Die Nacht jagt durch die Dunkelheit und wird zur Morgendämmerung, mürrische Schlange zum Heiligtum des Klos, Trockenwäsche im Pissegestank, Hustenreiz, Scham, betretene Mienen, Schatten dampfender Teegläser vor den Fenstern, große Platten kubanischen Zuckers, papierleichte Aluminiumlöffel, Schwarzbrot, Viola-Käse, Tomatenspalten und Zwiebeln, der Torso eines gebratenen Stubenkükens, ein Glas Meerrettich, hart gekochte Eier, Salzgurken, ein Glas Mayonnaise, Fischkonserven und Dosenerbsen aus Moldawien.
Die Dämmerung flüchtet vor dem neuen Tag, der Schnee klettert an den Baumstämmen hinauf, die Stille der Wipfel schwindet, ein Greifvogel sitzt auf einer türkisen Wolke und sieht auf den Ringelwurm des Zuges herab.
In oranger Färbung machte sich die Stille über der verschneiten Taiga breit. Der Mann saß auf dem Bettrand, stellte die Teegläser auf den Tisch und wartete ungeduldig, dass die junge Frau zu ihm herüberblickte.
»Einmal lebten in Moskau ein Vater, eine Mutter und ein Sohn. In der Kropotkinstraße 65, in einem kleinen Zimmer hinter der Küche der Kommunalka, in einem Haus, in dem Schlösser nicht schützten. Diese Familie war ganz gewöhnlich, die Mutter Verkäuferin im Brotladen, der Vater soff auf Baustellen. War aber trotzdem ein ordentlicher Stachanow. Eines späten Abends, als sie glaubten, der Junge würde schon schlafen, sagte der Mann zu seiner Frau, entweder der Junge oder ich. Die Frau flüsterte zärtlich, warte noch einen Monat, dann ist er nicht mehr da.«
Der Mann wischte sich mit der Handfläche die Nase und schluckte.
»Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Junge von seinem einäugigen Hund und drückte die Tür hinter sich zu. Bei Einbruch der Nacht schloss er sich anderen Geflohenen an und lebte fortan auf den Straßen Moskaus. Diese Straßenkinder schliefen mal hier, mal da, auf einem Haufen, wie die Welpen, zusammen mit Invaliden, Krüppeln, Dieben, Huren, Geisteskranken und Buckligen. Niemand vermisste sie, aber auch sie wollten leben. Je weniger Brot es gab und je mehr Elend, umso größer war der Lebenswille. Angst kannten sie keine, weil sie so jung waren, dass sie noch nicht wussten, was ein Leben wert war. Sie kannten sich und die Welt nicht. So wurde aus dem Jungen ein Kind der Straße. Zu einem Schwellkopf mit eisernem Rückgrat wuchs er heran. Zu einem Sowjetbürger, der puren Wodka pisst.«
Er goss Tee in beide Gläser und gab aus dem Samowar kochendes Wasser hinzu, damit der Tee die richtige Stärke bekam.
»Sag mir doch mal, warum ein Regenbogen niemals hinter dem Rücken des Betrachters wächst.«
Plötzlich hörte man einen dumpfen Schlag, und der Zug bremste wütend. Die Schienen vibrierten, die Waggons schaukelten, vom Bahndamm stieb Schnee auf. Mit quietschenden Bremsen rutschte der Zug weiter, bis er mit einem Ruck zum Halten kam. Kolli fielen aus den Ablagen, Teegläser wurden gegen die Abteilwände geschleudert. Eine Frau kreischte, ein Kind weinte, jemand rannte mit schweren Schritten über den Gang.
»Keine Panik. Alles in Ordnung. Volksgenossen, bleibt in den Abteilen! Hier gibt es nichts zu sehen«, hörte man Arisas beruhigende Stimme sagen.
Der Mann öffnete die Abteiltür einen Spaltbreit. Der Gang war voller Neugieriger. Die junge Frau schaute aus dem Fenster, sah aber nichts als unter Schnee erstickenden Wald. Der Mann trat auf den Gang, und die junge Frau folgte ihm. Die Waggontür stand offen, Leute drängten aus dem Zug, manche ohne Mütze, manche in Pantoffeln. Der Mann schob sich nach vorne durch und sprang in den Schnee, mitten zwischen die gaffende, quasselnde Menschenmenge. Eingeklemmt blieb die junge Frau auf der obersten Stufe stehen. Von da aus sah sie etwas weiter vorne Blut auf den sauberen Schnee tropfen. Direkt neben einem Baum. Sie blickte am Stamm entlang nach oben. Im Geäst der Kiefer hing ein blutiges Bein von einem Elch.
»Das Tier leidet, es muss totgemacht werden«, schnaufte Arisa. »Gebt mir ein Beil, und zwar schnell!«
Als Arisa durch den Tiefschnee wieder zur Lokomotive gestapft kam, schwang ein Beil in ihrer Hand hin und her. Der dreibeinige Elch atmete schnell, und in seinen Augen schimmerte das Entsetzen. Arisa hob das Beil und schlug dem Tier die glänzende Klinge mitten auf den Kopf. Die Klinge drang in den Schädel ein, aber der Elch war noch nicht tot.
Kopfschüttelnd machte sich der Mann auf den Weg zu dem brüllenden, sich windenden Tier, zog sein Klappmesser aus dem Stiefelschaft, ließ es aufschnappen und stach es dem Elch in die Halsschlagader. In einem Bogen spritzte das Blut in den Schnee, und dann war es für einen Moment ganz still.
»Die Fahrt geht weiter!«, rief Arisa scharf und trieb die Leute in die Waggons zurück.
Drinnen wischte der Mann sein Messer am Stiefelschaft ab und klappte die Klinge ein. Seine Hand fuhr auf der Suche nach der Hosentasche an der Hüfte entlang, dann steckte er das Messer mit leichtem Lächeln ein. Die junge Frau wartete, dass sich der Zug in Bewegung setzte.
»Einmal waren wir auf dem Weg nach Pskow, um in einem Kloster Reparaturarbeiten zu machen. Wir saßen in der dritten Klasse und tranken. Der Zug rumpelte langsam durch die verschneite Natur, so wie jetzt. Plötzlich merkte ich, wie der Waggon zitterte. Gleich darauf geriet er ins Kippen, und die Weiber fingen an zu kreischen. Vor dem Fenster sah ich geborstene Schienenschwellen fliegen, und der Schneewall kam näher. Eine scharfe Kurve, im Fenster der Bahndamm, und dann lag der Waggon auch schon im Schnee. Ich dachte, ich bin tot und alle anderen sind es auch. Aber nein, blutend rappelten wir uns auf, jeder in seinem Winkel. Ein Intelligenzbolzen hatte Eisen gebraucht und darum ein Stück Schiene abmontiert. Drei Tage lang gingen wir zu Fuß an der Bahnlinie entlang, bis wir die Türme des Kreml von Pskow sahen. Am Ziel machten wir gleich zwei neue Dächer, und im Frühjahr, als die Bahnlinie repariert, der Schuldige gefunden und hingerichtet worden war, fuhren wir mit demselben Zug nach Moskau zurück.«
Die junge Frau zog ihre Kopfhörer aus dem Koffer, ließ sich aufs Bett sinken und hörte Musik. Zwischendurch schlief sie ein, wachte auf, wechselte dann von Louis Armstrong zu Dusty Springfield und schlief erneut ein.
Der Zug jagte durch die Republik Udmurtien, jetzt ratterte er gelangweilt am Bahnhof Balesino vorbei. Der Mann rieb sich das Kinn. Die junge Frau hörte dem Pfeifen der verstopften Lüftung zu und zeichnete. Streng starrte sie der Morgen an. Der Mann klappte das Damebrett auf und setzte die Spielsteine auf die Felder, die junge Frau nahm Schwarz.
Sie spielten drei Partien, von denen die junge Frau zwei gewann. Der Mann gratulierte ihr, indem er ihr kräftig die Hand drückte.
Lang und andächtig ging die weiße Sonne über dem verschneiten Wald auf. Rauchförmige Wolken hetzten auf der Suche nach einem Rastplatz über das Himmelsrot. Der Mann und die junge Frau saßen schweigend da. Einen Tag oder zwei waren sie in ihre Gedanken versunken.
Es war ein Sommertag mit türkiser Sonne gewesen. Nachdem Julia, Irinas Freundin, das Haus verlassen hatte, ging die junge Frau in Irinas Schlafzimmer und blickte auf die Bakuninstraße hinunter. Die Menschen trugen Frühjahrsmäntel, sogar zwei elegant geschnittene sommerliche Blumenkleider konnte sie erkennen. Gerade als sie den Blick abwenden wollte, bemerkte sie drei Männer unter einer Gruppe alter Ahornbäume. Zwischen ihnen ging etwas Seltsames vor: schnelle Bewegungen, einer strauchelte, Fäuste wurden geschwungen, einer schwankte. Bald darauf sah sie einen roten Blutfleck auf dem weißen Hemd eines dünnen Mannes. Ein anderer rannte davon. Die junge Frau sah ihn ein Messer auf die Fahrbahn werfen. Einer der beiden, die vom Messer getroffen worden waren, fiel auf die Erde, der andere wälzte sich auf dem Gehweg und hielt sich den Bauch. Vor dem Brotladen stand ein Lastwagen. Fünf Arbeiter krümmten sich auf der Ladefläche. Sie rannten dem Messerstecher hinterher, erwischten ihn und brachten ihn auf der Fahrbahn zu Fall. Alle fünf schlugen und traten auf ihn ein. Bald hatte der Messerstecher zig Stadtbewohner am Hals, hauptsächlich Frauen, die mit ihren Handtaschen und riesigen Süßkartoffeln nach ihm schlugen. Die junge Frau hatte den Blick auf die Opfer gerichtet. Beide lagen reglos da, niemand interessierte sich für sie. Ein Wagen der Miliz kam angefahren, und die Menschenmenge ließ widerwillig von dem Messerstecher ab. Ihm spritzte das Blut aus dem Mund und aus beiden Ohren, sein Kopf schwoll an wie eine Wassermelone, ein Bein war unnatürlich verdreht. Zwei Männer stiegen aus dem Milizauto. Sie schleiften die entsetzlich aussehende Fleischmasse zu ihrem Lada und richteten sich auf, wie um zu überlegen, auf welche Weise sie den sterbenden Mörder am besten in ihrem kleinen Auto verstauen sollten. Als einer der Milizionäre den Messerstecher packte, um ihn in den Kofferraum des Lada zu hieven, riss sich der Mann los, hüpfte auf einem Bein und Blut spuckend zur Wagentür und setzte sich auf die Rückbank.
Nach dem quälenden Kreischen der Bremsen, glitt der Bahnhof von Perm ins Zwielicht vor dem Fenster. Die junge Frau blickte auf den Mann, der im Schlaf wimmerte, ächzte, zitterte und vor sich hin murmelte.
Auf dem Gang hörte man Arisas Stimme.
»In dieser Stadt gibt es nichts als besoffene Soldaten.«
Die junge Frau sah den Wind auf einem leeren Gleis mit dem umherirrenden Kadaver eines Kartons kämpfen. Ein kalbgroßer, dünner Hund schlabberte braunes Wasser aus dem kleinen Loch in einer zugefrorenen Schlammpfütze. Wenig später pfiff die Lokomotive laut, und der Zug beschleunigte. Perm, die letzte Stadt vor dem Ural, blieb zurück. In den Lautsprechern wisperte bitter-heiter Rimski-Korsakows Wikinger-Arie. Ab und zu füllten entgegenkommende Züge das Fenster, dann wieder Zäune, Lagerhallen, Gebäude im Bau oder unter Abriss, Licht, Dunkel, Baracken, Zäune, Stromleitungen, sich endlos kreuzende Kabel, Metallschrott, geschändete Landschaft, Licht, Dunkel, wilde Natur und eine alte Lokomotive. Zurück blieb Perm.
Der Mann schlief entspannt auf seinem Bett, mit sanfter Miene. Die junge Frau las in Garschins Roter Blume: »Und er schritt die Freitreppe hinunter. Nachdem er sich scheu umgeblickt und den Wärter nicht bemerkt hatte, der hinter ihm stand, überschritt er das Beet und streckte die Hand nach der Blüte aus, aber er konnte sich nicht entschließen, sie abzureißen. Er verspürte ein Brennen und Stechen in der ausgestreckten Hand und dann im ganzen Körper, als ob ein starker Strom einer ihm unbekannten Kraft von den roten Blütenblättern ausginge und seinen ganzen Körper durchdränge. Er trat näher heran und berührte fast die Blüte mit der Hand, doch schien es ihm, als wehrte sie sich, indem sie einen giftigen, tödlichen Atem verbreitete.«
Dieses Mal löste das Buch keine Beklemmung in ihr aus. Sie dachte an Mitkas Beschreibung der Psychiatrie: ein Ort, an dem sogar die Verrückten in Gefahr geraten, verrückt zu werden. Sie mochte das Buch über den kranken Protagonisten so sehr, dass sie gern mehr über ihn gelesen hätte, über seine seltsam verdrehte Welt, über Mitkas Welt. Sie dachte an das Irrenhaus im Buch und an die Klinik, in der Mitka gerade noch gewesen war. Hatte sich in hundert Jahren etwas verändert? Vielleicht stand in Mitkas Zimmer etwas weniger Wasser auf dem Boden als im Zimmer des Patienten im Buch. Wie viel Zeit war hier nötig, damit die Dinge anders wurden? Konnte die Zeit überhaupt etwas ändern?
In der Ferne schimmerten unscheinbar und flach die Berge des Ural. Sie machten keinen großen Eindruck. Dann huschte an einer Haltestelle ein Schild vorbei, auf dessen nach Westen weisendem Pfeil »Europa« stand und auf dem nach Osten weisenden »Asien«. Einige Stunden später rückten die Berge allmählich nach hinten.
Die junge Frau war eingeschlafen und wachte davon auf, dass der Mann etwas vor ihrer Nase hin und her bewegte. Sein Messer? Erschrocken öffnete sie die Augen.
»Du wächst zu viel, mein Kindchen, wenn du so viel schläfst. Dein Arsch schwillt an, pass auf.«
Er schaute sie gespielt grimmig an, dann stellte er die Papiernelke in die Vase zurück.
Am südlichen Himmel rannten brennende Wolken nach Norden, die blasse Sonne mühte sich über die höchsten Fichtenwipfeln hinweg. Die alten, von zottigen Eiskristallen verzierten Birken sahen aus wie blühende Faulbäume, die in einem verkommenen Garten Trost spenden. Mit geschlossenen Augen saß die junge Frau auf dem Bett. Sie konzentrierte sich, legte beide Hände unterhalb des Halses auf die Brust und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
Nach kurzer Entspannung öffnete sie die Augen und suchte ihre Kopfhörer. Sie sah den Mann an, der Mann machte den Mund auf, ohne sie anzuschauen.
»Mir geht es oft so, dass ich denke, ich tue etwas so und so, und dann mache ich es doch anders. Damals, als ich jung war, als ich die Wimma bumste, dachte ich, das ist eine Fotze, die ich nicht mehr hergebe. Aber wie kam es? Ich spielte Karten und verlor alles, sogar Jacke und Ledergürtel. Weil ich sonst nichts mehr hatte, nahm ich Wimma als Einsatz. Und verlor. Wimma verschwand wie ein Kaninchen im Zylinder des Zauberers, seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Er füllte Wasser in den Samowar und schaltete ihn ein, mit einem kleinen Löffel maß er Tee in die Emaillekanne ab. Dann wurde gewartet, bis das Wasser kochte, der Tee gezogen hatte und man ihn in die Gläser gießen konnte.
»Wenn wir Läuse oder meinetwegen Wanzen wären, dann wäre ich eine Wanze, die unbeweglich auf der Stelle hockt und auf etwas starrt, was sonst keiner sieht. Du aber würdest hin und her schießen, bis du erschöpft wärst und sterben müsstest. Aber wenn wir Kakerlaken wären, würden wir uns sofort unserem Trupp anschließen. Der würde sich gut um seine Mitglieder kümmern, und jeder würde jedem helfen, egal, was passiert. Zusammen würden wir für all das die Verantwortung tragen, was bei uns passiert. Was ist ein Trupp? Eine Clique, ein Zusammenschluss. Menschen, die immer zusammenhalten. Die Kakerlaken haben recht. Im Guten wie im Bösen.«
Der Zug bremste sanft, als er sich der Stadt Swerdlowsk näherte. Lichter und Schatten glitten ruhig vorüber. Weiche, stockende winterliche Dämmerung munkelte in den Nebenstraßen, in den Parks und auf den Plätzen der Stadt. Auf dem Gleis nebenan quietschte ein Regionalzug. Eine Welle von Menschen aus den Vorstädten überflutete den Zwischenbahnhof, der orangefarbene Vollmond reflektierte auf den von Hunden gelb gepissten Schneewällen. Und die Sterne am Himmel wie riesige Öffnungen in eine andere Wirklichkeit, dieselben wie in Moskau und doch andere.
Der Zug schwankte und erhöhte die Geschwindigkeit. Bald sauste er wieder dahin, und all die Dörfer, die einst östlich der Stadt entstanden waren, blieben weit zurück. Der Mann wälzte sich in Kleidern auf dem Bett. Die junge Frau setzte die Kopfhörer auf und schloss die Augen. Von der Musik wurde sie ins herbstliche Moskau geführt, wo der graubärtige Hauswart das trockene Herbstlaub kehrte, sie führte sie ins Licht auf den Fluren der Universität, in den Geruch der frisch gestrichenen Geländer, in die schlichte Schönheit der Kleiderhaken auf den Ämtern.
Als sich vor dem Fenster die volle samtschwarze Nacht auftat, entkleidete sich der Mann schließlich verschämt, schlüpfte unter die Decke und drehte der jungen Frau den Rücken zu, ohne auch nur Gute Nacht zu sagen. Die junge Frau war müde, konnte aber nicht schlafen. Sie starrte in die tiefe Finsternis Russlands, bis sie sich in den frühen Morgenstunden endlich die Decke über den Kopf zog und in unruhigen Schlaf fiel.
Am Morgen stahl sie sich in den Bereich der Waggonbedienerinnen. Arisa putzte gerade den Gang, und Sonetschka saß alleine im Abteil, mit dem Rücken zur Tür. Die junge Frau bestellte zwei Tee und Salzbrezeln. Sonetschka nickte, drehte sich aber nicht zu ihr um. Als die junge Frau schon wieder gehen wollte, kam Arisa rückwärts mit ihrem lettischen Blecheimer vom Gang.
»Kirow war der große Anführer von Leningrad, den Stalin dann aufgespießt hat. Zuerst werden mit den Verbündeten die Feinde abgeschlachtet, dann mit den Freunden die Verbündeten, dann die Freunde. Die Übrigen werden ausgelost. Unschuldige gibt es nicht. Der Mensch ist immer mit etwas unzufrieden, und das kommt ans Tageslicht. Der Schuldige wird gesucht und gefunden, und innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seiner Festnahme hat man dafür auch einen Grund. Vergessen Sie das nicht!«
Die junge Frau kehrte in ihr Abteil zurück, legte sich hin und tat so, als ob sie schliefe. Sie dachte an die drei Jahre, die sie in Moskau studiert hatte. Das erste Studienjahr hatte sie fest in der finnischen Studentenclique gesteckt, die auseinanderfiel, als Maria nach Finnland zurückkehrte und Anna nach Kiew ging. Dann hatte sie sich mit Franz angefreundet. Franz war ein West-Berliner Philosophiestudent gewesen, der Ulrike Meinhof bewundert und die Angewohnheit gehabt hatte, verächtlich die Lippen zusammenzukneifen, wenn er anderer Meinung war. Eines Tages brach er das Studium ab und ging nach West-Berlin zurück. Dadurch war sie alleine und bekam die Chance, Mitka kennenzulernen.
Einige Werst später wachte der Mann mit einem Zucken auf und setzte sich, ohne die Augen zu öffnen. Seine fettigen Haare klebten am Kopf.
Energisch und scharf klopfte es an der Tür.
»Hier euer Tee, Genossen«, sagte Arisa mit zornig trockener Stimme.
Die junge Frau nahm rasch ein paar Münzen aus ihrer Kleingeldbörse und bezahlte. Der Mann sah sie verdutzt an.
»Um den Tee kümmere ich mich. Ist das klar?«
Sie nickte verlegen. Weit in der Ferne lagen die letzten Höhenzüge des Ural.
»Gräm dich nicht, mein Mädchen. Jeder will sich gebraucht fühlen. Ich verstehe das, aber es gibt im Leben bestimmte Regeln, die jeder Genosse befolgen muss. Du bist hier mein Gast.«
Er holte eine Zigarette unter dem Kopfkissen hervor und zündete sie an. Dann machte er die Abteiltür auf und lehnte sich an den Türrahmen.
»Das Leben ist bloß hinter einem seltsamen roten Nebel verschwunden. Es ist nicht mehr da. Oder vielleicht noch ein kleines Stück davon. Tief in der Hosentasche – vielleicht. Ein kleiner Stummel Leben.«
Er rauchte seine Zigarette und kniff dabei ein Auge zu.
»Immer wenn ich nach langer Abwesenheit heim nach Moskau komme, sieht alles traurig aus. Und wenn ich wieder wegfahre, die Tasche voller gestopfter Strümpfe und gebügelter Unterwäsche, denke ich, dass ich nie mehr zurückkehre, dass es das letzte Mal gewesen ist. Jedes Mal bin ich zurückgekehrt. Daheim langweile ich mich wie in lebenslanger Haft, aber zu Katinka sage ich, alles ist gut. Der Mensch kann nicht leben, wenn er sich nicht selbst betrügt.«
Arisa kam mit einem Reisigbesen in der Hand aus ihrem Abteil gestürzt.
»Aha, hier wird geraucht! Drei Rubel Strafe! Hier auf die Hand, du alter Bock!«
Gleichgültig gab der Mann ihr einen Schein.
»Glaubst du Narr, du kannst dir Vorrechte erkaufen? So einfach geht das nicht. So einen Widerling wie dich müsste man im Klo ertränken.«
Der Mann fuhr sich mit der Hand durch die Haare und versetzte Arisa einen Klaps auf den Hintern. Sie verschwand, ohne sich umzublicken. Der Mann setzte sich aufs Bett.
»Katinka ist gut im Einsalzen von Gurken. Ich hab sie sechzehn Mal geschwängert, und sie hat fünfzehn Mal abgetrieben.«
Die junge Frau sah den Mann düster an und ließ ihr Teeglas auf dem Tisch umkippen. Heißer Tee schwappte dem Mann auf die nackten Zehen. Er knurrte, schaute die junge Frau fragend an und ging dazu über, zufrieden einen forschen Militärmarsch zu pfeifen, wobei er die Zehen im Takt krümmte.
»Weißt du, mein Mädchen, was der Unterschied zwischen bumsen und heiraten ist? Bumsen ist leicht und macht Spaß, heiraten ist schwer und ein freudloser Krampf. Wie wär’s also, wenn wir bumsen?«
Er leckte sich über die Unterlippe. Das Atmen der jungen Frau war voller langer Pausen.
»Katinka ist verschimmelt, und darum ist mein Leben in Moskau nichts als eine einzige trockene Fotze.«
Er kratzte sich zuerst mit der linken, dann mit der rechten Hand den Hinterkopf und führte beide schließlich zum Kinn. Mit einem Ausdruck schmeichlerischer Unschuld im Gesicht schaute er die junge Frau an. Durch die beklemmende Atmosphäre wurde das Abteil sehr eng. Die junge Frau blickte auf die Hände des Mannes, sie waren schwer und fordernd.
»Wenn du nichts anderes willst, dann blas mir halt einen. Ich hab es verdammt satt, ständig mit krummem Hals zu wichsen.«
Die junge Frau wischte sich mit dem Handrücken über die trockenen Lippen.
»Oder wenn das nicht geht, dann halt lutschen, aber ohne Hände. Auf georgische Art.«
Der Mann öffnete den Gürtel.
»Du bist für mich kein Sirup, du Schlampe, aber besser als nichts. Du bist genauso ein Miststück wie alle anderen auch. Aber macht nichts. Die Muschi ist da, und den Arsch gibt’s dazu!«
Die Augen der jungen Frau brannten vor ungeweinten Tränen, die sie versuchte mit einem Hustenanfall loszuwerden. Nun sah der Mann sie schon mit leichter Besorgnis an.
»Bist du erkältet? Ich geb dir gleich Medizin. Wodka, Pfeffer rein und ein bisschen Honig, und die Erkältung ist tot.«
Er suchte nach der Wodkaflasche. Da riss die junge Frau die Abteiltür auf und machte sich davon.
In den Fenstern wuchs vereiste, zarte schneegrasige Moorlandschaft. Stunde um Stunde setzte sie sich fast gleichförmig fort, veränderte sich aber durch das Licht fortwährend. Mitten in der Ebene tauchten blaues Dickicht und ein Schneewall auf. Auf dem Wall ging eine schwankende Reihe Männer in blaugrauen Steppjacken und Stepphosen entlang. Sie trugen Hacken in den Händen.
Am Himmel erschienen dunkle Wirbelwolken, bedeckten bald die Sonne völlig, worauf sich bedrückende Dämmerung über die Eislandschaft legte. Der Zug drosselte die Geschwindigkeit. Am Bahndamm humpelte ein dreibeiniger Hund und zog eine dünne Blutspur hinter sich her. Dann erreichten sie den Bahnhof von Tjumen.
»Der Zug hält ein gutes Stündchen oder zwei«, rief Arisa. »Also so lange er will.«
Auf dem Bahnsteig standen Holzkisten. Die junge Frau stapelte drei davon aufeinander, um ans Fenster zu gelangen, zog ihr Stofftaschentuch heraus und wischte eines der Gangfenster sauber.
Anschließend ging sie auf das dunkelrote, von wallendem Nebel umgebene Bahnhofsgebäude zu. Sie umrundete es und blieb an der Südseite stehen. Das Gebäude war hässlich und heruntergekommen, die Dachrinnen waren gebrochen, Teile des Blechdachs hingen herab und verdeckten die Fenster im oberen Stock, der Sockel hatte an vielen Stellen Sprünge, alles fiel auseinander. Im Hintergrund zeichnete sich ein schmutziger Industriekomplex ab.
Eine der hohen Eichenholztüren des Bahnhofsgebäudes stand offen, und die junge Frau betrat hinter einer verkrüppelten Krähe die Halle. Sie war leer und weitläufig, die Luft feuchtkalt und schwer, gieriger Nebel schwebte über der Stille. Am Bierstand dösten zwei Hunde mit weißen Zähnen, aus der Kaffeebude drangen gedämpfte Stimmen und der muffige Geruch nach altem Hefegebäck. Ein umherziehender Fotograf hielt die junge Frau an, zeigte ihr seine Kamera Marke Moskva-2 und fragte, ob sie ein Foto von sich wolle. Sie wollte keines.
Kurz blieb sie an der Tür zum Büfett stehen, bevor sie zur Theke ging, um Salzgurken mit Schmand zu bestellen. Über den klebrigen Speisekarten surrten zwölf gut genährte Fliegen mit glänzenden Flügeln. Die Tischdecken aus Papier segelten von einem Tisch zum anderen. Die junge Frau starrte auf die Vitrine und sah einen ledrigen Klumpen Fleisch, eine Schüssel mit wässriger Nudelsuppe und eine mit rosa Cremerosen verzierte Torte.
Die Bahnhofsglocke schlug drei Mal, und der Zug setzte sich schwankend in Bewegung. Im Licht der glühend hellen Frostsonne schwebte die Ölstadt, man sah nur die Dächer der Plattenbauten, immer weiter glitt sie in die Höhe, dem Firmament entgegen. Der Zug sauste an erkaltenden Sowjetdörfern und Siedlungszentren vorbei, die Vorhöfe namenloser Städte blieben zurück. Aus einem fernen Abteil drang Schlagermusik.
Bald verließ der Zug die Moorebene, und Birkenwald, der sich unter dem schweren Schnee krümmte, nahm die Landschaft ein. Nun ging es nur noch ruckartig voran. Eine lange Schlange Güterzüge voller Öl und Kohle war vor der Lokomotive aufgetaucht.
Stunden, Minuten, Sekunden später beschleunigte er wieder, und nach und nach verschwanden die Ölstädte mit den sie umgebenden Ölfeldern und den schwarzen Flammen der Bohrtürme in der Ferne. Es herrschte noch immer sibirischer Winter, trotz erster Anzeichen des kommenden Frühlings. Hier und da stachen an geschützten Südhängen Gräser vom Vorjahr aus dem in der Sonne schmelzenden Schnee. Der Zug drosselte das Tempo und kroch dann fast. Als er ein verlassenes Lagergebäude passierte, wurde der Rauch dichter. Kleine Flammen tollten unmittelbar am Bahndamm im Gras, dahinter griffen sie gierig nach dem türkisen Himmel Sibiriens. Inmitten der Rauchwolke lief eine erschrockene alte Frau neben dem Zug her, ohne Kopfbedeckung und ohne Jacke. Außer dem Gras brannten die Bahnschwellen, und bald brannte auch die Ruine eines alten Gebäudes. Der Wind schleuderte rote Funken gegen den stählernen Rumpf des Zuges. Für einen Moment loderten die Flammen prachtvoll und kräftig auf, aber die sibirische Kälte erstickte sie wieder. Eine vom Leben gezeichnete junge Mutter nahm ihr Kind auf den Arm und deutete auf das zurückbleibende qualmende Gebäude.
»Schau, so hat das Haus der Großmutter gebrannt.«
Der Zug trödelte lange, bis er wieder beschleunigte. Als die Dämmerung einsetzte, kam der Mann aus dem Abteil und stellte sich neben die junge Frau. Zusammen blickten sie auf den Irtysch. An den Ufern des Flusses war die Schneemasse bereits geschrumpft, man sah kahle Stellen und Erdflecken auf den Böschungen. An einem schmalen Abschnitt ragten einige riesige Betonpfeiler aus dem Flussbett. Dort hatte einmal eine Brücke gestanden, oder der Bau einer Brücke war nicht zu Ende geführt worden. Fern am Horizont schimmerte die Stadt der Kraftwerksingenieure.
Der Mann schaute die junge Frau mit vorsichtigem Lächeln an.
»Entschuldigung, mein Mädchen, da hat wieder der Teufel sein Spiel getrieben, Lucifer persönlich; ich hab halt so starke Lust auf eine Fotze. Geh jetzt ins Abteil, damit du dich nicht erkältest. Sag Bescheid, wenn ich reinkommen darf. Ich hab ja noch Hoffnung. Als Iwan der Schreckliche achtzig wurde, beschaffte man ihm eine sechzehnjährige Ehefrau.«
Die junge Frau schmunzelte zum Zeichen einer Art trockener Versöhnung und ging ins Abteil. Sie grub das Fläschchen mit dem Nagellackentferner aus dem Koffer, schüttete den Inhalt ins Wodkaglas des Mannes und warf sich aufs Bett. Sie mochte das Gagarinlächeln des Mannes. Damit schlief sie ein, hungrig, mit allen Kleidern am Leib.
Mit wehmütigem Gesichtsausdruck schaute der Mann auf den trüben Fluss, an dessen Ufern Sägewerke errichtet worden waren. Um sie herum breitete sich, so weit das Auge reichte, Menschenleere aus. Unter der Eisdecke brauste und wirbelte der Fluss. In den frühen Morgenstunden fuhr die junge Frau aus dem Schlaf hoch und trat gegen die Abteiltür, sodass diese sich ein Stück öffnete. Der Mann kam sofort herein, trank sein Wodkaglas leer und legte sich, ohne ein Wort zu sagen, schlafen.