zum Hotel zurückzufahren.

In der Stadtmitte stand ein großes Kaufhaus. Daneben lag ein schmutzig gelber Schneehaufen, und vor dem Eingang breitete sich eine teichgroße Schlammpfütze aus, um die alle Leute einen sorgfältigen Bogen machten. Mitten in der Pfütze stand eine stolze Möwe. Die junge Frau stieg die schmierige Kaufhaustreppe hinauf, kaufte eine kleine Flasche Parfüm der Marke Rotes Moskau und zwei Tafeln Schokolade. Auf der einen war Puschkin abgebildet, und auf der anderen lächelte ein kleines Mädchen mit Kopftuch. Als sie am Abend schließlich mit forschen Schritten zum Bahnhof ging, fiel der wilde rote Stern hinter einen bereiften Rosenbusch, die Straßenlaternen erloschen lautlos, und um die junge Frau herum wuchs die Dunkelheit Asiens. Sie hörte den fernen Pfiff eines Zuges und sah die Gleise in der Finsternis glänzen. Ein Regionalzug kroch heran und entlud einen Strom von Werktätigen, der rechts und links an der jungen Frau vorbeizog.

Frierend eilte sie durch die halb offene Paradetür in die Bahnhofshalle. Der ölige Boden blinkte, und in den Pfützen schillerten Lichttropfen aus den Kronleuchtern. Dort, im Gewölbe der Bahnhofshalle, traf sie den Mann. Er roch nach Sauerkraut, Wodka, Zwiebelsuppe und Apotheke. Seine Anwesenheit besänftigte ihr ängstliches Gemüt.

»Ist dir schon aufgefallen, dass alle Städte und Ortschaften gleich sind? Hast du eine gesehen, hast du alle gesehen. Aber jetzt gehen wir Hühnerbrühe und dünne Nudeln essen, denn bald fahren wir ins Land der Mongolen.«