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Zuerst verschlangen sich die Schienen zu Strängen, der Zug wurde heftig hin und her geworfen, dann folgte ein quietschendes Bremsen, als würde Glas über eine Metallplatte gezogen, und schließlich hielt der Zug am Bahnhof der sibirischen Hauptstadt Irkutsk: zwei Tage Aufenthalt.

Das ockerfarbene Bahnhofsgebäude mit den weißen Ecken stand düster an seinem alten Platz. Davor betrachtete der Bahnhofsvorsteher regungslos den gerade eingefahrenen Zug. Die junge Frau drehte sich auf die andere Seite, und schon stürzten sich ungeordnete Erinnerungen und Eindrücke auf sie, Menschen, die sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Als sie aufwachte, war sie schweißnass.

Der Mann sah sie mitleidvoll an, und das tat ihr gut.

»Die Seele des anderen ist ein dunkler Abgrund«, sagte er leise. »Aber lassen wir die Seele in Ruhe. Jetzt gehen wir in den Wald. In den Essenswald!«

Die junge Frau zog sich schnell an, der Mann langsam und gewissermaßen würdevoll. Er schlüpfte in eine alte, grünliche Anzugjacke, knöpfte sie fest zu und kämmte sich die Haare dandyhaft nach hinten. Zum Schluss holte er die Schuhe unter dem Bett hervor. Es waren eine Art pelzgefütterte, robuste Springerstiefel mit gekappten Schäften und spitzen Absätzen.

Auf dem verschneiten Bahnsteig erwarteten sie frühjahrshaft milder Frost, lautlose Schneeflocken und ein Hundegreis, der mit dem Schwanz wedelte und einen schweren Knochen im Maul trug.

Die Bahnhofshalle war warm, die Luft darin trocken. In den Ecken trieben sich melancholische Reisende herum, auf den Holzbänken saßen Leute in schweren Winterkleidern, das leise Stimmengewirr der Reisenden drang herüber. An einem Ende der Halle befand sich eine Cafeteria, wo durch ein rundes Fenster tropfenweise winterliches Licht in die vom Samowar mit Dampf erfüllte Luft eindrang.

Durch eine niedrige Seitentür traten sie ins Freie. Vor der Gebäudemauer fanden sie die Händler mitten im Schlamm. Mit einem Winken grüßte der Mann die alten Frauen, steuerte aber auf einen betagten Mann zu, der eine Mütze ohne Schild trug. Sein Verkaufstisch war voller getrockneter Pilze. Der Mann unterhielt sich eine Weile mit dem Alten und reichte ihm schließlich ein in China gefertigtes Ringschlüsselset. Der Alte untersuchte die Schraubenschlüssel lange, bevor er unter seinem Tisch ein paar geräucherte Omul-Fische und eine Kiste mit dem gleichen Baikal-Omul, aber gegrillt, hervorholte.

Wenig später standen der Mann und die junge Frau vor dem Verkaufstisch einer alten Frau mit schwarzem Kopftuch. Hinter ihr qualmte ein fleckiger Grill, in dem sich blütenweiße, schlecht gerupfte tote Hühner drehten. Die Alte hatte lediglich drei Eier zu verkaufen.

Der Mann zählte ihr einen Haufen Ein-, Zwei- und Drei-Kopeken-Münzen in die Hand.

Sie trieben sich noch eine Weile zwischen den Händlern herum, wobei sie ständig die vertraute Aromamischung aus Knoblauch, Wodka und Schweiß in der Nase hatten. Der Mann kaufte in Irkutsk angebauten Tee, Buttermilchpiroggen, Weizenmehlhörnchen und Zuckerkringel, die junge Frau Plätzchen aus Tula, Kekse der Marke Goldenes Etikett und Prjaniki.

Dann stiegen sie die Fußgängerbrücke hinauf. Die unbeschwerte Spätwintersonne tönte den frisch gefallenen Pulverschnee rosa, wodurch ganz Irkutsk aussah wie eine Miniatur aus Marzipan. Die Luft war stechend dünn, der Mann keuchte. Mit schwirrenden Flügeln flatterte ein Sperlingsschwarm über ihre Köpfe hinweg. Lange blieben sie schweigend auf der Stelle stehen. Vor der ewig geschlossenen Hintertür der Bahnhofshalle befand sich eine von mehligem, leuchtend weißem Schnee überzogene Mistkaute, auf der an die zwanzig verrotzte streunende Katzen herumsprangen. Eine satte Eule beobachtete sie von einem Holzkreuz aus, das im Mist daneben festgefroren war. Sie gingen weiter zu den Kiosken. Auf deren Dächern und um die Laternenpfähle herum glitzerte der Schnee. Die junge Frau nahm die Mütze ab und ließ die Haare auf die Schultern fallen. Sie stellte sich in eine lange, muntere Zigarettenschlange, die sich zwischen zwei Geländern gebildet hatte, der Mann in eine plaudernde und zankende Zeitungsschlange. Er kaufte die Prawda und die Literaturnaja Gazeta. Als Wechselgeld bekam er einen in der DDR hergestellten steinharten Lolek-und-Bolek-Kaugummi. Nach langem Verhandeln gelang es der jungen Frau, Prima-Zigaretten und Baikal-Papyrossi zu erstehen. Aus irgendeinem Grund war der Verkäufer nicht bereit, ihr Belomorkanal zu verkaufen, obwohl er davon ein ganzes Regal voll vorrätig hatte. Nachdem der Mann die Zigaretten entgegengenommen hatte, drehte er eine der Prima-Schachteln in der Hand hin und her. Sie war mit einem Raumschiff verziert.

»Die Baikal stinkt nach Hundepisse. Die Prima schmeckt nach Pferdekacke und Breschnew, die Belomorkanal wiederum nach dem echten Väterchen Stalin.«

Sie gingen auf dem Bahnsteig zu ihrem Waggon zurück. Im Rauch schwebten einige große Frühjahrsschneeflocken. Die junge Frau blickte nach oben und ließ sich welche davon aufs Gesicht fallen. Der Mann starrte zu den Kiosken hinüber.

»Ich habe noch nie Georgier Schlange stehen sehen. Jetzt bin ich auch Zeuge dieses Wunders geworden.«

Im Waggon waren noch die letzten Reinigungsmaßnahmen im Gange. Die Waggonbediensteten hatten die Teppiche hinausgebracht, Sonetschka hatte den dicht gewebten Fußboden im Gang gesaugt und Arisa die Toilette geputzt sowie mit einem schwarzen feuchten Lappen die Türklinken und die Handläufe im Gang abgewischt. Der Mann und die junge Frau bestiegen den Waggon erst, als Arisa und Sonetschka die Teppiche zurückgelegt hatten. Im Abteil breiteten sie ihre Einkäufe auf dem Tisch aus und richteten gemeinsam das Frühstück her.

Der Mann hantierte mit dem Samowar, rückte ihn unnötig vor und zurück, öffnete immer wieder den Deckel und überprüfte viele Male, ob der Stecker auch gut in der Steckdose saß. Hinter dem Bahnhofsgelände rauchte die Sonne, das ganze Universum rauschte. Der Mann kochte Wasser, gab eine tüchtige Portion der gerade erstandenen großen, ganzen Teeblätter in die Kanne und wartete. Nach zehn Minuten hatten sich die Blätter am Boden der Kanne abgesetzt. Er goss sich den nahezu schwarzen Tee in sein Glas, stellte einen ganzen Zuckerklumpen aufrecht hinein wie einen Eisberg und kostete mit drei kleinen Schlucken. Dann reichte er das Glas an die junge Frau weiter. Sie probierte den Tee. Er schmeckte sanft und kräftig. Der Mann wollte das Glas zurückhaben, schlürfte drei Mal daraus und gab es erneut der jungen Frau.

»Mein Großvater kam im Jahr ’33 ins Erziehungslager. Er war durch und durch ein Dieb und bewahrte das Geheimnis des siebten Siegels bis zu seinem Tod. Auch mein Vater führte ein Vagabundenleben und besaß nichts als eine schlechte Handschrift. Er lebte in einer Welt, wo die Kneipe die Kirche war, das Zwangsarbeitslager ein Kloster und das Trinken die höchste Stufe des Bemühens. Er stolperte über einen ehrlichen Raubmord, Lucifers Netz zog sich um ihn herum zu, und schließlich landete er im Keller des KGB, von wo aus man ihn im Jahr ’35 in ein Drei-Sterne-Zwangsarbeitslager steckte, im selben Jahr, in dem Stalin verkündete, das Leben des Sowjetmenschen sei fröhlicher geworden. In ein Drei-Sterne-Lager, also in ein gutes Lager. Fünfundvierzig Jahre brummten sie ihm auf. Damals konnte das Leben im Arbeitslager für manchen Armen und Hungrigen erträglicher und sicherer sein als das Leben in einer großen Stadt. Auch der Alte erschrak über das Urteil nicht, denn er war Schlimmeres gewohnt. Im Jahr ’42 saß Stalin in der Scheiße. Die Nazis standen dreißig Kilometer vor dem Roten Platz, und ihre Aufklärungsflugzeuge flogen bereits über Stalingrad. Da beschloss der Generalissimus in seiner Not, alle Kriminellen in den Arbeitslagern zu befreien, sofern sie schworen, an die Front zu gehen, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wenn du an die Front gehst, wirst du freigesprochen, und nach dem Krieg bist du ein freier Mann. Mein Alter schnappte nach dem Köder und kam raus, so wie Zehntausende andere auch. All die Mörder, Diebe und sonstigen Strolche wurden in Waggons gepfercht und an die Front gekarrt. Unterwegs, an der ersten Etappe, stieß der Alte auf meine jungfäuliche Mutter, die es furchtbar eilig hatte, schwanger zu werden, bevor auch noch der letzte Mann im Krieg verschwand, und weil das Angebot nun mal stand, bumste er sie. Mein Alter überlebte den Krieg, aber nach dem Krieg wurden alle Kriminellen, die an der Front am Leben geblieben waren, direkt wieder in dieselben Lager geworfen, aus denen sie gekommen waren. Der einzige Unterschied für meinen Vater bestand darin, dass sein Lager jetzt voller Litauer war. Dort ist er dann gestorben, an Durchfallfieber.«

Der Mann leckte sich die trockenen Lippen und sah die junge Frau nachsichtig an.

»Dir kann man schön Geschichten erzählen, mein Mädchen, weil du überhaupt nichts verstehst. Meine Mutter brachte einen neuen Mann für sich auf die Welt.«

Er stand auf und machte routiniert dreiundfünfzig Liegestütze. Seine Oberschenkel waren muskulös, und er hatte ein kräftiges Gesäß.

»Das Leben diktiert jedem von uns sein strenges Gesetz. Das wirst du irgendwann verstehen oder eben nicht. Ich war im Jahr ’48 im Pionierlager, direkt nach dem Krieg. Die Jungen aus der sechsten Abteilung durften im klaren Wasser des Komsomol-Sees schwimmen. Dieser See war insofern außergewöhnlich, als der weiche Sandboden abrupt abbrach, und die kleinen Jungen fanden es natürlich lustig, die Arschlöcher, die nicht schwimmen konnten, in die kalte Tiefe zu stoßen. Wir Pionierpimpfe mussten in Teich Nr. 6 schwimmen. Das war ein kleines, schlammiges Pionierloch, dessen Wasser trüb und viel zu warm war. Eines Tages, als wir dort planschten, hörte man einen fürchterlichen Knall. Er kam ganz aus der Nähe. Jemand rief um Hilfe, und wir sahen, dass am Seeufer schwer was los war. Wir waren natürlich neugierig und rannten gleich hin. Am Ufer hatte sich ein grölender Kreis gebildet. Ich versuchte mich vorzudrängen, um zu sehen, was da eigentlich vorging, aber die älteren Jungen stießen mich weg. Dann kam einer der Leiter, so ein Schrank. Er bahnte sich einen Weg in die Mitte des Geschehens, und bei der Gelegenheit konnte ich einen Blick in den Ring werfen. Und was sah ich da? Dort lag Jura, ganz still, mit nur noch einem Bein. Er zitterte nur so, und es drang kein Laut aus seinem Mund. Der Leiter befahl uns, auseinanderzugehen. Jemand rannte los, um den Lagerlastwagen zu holen, und ein anderer Leiter brachte Verbandszeug. Der Schrank flößte Jura Wodka ein, und mit Wodka spülte er auch den Beinstumpf ab. Dann fuhr der Lastwagen vor und brachte ihn weg. Am nächsten Tag sagte niemand ein Wort über den Vorfall. Die Jungen hatten auf dem Grund des Sees eine Mine entdeckt und ans Ufer geworfen, wo Jura, der Spucknapf, gerade eine Sandburg baute. Danke, Genosse Stalin, für eine glückliche Kindheit!«

Fahles Licht fiel vom Himmel. Die junge Frau beschloss, in die Stadt zu gehen. Der Mann zog es vor, im Zug zu bleiben und sich auszuruhen. Auch er wollte allein sein.