Rotbuntes Licht drang grell durch das Abteilfenster und spaltete den Raum. Das Bett des Mannes lag im Schatten, das der jungen Frau im Licht. Der Mann machte sich an seiner Nase zu schaffen. Von schädlichen Nebenwirkungen des Nagellackentferners war keine Spur zu sehen. Am Gangfenster pickten zwei struppige Spatzen.
»Arisa hat geschrien, dass die Lokomotive ausruhen will, also lässt man sie ausruhen. Was meinst du, mein Mädchen, wollen wir losgehen und Bekanntschaft mit den Wodkaläden der Stadt Omsk schließen?«, fragte der Mann mit feistem Selbstbewusstsein. »Aber nicht mit leerem Magen. Zuerst ein bisschen was zu beißen und dann auf die Straße. Eile tötet, denk dran.«
Auf dem Bahnsteig griff die Nebelkälte derart nach dem Atem des Mannes und der jungen Frau, dass sie lange auf der Stelle stehen bleiben mussten. Zwei hungrige Hunde mit flinken Beinen kläfften. Das Bahnhofsgelände wurde von Arbeitsgeräuschen und vom Lärm der Reisenden erfüllt, vom Wimmern der Lokomotiven, vom Rumpeln der Güterzüge, von schepperndem Eisen, von Flüchen, Gegröle und dem haltlosen Lachen alter Frauen. Inmitten des Menschengebräus wedelte eine Frau mit riesigen Fäustlingen. Sie verkaufte dicken Apfelsaft in großen grünen Flaschen. Die junge Frau dachte an den Winter zuvor. Damals war der Krieg in Afghanistan heftiger geworden, und anstatt auf die Lebensmittelproduktion hatte sich der Sowjetstaat auf die Produktion von Waffen konzentriert, und sie hatte in den Regalen der Moskauer Geschäfte nur Dosen mit Milchpulver, Fischkonserven und vereinzelte Mayonnaisegläser gefunden. Überall hatte es nur Probleme gegeben: Zahnpasta-, Seifen-, Wurst-, Butter-, Fleisch- und das ewige Papierproblem. Sogar ein Puppenproblem gab es. Als sie über Neujahr Urlaub in Riga machte, entdeckte sie in einem abgelegenen Geschäft Tomatensaft und Marmelade in Dreilitergläsern und schleppte sie halb tot nach Moskau. Mit diesen Gläsern vergnügten sie und Mitka sich bis März. Sie tauschten die Lebensmittel gegen Ballett- und Konzertkarten, gegen Sekt und wer weiß was alles ein.
Vor dem Bahnhof stiegen sie in einen Bus, auf dessen Armaturenbrett ein kleiner Papagei krächzte. Der Bus seufzte, brüllte auf und zockelte in Schrittgeschwindigkeit dem Stadtzentrum entgegen. Der Mann nickte ein, die junge Frau kratzte mit den Fingernägeln ein kleines Loch ins Eis am Fenster. Sie beobachtete einen verwirrten Trupp Kraniche, der majestätisch am Ufer des Irtysch entlangflog und hinter den hohen Plattenbauten mit den grünen Balkonen verschwand. Die Fabrikschornsteine sahen wie Minarette aus.
Der Bus wankte und schwankte und war nah daran umzukippen, als er einer Gruppe Ölarbeiter auswich, die über die Straße ging. Weit hinter der Stadt breitete sich als dunkler Streifen uferloser Wald aus alten Kiefern aus.
Mit einem Heulen hielt der Bus vor den Überresten des Tara-Tors an, der Mann wurde wach, und sie stiegen rasch aus. Neben dem Tor stand ein flaches Backsteingebäude mit der Aufschrift »Univermag«. An der Stirnwand des Ladens war mit rostigen, verbogenen Nägeln ein Lautsprecher befestigt worden. Er hing traurig im Winterwind, um ihn herum schwebten Fetzen der Pastorale aus der Oper Pique Dame.
Vor dem Eingang stand ein schmuckloser, mit roter Seide ausgeschlagener Sarg aus Kiefernholz. Die Ränder waren mit schwarzer Spitze verziert, auf dem Deckel lag ein Strauß weißer und zitronengelber Nelken. Auf der schneebedeckten Bank unter dem Ladenfenster lag ein betrunken eingeschlafener Mann mit eine Ziehharmonika im Arm. Der Mann und die junge Frau blieben vor dem Sarg stehen. Der Mann nahm den Hut ab und schlug das Kreuzzeichen. Da ging die Ladentür auf, und heraus kamen eine flachbrüstige alte Frau und vier Männer, die schwarzes Kreppband an den Ärmeln ihrer fadenscheinigen Mäntel befestigt hatten. Die Männer griffen nach den weißen Tragebändern, hoben den Sarg auf und trugen ihn in Richtung Stadtzentrum. Schwankend bewegte sich der Trauerzug auf der rutschigen Straße, die von einer Reihe dicht an dicht stehender, an orthodoxe Kreuze erinnernder Strommasten gesäumt wurde.
»Friede seinem geschundenen Herzen«, sagte der Mann.
Als der Begräbniszug hinter der zierlichen, mit blauem Mosaik dekorierten Moschee verschwand, wischte sich der Mann über die Stirn.
»Als junger Mann wurde ich beim Torfabbau auf Vordermann gebracht. Dort gab es einen gewissen Misjka, einen mit flacher Stirn und harter Faust. Ich freundete mich mit ihm an, falls man das Wort in dem Zusammenhang benutzen darf. Ich habe nie ein Wort zu ihm gesagt, aber wir streichelten abends dieselbe Katze … Dann starb Misjka eines Nachts. Jemand hatte ihm zwei Eisennägel in den Kopf geschlagen. Ich fragte den Vorarbeiter, ob ich Misjka auf seiner letzten Reise begleiten dürfe. Geht nicht, sagte der Vorarbeiter, die Vorschriften erlauben so etwas nicht. Also stand ich bloß da und sah zu, wie er fortgeschafft wurde. Getrocknete Spritzer von Scheiße verschönerten den Hintern des weißen Pferds, als es den Mistwagen zog. Der Wagen hatte eine Bretterkiste geladen, in der lag Misjka.«
Sie standen noch eine Weile still da, bevor sie das Haushaltsgeschäft betraten. Ein zerschlissenes, geblümtes Wachstuch bedeckte die kleine Theke. Darauf waren Teedosen, Cremetuben, dünne Nudeln, billige Parfüms und Gürtelschnallen drapiert. Gitter sicherten das niedrige Fenster. Eine Putzfrau mit roten Händen hantierte mit einem nassen, zerfetzten Besen, dass es spritzte.
»Raus! Seht ihr verbannten Hammel nicht, dass hier geputzt wird? Sofort raus!«
Gerade als sie sich umdrehten, um das Geschäft zu verlassen, kam die Verkäuferin aus dem Hinterzimmer. Ihre riesige Nase hatte schlimme Erfrierungen abbekommen.
»Ich höre!«
Der Mann räusperte sich. »Wir wollen niemanden stören, ganz ruhig.«
Die Verkäuferin warf einen Blick auf die Putzfrau und wedelte mit der Hand.
»Warwara Alexandrowna Pelewina, Sie können gehen. Der Boden ist gut so.«
»Meine kleine Ninka, könnte ich zwei Flaschen Pfefferwodka und einen Bund Zwiebeln haben?«, fragte der Mann.
»Ich bin nicht deine Ninka!«
»Pfefferwodka, mein goldener Butterwecken?«
»Gibt’s nicht.«
»Vielleicht gibt es ja doch … zum Beispiel Pfefferwodka.«
»Gibt’s nicht.«
»Und zwei Pilzpiroggen und eine Flasche Mineralwasser?«
Die Verkäuferin starrte den Mann überrascht an. Dann schmunzelte sie, schwenkte ihr üppiges Hinterteil und holte unter der Theke eine große Flasche klaren Schnaps, eine kleine Flasche süßen Bärenblutwein, als Notreserve bulgarischen Fusel und einen Bund Zwiebeln hervor.
Der Mann lachte, zog einige kleine Scheine und eine Handvoll Kopeken aus der Tasche und warf sie schwungvoll auf den kleinen Teller, schnappte sich die Flaschen und die Zwiebeln, sah die Verkäuferin lange an, leckte sich mit der Zunge über die trockene Unterlippe und verließ mit hüpfendem Schritt und sogar leise vor sich hin pfeifend den Laden. Die junge Frau blieb zurück, trollte sich aber auch schnell, weil die Verkäuferin sie feindselig anstarrte.
Sie gingen zur Bushaltestelle. Der Wind wurde stärker, und vom Himmel wirbelte heftiger, herber Schnee herab. Er hatte in der Tundra Kräfte gesammelt und ließ die schwankenden Fichtenzweige gefrieren.
Irgendwann kam der Bus, der nach der Fäulnis des Alltags stank, und die Leute stiegen hastig ein. Am Steuer saß eine aufgedunsene, aus dem Mund nach Zwiebeln riechende Frau mittleren Alters, die sich in einen Wintermantel mit Pelzkragen gezwängt hatte. Die Kälte war über den Bus hinweggegangen und hatte alle Fenster mit Reif überzogen. Mehrere Wolkenschichten jagten über den dunklen Himmel, sie schnitten sich mal unmittelbar über dem Wald, mal in großer Höhe.
Am Bahnhofsplatz stiegen sie aus. Der Wind jagte den Fetzen eines erbärmlichen schwarzen Sacks um das Lenin-Denkmal. Müde trotteten der Mann und die junge Frau zu der Eisdiele an einer Ecke des Bahnhofsgebäudes. An der Tür war ein Schild befestigt: »Renovierung«.
Drinnen roch es nach Lysol. Auf dem schön gekachelten Fußboden standen Milchpfützen, in einer Ecke lagen lecke Tetrapacks. Es war rammelvoll. Der Mann trank ein Glas Wodka, biss in eine Pirogge und sagte, er gehe lieber zum Zug zurück.
Die junge Frau bestellte einen Mayonnaisesalat und eine Portion Eis, zu der mit schwarzer Schokolade überzogene Pflaumen und zweierlei Kekse gehörten.
Der Mayonnaisesalat bestand nur aus Mayonnaise, die Kekse steckten wie Heureiter in der üppigen Eisportion. Die junge Frau betrachtete die Astern auf der Fensterbank, traurige Herbstblumen, in der Vase erschlafft, weil es ihnen an Wasser mangelte. Der Himmel war im unteren Teil von dunklen Wolkenklumpen und oben von geschwungenen meerblauen Wattestreifen bedeckt. Eine schwere Straßenbahn rauschte an der Eisdiele vorbei.
Ohne Eile aß die junge Frau ihr Eis. Die Kekse ließ sie am Tellerrand liegen.
Der Mann rieb sich die Knie, als die junge Frau das Abteil betrat. Aus den beigen Plastiklautsprechern auf dem Gang kam eine Romanze von Tschaikowski. Zurück bleibt Omsk. Die geschlossene Stadt. Das ermüdete, von der Taiga aufgesaugte, gute alte Omsk, von dem die Jugend nichts wissen will. Zurück bleibt das Gefängnis, in dem der verbannte junge Dostojewski knapp dem Tod entrann, zurück bleibt das leblose Denkmal von Dostojewski im Mannesalter, zurück bleibt die Hauptstadt von Koltschaks weißer Regierung, zurück bleiben die Schlangen vor dem Schuhgeschäft, die müde Erde, die grau verschossene Reihe der Blockhüttendatschas. Das ist noch Omsk. Ein einzelnes neunzehnstöckiges Haus mitten in den Feldern, fünfhundert Kilometer Ölleitung, die gelben Flammen und der schwarze Rauch der Ölfördertürme. Wald, Lärchen, Birken, Wald, das ist nicht mehr Omsk, ein unter der Schneelast zusammengebrochenes Haus. Der Zug stampft durch das verschneite, leere Land. Alles ist in Bewegung: Schnee, Wasser, Luft, Bäume, Wolken, Wind, Städte, Dörfer, Menschen und Gedanken.