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Als die junge Frau vorsichtig die Augen öffnete, sah sie als Erstes den Mann zwischen den Betten Liegestütze machen. Auf den lackierten Abteilwänden zuckte der grüne Schein der Sonne, der Mann wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Noch bevor die junge Frau sich aufgerichtet hatte, klopfte es an der Tür, und Arisa, in eine schwarze Uniformjacke gezwängt, stellte zwei dampfende Teegläser, trockene Waffeln und vier große kubanische Zuckerstücke auf den Tisch. Der Mann nahm einige Kopeken aus seiner Geldbörse, die ein Relief von Walentina Tereschkowa mit Weltraumhelm zierte.

Nachdem Arisa gegangen war, zog er sein Messer unter der Matratze hervor, nahm ein Stück Zucker in die linke Hand, klopfte es mit der stumpfen Seite der schmalen Klinge in zwei Teile und reichte der jungen Frau ein dampfendes Teeglas und ein halbes Zuckerstück.

Er lächelte scheu und traurig, zog eine Wodkaflasche aus der Tasche, schraubte sie auf und füllte zwei blaue Schnapsgläser, die er ebenfalls den Tiefen seines Gepäckstücks entnommen hatte.

»Weil wir die Freude einer langen gemeinsamen Reise haben, darf der Trinkspruch kurz ausfallen: Auf unser Zusammentreffen! Auf den einzigen wahren Staat der Welt, auf die Sowjetunion! Die Sowjetunion wird niemals sterben!«

Er kippte sich seine Portion in den Rachen und biss ein Stück von einer saftigen Zwiebel ab. Die junge Frau berührte mit dem Glas die Lippen, trank aber nicht.

Der Mann trocknete sich mit lümmelhaftem Lächeln die Lippen an einer Ecke des Tischtuchs. Die junge Frau kostete den Tee. Er hatte lange gezogen, war aromatisch und stark. Erst jetzt merkte der Mann, dass sie ihr Wodkaglas nicht geleert hatte.

»Es ist traurig, alleine zu trinken.«

Sie rührte das Glas nicht an. Er musterte sie mit enttäuschter Miene.

»Schwer zu verstehen. Aber sei’s drum. Ich zwinge niemanden, auch wenn ich Lust dazu hätte.«

Er vergaß sich im finsteren Betrachten der jungen Frau. Sein Blick gefiel ihr nicht, und darum nahm sie das kleine Handtuch und die Zahnbürste und ging zur Toilette, um sich zu waschen.

Die Schlange nahm den halben Gang ein. Die Reisenden trugen Morgenmäntel, Pyjamas, Trainingsanzüge, zwei Männer sogar lediglich die weißen Unterhosen der Armee.

Mehr als eine Stunde später erreichte die junge Frau ihr Ziel. Nun war sie an der Reihe, die feuchte, klebrige Türklinke zu ergreifen. Die Toilette befand sich in unsauberem Zustand, und der Gestank war stechend. Auf dem Fußboden schwappte eine Mischung aus Pisse, Seife und Zeitungspapier, aus dem Hahn kam kein einziger Tropfen Wasser. Allerdings waren noch zwei exakt gewürfelte, von der Stange geschnittene beigebraune, nach Natrium riechende Stücke Haushaltsseife vorhanden. Die Oberfläche des einen war mit rostbraunem Schleim überzogen. Mit einem Satz stieg die junge Frau auf die Kloschüssel, um sich nicht die in Leningrad gekauften Morgenpantoffeln nass zu machen, und führte eine Trockenreinigung von Zähnen und Gesicht durch. Das kleine Toilettenfenster stand einen Spaltbreit offen. Ein vergessener, menschenleerer Bahnhof fuhr vorbei.

Der Mann lud Schwarzbrot, Meerrettich im Glas, Zwiebel- und Tomatenscheiben, Mayonnaise, Dosenfisch und hart gekochte Eier, die er vorsichtig schälte und halbierte, auf den Tisch.

»Den Satten vergisst Gott nicht und umgekehrt. Also bitte sehr!«

Sie aßen lange, und erst nachdem der Mann die Reste des Frühstücks wieder in seiner Provianttasche verstaut und mit der Hand die Brotkrümel vom Tisch auf den Boden gewischt hatte, genossen sie den inzwischen auf die richtige Temperatur abgekühlten Tee.

»Ich habe heute Nacht von Petja geträumt. Wir wurden im selben Jahr geboren und waren in der Schule in einer Klasse. Fünfeinhalb Jahre verbrachten wir da zusammen. Die Schule schmeckte uns nicht, also mussten wir arbeiten gehen. Ich wartete auf der Treppe vor dem Laden auf eine Fuhre, und wenn sie kam, nahm ich die Ware von der Ladefläche und warf sie ins Lager. Petja schleppte auf einer Baustelle Bretter hin und her. Wir lebten in einem Kesselraum. Dort gab es ein Fenster, durch das sah man den Gehweg und die Beine der Passanten. Da wohnten wir, aber eines Abends kam Petja nicht von der Arbeit nach Hause. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem O-Bus zu seiner Baustelle, um nach ihm zu fragen, und dort erzählten sie mir, er sei unter eine Maschine geraten und gestorben. Von einer Maschine getötet. Ich fragte, was für eine Maschine. Ein altes Väterchen zeigte mir so einen kleinen elenden Bagger. Da steht der Schuldige. Ich nahm den Vorschlaghammer und zertrümmerte das Ding. Seitdem schlage ich mich alleine durch.«

Die junge Frau warf einen Blick auf den Mann, der sich in seine Gedanken verkrochen hatte, und dachte an Mitka und an eine bestimmte Nacht im August. Sie hatten am Rand des Puschkin-Platzes auf einer Betonbank gesessen, etwas geraucht und auf die Morgendämmerung gewartet, als eine Schar grölender junger Betrunkener ankam und sie bedrängte und schubste. Sie rissen sich los, liefen davon, aber ein fetter Glatzkopf folgte ihnen und drohte damit, dem mit der Brille das Gehirn aus dem Schädel zu prügeln. Sie bekamen es mit der Angst zu tun. Rannten schneller, die menschenleere Straße entlang, aber am Ende der Straße tauchte ein Auto auf, und die junge Frau war sich sicher, dass auch darin Glatzköpfe saßen. Sie hetzten durch Nebenstraßen und kürzten über Innenhöfe ab, bis sie verschwitzt vor ihrer Haustür standen.

»Nach Südsibirien bin ich zum ersten Mal Anfang der Sechzigerjahre gekommen. Das war die Zeit der Währungsreform. Der Rubel war nichts mehr wert, Essen bekam man auch für Geld nicht, und in den Bierhallen wurde ein Krug für fünfzig Kopeken ausgerufen. Damals saß ich in der Baustellenkantine und kippte mit Boris, Sascha und Hund Mucha Selbstgebrannten. Einmal kam einer von der Baustellenaufsicht hereingeschneit. Dieser Filzstiefel vom Land sagte, geh, Volksgenosse, nach Sochumi, auf die Krim, ins südliche Sibirien, dort werden Plan-Übererfüller gesucht. Er drückte mir einen Zettel in die Hand und war wie vom Erdboden verschluckt. Ich ging zu Wimma, meiner geliebten breitärschigen Hure, sagte danke für deine Möse und auf Wiedersehen, ging schnurstracks zum Bahnhof und ruckelte mit dem Zug durch das weite, offene Sowjetland. Ich landete dann statt in Sochumi in Jalta. Dort wurden alle Arten von Hütten gebaut, und als ich sagte, ich bin eine stachanowsche Fleischmaschine und ein Betonheld, bekam ich sofort Arbeit. Das war der beste Sommer meines Lebens. Ich konzentrierte mich aufs Faulenzen und auf die Huren. Wenn man die fragte, bist du feucht, dann waren sie’s in zwei Minuten. Manchmal waren wir mit den Flittchen im Kino Der Bauarbeiter und sahen uns Abenteuerstreifen an: Drei Männer im Schnee, Im Eis verschollen, und wie hieß der eine gute noch …? Drei Freunde auf offenem Meer. Jedes Mal wenn ich an den Sommer zurückdenke, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Damals fesselte die Vernunft noch nicht das Leben. Aber dann kam die letzte Nutte! Katinka. Die trällerte mit Zuckerstimme, komm, ich wasche dir dein Hemd. Damit endete mein Leben, und vor mir tat sich der holperige, lichtlose Weg des immer tiefer sinkenden Alkoholikers auf.«

Der östliche Wind schleuderte vereinzelte Schneeflocken über die weiße Steppe, ein blasser Schein schimmerte über einem Gehölz. Der Mann spuckte wütend über die linke Schulter in die Abteilecke.

»Ich spreche von der Katinka, die mich gestern an den Bahnhof gebracht hat. Das in ihrem Gesicht stammt von mir. Ich kam besoffen heim, und da ging es los. Jedes Mal dasselbe Tohuwabohu, Katinka brach den üblichen Streit vom Zaun. Weil sie nicht aufhörte, wischte ich ihr eine und dann noch eine. Sie müsste einfach den Mund halten, dem müden Wanderer helfen, sich auszuziehen, und ein gutes Nachtessen machen, aber sie lernt es nie. Ich versuche, es ihr zu erklären, und schwärme ihr sogar was vor. Sie hört nicht hin, sondern macht immer weiter, schreit, die Männer hätten diese verdammte Welt nur für sich aufgebaut. Da ballt sich die Wut des unterdrückten Ehemannes, und dann verpasse ich ihr eine, damit sie still ist. Wenn sie beim ersten Mal nicht aufhört, schlage ich ihr richtig kräftig mitten in die Fresse. Das ist nicht leicht für mich, ich schlage nicht gern zu, aber es kommt jedes Mal dazu. Schließlich habe ich auch ein Recht, in den eigenen vier Wänden den Mund aufzumachen und ein Mensch zu sein, selbst wenn ich da nur selten auftauche.«

Der Mann wog seine Worte genau ab, ließ eins nach dem anderen fallen. Die junge Frau konzentrierte sich darauf, die Ohren zu verschließen.

»Ein gewöhnlicher Streit mitten in der Nacht ist deprimierend. Er nimmt dem Leben alle Freude. Letzte Nacht im Traum wälzte sich ihr schreiender Geruch wie ein Panzer auf mich. Allein der Gedanke an ihre abgebrannte Fotze bringt mich dazu, die Wände vollzukotzen.«

Der Waggon ruckelte, die Hand des Mannes hüpfte, im Augenwinkel bildete sich eine Träne. Er wischte sie mit dem Handrücken weg und schloss die Augen, räusperte sich, streckte den Rücken durch, sog die Lunge voll mit Luft und blies sie wieder leer.

»Aber alles hat seine Grenzen. Ich schlage Katinka nie auf dem Gang der Kommunalka, auch nicht auf der Straße und nicht auf dem Amt. Ich schlage sie einzig und allein in unserem eigenen Zimmer, denn sonst kommt der Blockwart oder die Miliz, und ich mag beide nicht, schon gar nicht die Miliz. Die Hauptregel lautet aber: Der Junge darf es nicht sehen, denn immerhin ist Katinka seine Mutter. Jetzt ist der Junge so groß, dass er schon sein eigenes Mädchen schlägt. Das gefällt mir nicht … Wenn du deine Alte mit dem Hammer haust, machst du aus ihr Gold, haben mir die alten Kerle geraten, als ich ein junger Mann war. Dieser Rat ist befolgt worden. Vielleicht sogar zu gut.«

Die junge Frau schaute mal zu Boden, mal auf eine Wolke, die am Rand des Horizonts erstarrt war. Einem solchen russischen Mann war sie noch nie begegnet. Oder vielleicht doch, aber sie wollte sich nicht daran erinnern. Kein Russe hatte je in diesem Ton mit ihr gesprochen. Dennoch hatte dieser Mann etwas an sich, das sie kannte, seine Dreistigkeit, seine Art, die Wörter zu dehnen, sein Lächeln, sein verächtlicher, sanfter Blick.

»Katinka ist eine russische Frau, grausam und gerecht. Sie geht arbeiten, kümmert sich um Haus und Kinder und hält alles aus. Ich denke bloß über manche Dinge anders als sie. Nehmen wir zum Beispiel mein altes Mütterchen. Wir wohnen alle nebeneinander in derselben Kommunalka, und ich finde, das ist eine gute Sache, da kann Katinka ihr von dem Essen bringen, das sie für den Jungen und sich gemacht hat, und gleichzeitig ein bisschen gucken, dass dem Mütterchen das Leben schmeckt. So leicht ist das aber nicht. Unsere ganze dreiundzwanzigjährige Ehe lang hat die Nutte von mir verlangt, sie hinauszuwerfen.«

Die junge Frau stand auf, um in den Gang zu gehen, aber der Mann packte sie hart an der Hand und deutete auf das Bett.

»Es wird bis zum Schluss zugehört.«

Die junge Frau riss sich los. Der Mann stürzte ihr nach und zog sie am Handgelenk zurück, kräftig, aber zugleich väterlich. Sie ließ sich auf das Fußende ihres Bettes sinken.

Der Mann setzte sich auf seinen Platz, legte den Zeigefinger auf die Lippen, blies leicht und lächelte frivol.

»Eins hat mich schon immer gewundert: Jeder Bräutigam liebt seine Braut, aber jeder Kerl hasst seine Alte. Sobald die Heiratspapiere unterschrieben sind, verwandelt sich der Mann in einen alten Kerl und die Frau in ein altes Weib, und von da an nagt an beiden die Unzufriedenheit. Die Alte denkt, wenn wir uns nur Komfort verschaffen, dann wird sich alles legen. Ihr geht es um die eigene Kochplatte, den neuen Bademantel, die Bodenvase, den Kochtopf ohne Beulen oder das Teeservice aus Porzellan. Der Kerl denkt seinerseits, wenn ich zu den Huren gehe, ertrage ich das Weib hier besser. Aber trotz allem … Wenn ich mir Katinka richtig anschaue, hätte ich manchmal Lust zu sagen, Katjuscha, meine kleine Närrin, mein kleines Dummerchen.«

Er seufzte schwer, griff mit der Hand in die Tüte mit den Gurken, erwischte eine, biss ab und schluckte aus Versehen das ganze Stück.

»Wir Männer taugen zu nichts. Die Weiber kommen ohne uns besser zurecht. Uns braucht niemand. Außer der andere Mann. Gerade jetzt, in diesem Augenblick, hätte ich Lust, auf die russische Frau zu trinken, auf ihre Tüchtigkeit, ihre Zähigkeit, ihre Geduld, ihren Mut, ihren Humor, ihre List, ihre Tücke und auf ihre Schönheit. Die Weiber sind es, die dieses Land aufrechterhalten.«

Der Mann schob eine Hand unter die Matratze und zog eine Tafel Tschaikowski-Schokolade heraus. Er öffnete sie mit der Messerspitze und bot der jungen Frau davon an. Er selbst nahm kein einziges Stück, sondern legte die Tafel mitten auf den Tisch. Sie war dunkel und schmeckte nach Naphtalin. Die junge Frau dachte an Irina: wie sie oft abends auf ihrem Lieblingsstuhl unter der Lampe saß und in einem Buch las, wie das gelbliche Licht der Lampe auf die Seiten fiel, wie Irinas Hände das Buch hielten, wie ihr Gesicht und wie …

»Früher wussten die Frauen, still zu sein, heute geht bei den modernen Weibern die ganze Zeit das Mundwerk. Ich hatte mal eine Hure, die quasselte und rauchte, während ich sie bumste. Am liebsten hätte ich sie erwürgt.«

In der Ferne schimmerte ein Birkenwald, ausgelaugt von schwerer Kälte und scharfen Winden. Die nackten Bäume zeichneten Schatten in den Schnee. Der Zug raste voran, der Schnee stob auf und flimmerte rein und hell. Mal füllte eisiger weißer Wald das Fenster, mal leichter blauer, wolkenloser Himmel. Die junge Frau lauschte auf den Klang und den Rhythmus der Worte des Mannes. Bald verflog sein Eifer, und an dessen Stelle trat ein Hauch von tiefem Kummer.

Der Mann überlegte lange. Zwischendurch bewegten sich die feuchten Lippen schnell, dann wieder sehr langsam. Seine aufrechte Haltung war dahin, er saß mit eingesunkenen Schultern da.

»Katinka … meine Katinka.«

Es wurde still im Abteil. Der Mann legte die Stirn an die kalte Fensterscheibe. Die junge Frau erhob sich und trat auf den Gang.

Dort standen einige Reisende. Ein entgegenkommender Güterzug brauste vorbei, brachte den Waggon zum Schwanken, weiter hinten huschte als türkiser Fleck ein kleines Gebäude bei einem Haltepunkt vorüber. Die Nacht hatte Schmutzspritzer an die Fenster im Gang geschleudert, zwischen denen mattes Licht eindrang. Die Birken wurden spärlicher, der Zug drosselte das Tempo, auf dem Nebengleis lag verrosteter Metallschrott herum, und wenig später rauschte der Zug schlagartig in den Bahnhof von Kirow. Ein Schild neben der Strecke teilte mit, dass es bis Moskau gut tausend Kilometer waren.

Die junge Frau stand in der offenen Wagentür. Ein paar kleine Schneeflocken schwebten in der stillen, trockenen Kälte. Auf dem Bahnsteig gegenüber zuckte unruhig ein schmächtiger Regionalzug, wie von einem Anfall geschüttelt. Die Menschen drängten aus ihm heraus und schnappten panisch frische Luft. Die Bahnhofsglocke schlug einmal, dann ein zweites Mal. Die junge Frau konnte gerade noch flüchtig das schwarze Plastikschild an der Mütze des vorbeispazierenden Zugführers sehen, als Arisa kam, um die Tür zu schließen.

»Was stehen Sie da? Wollen Sie in Kirow bleiben? Da kriegen Sie die Peitsche. Weil Sie ja keinen Volkspass und auch keinen Ihnen zugewiesenen Wohnraum haben. Dumme Ausländerin, versteht nichts und steckt hier die Nase raus! Und in meine Verantwortung haben sie das unglückliche Ding gegeben. Wissen Sie wenigstens, wer Kirow war?«

Im langsam fahrenden Zug ging die junge Frau schwankend den Gang entlang und schaute auf die schaukelnde Stadt vor dem Fenster. Vor einem Verwaltungsgebäude im Barockstil raufte ein Rudel streunender Hunde, ein junger Mann schlug mit einem abgebrochenen Besenstiel auf sie ein. Die junge Frau war auf dem Weg zum Abteil der Schaffnerin, um Tee zu kaufen. Wie die Allmächtige saß Arisa auf dem Bett und betrachtete die junge Frau mitleidig. Im kleinen Transistorradio sang Georg Ots etwas auf Russisch.

»Alle Menschen müssen ein Leben auf die gleiche Art haben«, sagte Arisa. »Entweder gleich gut oder gleich schlecht.«

Sie reichte der jungen Frau zwei Gläser mit heißem Tee und drei Packungen Kekse statt zwei.

»Der Mensch ist zu allem fähig, wenn man ihn zwingt. Und jetzt ab ins Abteil!«

Der Mann saß auf seinem Bett. Er hatte sich ein kariertes Hemd über das weiße gezogen. Es stand offen, unter den Falten des weißen Hemdes schimmerte der schweißnasse, muskulöse Bauch hervor. Der Mann schnappte sich eine kleine Apfelsine vom Tisch und riss auf hässliche Art die Schale herunter. Nachdem er die Frucht gegessen hatte, zog er unter dem Bett eine zerfledderte Zeitung hervor, hielt sie sich vor die Nase und stellte gereizt fest: »In jungen Jahren ist der Mensch ruhelos. Kein bisschen Geduld. Nichts als Rennerei. Alles läuft wie von selbst, die Zeit ist bloß Zeit.«

Er runzelte die Stirn und seufzte.

»Du musst nur hierhergucken. Dann siehst du einen alten Kerl mit einer betrübten Seele voller tristem Frieden. Mit einem Herzen, das nicht mehr vor Gefühl schlägt, sondern nur noch aus reiner Gewohnheit. Keine verrückten Streiche mehr, nicht einmal Schmerz. Bloß Langeweile.«

Die junge Frau dachte an ihren letzten Abend in Moskau zurück, wie sie von einem Ort zum nächsten geeilt war. Sie war die lange Treppe zur Metro hinuntergerannt und mit der roten Linie zur Lenin-Bibliothek gefahren, dort auf dem gekachelten Fußboden durch die museumsartige Halle und die von Bronzestatuen gesäumten Labyrinthe. Dann hatte sie die vielen steilen Rolltreppen hinauf zur blauen Linie genommen, war am Arbat vorbeigefahren, an dem mit Mosaiken verzierten, kirchenhaften Bahnhof ausgestiegen, an dessen Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte, und unter dem Betongewölbe hatte sie gemerkt, dass sie ihre Tasche mit den Zugfahrkarten und den Vouchers vergessen hatte, und da war sie umgekehrt, von einer Metro zur anderen gerannt, hatte die Stationen, an denen sie umgestiegen war, abgeklappert und die Tasche zu ihrem großen Erstaunen an der Haltestelle der Lenin-Bibliothek gefunden: Sie wartete mitten im Fenster des Metroaufseherkabuffs auf ihre Besitzerin.

Der Zug bremste und hielt. Wenig später zog die Lokomotive mit einem Ruck an, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Erneutes Bremsen. Und Stopp. Die Lokomotive wunderte sich kurz, pfiff dann fröhlich und nahm entschlossen Fahrt auf. Für einen Moment klimperten ihre Räder, wie um Verzeihung bittend, aber kurz darauf ratterte der Zug zielstrebig vorwärts. Am anderen Ufer des Schneemeers sprang die Sonne hervor, erleuchtete kurz Erde und Himmel und verschwand wieder hinter uferloser Moorlandschaft. Der Mann musterte die junge Frau mit stechender Aufmerksamkeit.

»Ist deine Seele voller Träume? Na, träumen darf man. Auch der Taugenichts Iwan liegt auf der Ofenbank und träumt von einem Ofen, der sich bewegt, und einem Tisch, der sich selbst deckt, aber dieses Leben, das Leute, die klüger sind als ich, als Übergangsgefängnis bezeichnet haben, dieses Leben findet hier und jetzt statt. Schon morgen kann der Tod kommen und dich an den Eiern packen.«

Sein Gesicht leuchtete vor Selbstzufriedenheit. Er hatte einen schönen Mund, schmale Lippen und eine kleine Narbe am Kinn wie Trotzki.

»Der Tod kann kein bisschen schlimmer sein als das Leben.«

Er schloss die Augen und kniff die Lippen fest zusammen. Dann sang er leise vor sich hin.

»Hab keine Angst vorm Tod, mein Mädchen, solange du lebst, denn dann gibt es ihn noch nicht. Und wenn du gestorben bist, gibt es ihn nicht mehr.«

Er stieß ein paar Mal auf, lockerte die Schultern und streckte den Rücken durch.

»Besser sterben als Angst haben. Und wenn man vor was Angst haben muss, dann vor den Mongolen. Die haben nicht mal Namen. Die tun nichts als fressen, bumsen, schlafen und sterben. Die haben keinerlei Moral, und ein Menschenleben ist denen nichts wert. Wie man etwas kaputt macht, wissen sie allerdings. Gibst du einem Mongolen ein Transistorradio, bekommst du fünf Minuten später einen Haufen Schrauben und Kabel und das leere Gehäuse zurück. Obwohl die Mongolen uns Russen äußerst schlecht behandelt und unsereinem das moralische Rückgrat gebrochen haben, versuchen wir trotzdem, ihnen zu helfen. Wir bringen ihnen die Gegenwart. Aber die begreifen nichts, die ficken ihre Kinder und lachen uns frech ins Gesicht … Verstehst du? Sieh mal, die Sowjetunion ist ein riesiges Land, in dem ein altes, großes, sehr gemischtes Volk lebt. Wir haben die Leibeigenschaft, die Zarenzeit und die Revolution durchlebt und durchlitten. Unsereins hat den Sozialismus aufgebaut und ist zum Mond geflogen. Was hat euereins getan? Nichts. Gar nichts! Was ist bei euch besser als bei uns? Nichts!«

Er schlug sich mit den flachen Händen auf die Knie und machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, schwieg aber.

Oberhalb der Waldmauer schwebte ein Adler mit dem Kadaver eines Rentierkalbs in den Fängen. Die Abteiltür ging von selbst auf. Die kleinen, gelb blinkenden Lampen, die im Gang am Boden entlangliefen, surrten, der Gang sah aus wie die Startbahn eines Flughafens. Das Heizungsrohr spie brennend heiße Luft in den engen Raum. Die junge Frau trat auf den Gang. Dort stand ein junges Paar, das eine knochige, runzlige alte Frau von der Größe eines Kindes und ein Mädchen mit Zöpfen bei sich hatte. Das Mädchen hatte sich einen braunen Pionierteddy unter die Achsel geklemmt und hielt einen Clown mit hohem Hut, der aussah, als wäre er schizophren und hätte außerdem einen Trip eingeworfen, im Arm. Nach einer verschämten Lichtung rutschte die violette Sonne hinter dick verschneite Nadelbäume. Tief im Dickicht des Waldes schliefen kleine Vögel in ihren Nischen, zähe Hasen mit weißem Fell in ihren Bauten und schnarchende Bären in ihren Höhlen.

Arisa machte ihren Rundgang durch die Abteile, gefolgt von der Waggonbedienerin Sonetschka in ihrer zu großen Uniform. Die junge Frau sprach Sonetschka an, doch diese war so schüchtern, dass sie sofort den Kopf abwandte. Sie verschwand hinter Arisa im ersten Abteil des Waggons. Das war der Privatbereich der Dienstkräfte, dort quoll Tag und Nacht gleichmäßig der Dampf aus dem wütend kochenden, wandhohen Samowar. Zig Eimer Wasser passten in dieses Gefäß.

Nun rollte wieder die inzwischen blass gewordene Sonne über den Horizont. Dämmriger Wald wuchs murmelnd einem dürftigen Himmel entgegen, den graue Wolken zierten. Sobald der Mann im Gang auftauchte, kehrte die junge Frau ins Abteil zurück. Sie spürte das Zittern der Gleise und schlief ein.

Als sie aufwachte, betrachtete sie der Mann mit schwer gekränkter Miene. Sie lächelte bei dem Gedanken, wie logisch alles war. Sie hatte Moskau verlassen, weil nun der richtige Zeitpunkt war, ihren und Mitkas gemeinsamen Traum von einer Zugfahrt durch Sibirien bis in die Mongolei wahr zu machen. Zwar war sie die Fahrt alleine angetreten, doch dafür gab es einen klaren Grund.

Der Mann hatte ein völlig abgegriffenes Kartenspiel aus der Tasche genommen und fing an, eine Patience zu legen.

»Die Georgierin«, sagte er, »die hat Beine wie eine Giraffe und weiß sich unsereinem so gut zu verkaufen, dass ich vergesse, dass ich sie gekauft habe. Die Armenierin ist von der Geschichte zur demütigen Lesbe und zum guten Kumpel degradiert worden, und sie züchtigt ihre Kinder nicht. Die Tatarin mag nur Tataren, die Tschetschenin ist eine Kreuzung aus guter Gebärmaschine und Drogenhändlerin, die Dagestanerin ist klein, dünn, hässlich und riecht nach Kampfer, und die dumm-stolze Ukrainerin spinnt mit furchtbarem Dialekt ihre ewigen nationalistischen Intrigen. Da werden einem russischen Mann die Ohren taub. Und dann kommen die Baltinnen. Alle beim Pissen gemacht. Kein Geheimnis. Viel zu praktisch. Die haben das Lächeln falsch rum auf und gucken nicht rechts und nicht links.«

Er klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. Die junge Frau hüstelte überdrüssig, aber der Mann schenkte ihrer Meinungsäußerung keine Beachtung.

»Ich hab noch nie eine Russin gebumst, die nicht wenigstens einen Moment lang zufrieden gewesen wäre. Und das, obwohl auf diesem Schwanz hier mehrere tausend Muschis in allen Schattierungen auf und ab gehüpft sind.«

Er hielt der jungen Frau seine starken Hände mit den langen Fingern hin. Die Nägel waren platt und sauber. Es waren fürchterliche Hände. Einen Moment lang war der Gesichtsausdruck des Mannes gleichgültig, dann nur noch feindselig.

»Aber erzählen Sie mir doch mal, warum eine wie Sie mit diesem Zug fährt. Um die Fotze zu verkaufen?«

Die junge Frau verlor die Fassung, sie stöhnte erbärmlich, dann griff sie nach einem Winterstiefel unter dem Bett, schleuderte ihn auf den Mann und verließ das Abteil. Der Absatz traf den Mann direkt an der Schläfe. Auf dem Gang musste sich die junge Frau erst beruhigen, bevor sie zu Arisa ging und darum bat, das Abteil wechseln zu dürfen.

Arisa lauschte ihrer Erklärung mit zur Seite geneigtem Kopf.

»Mal sehen«, sagte sie so gedehnt, dass die junge Frau ihr einen Fünfundzwanzig-Rubel-Schein hinschob.

Arisa hielt ihn augenscheinlich für nicht groß genug.

»Unsere Gesetze verbieten es, das Abteil zu wechseln. Aber vielleicht kann ich in diesem Fall etwas Einfluss nehmen. Das ist allerdings sehr schwierig.«

Die junge Frau drückte einen weiteren Schein im gleichen Wert in Arisas Hand, mehr konnte sie sich nicht leisten.

Arisa warf einen verächtlichen Blick auf das Geld.

»Es ist eine anspruchsvolle und für mich sogar gefährliche Aufgabe, die Gesetze zu umgehen. Ich kann meine Position verlieren oder wegen Ihnen ins Gefängnis kommen. Aber ich könnte es eventuell einrichten, wenn …«

Die junge Frau hörte sich den Satz nicht zu Ende an, sondern stürzte, den Tränen nahe, auf den Gang. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Niederlage zu schlucken und des Nachts so spät wie möglich zu dem Mann zurückzukehren.

Knarrend sauste der Zug im stiebenden Schnee über das ebene Land, unter einem vor Winterwolken schäumenden Himmel. Der Wald jenseits der großen Felder warf diesem Himmel einen Schwarm Spatzen entgegen. Die junge Frau beschwichtigte sich selbst, indem sie dem Schatten des Zuges zusah, der sich schwarz und stark auf dem hellen Schnee abzeichnete.

Sie dachte an Irina, an deren Art, im Raucherraum des hoch angesehenen chemischen Instituts zu sitzen, das sich hinter dem Pavillon mit den Ausstellungen über die Errungenschaften der Volkswirtschaft befand, und eine Zigarette zu rauchen, während sie sich auf die nächste Vorlesung vorbereitete. Sie dachte an Zachar, der sie durchschaute, und an Mitka, der gut zu ihr war. Da erschien ein Katzenjunges auf dem Gang. Es sah die junge Frau flehend an. Sie nahm das Kätzchen auf den Arm und streichelte sein struppiges Fell. Im Irrenhaus hatte Mitka gesagt, der Sozialismus töte den Körper und der Kapitalismus die Seele ab, aber unter den damaligen Umständen war der Sozialismus für Körper und Seele schädlich gewesen.

Als Mitka achtzehn wurde, hatten die junge Frau und Irina den Auftrag übernommen, Lebensmittel für ein Festmahl zu besorgen. Schon im November hatten sie mit dem Zusammentragen der Speisen begonnen und alles Mögliche beschafft, aber Irina war nicht zufrieden gewesen. Eines Morgens begaben sie sich bereits um sechs Uhr auf die Jagd. Bei trockener Kälte eilten sie zu Jelisews Laden, aber da war nichts zu holen. Nicht einmal Salzbrezeln. Wütend sprangen sie in die eisige Straßenbahn, fuhren zum Boulevard und an verschneiten Ahornbäumen vorbei zu dem Brotladen in der Bronnaja, in dem es so gut duftete. Dort bekamen sie einen guten Laib Brot. Sie bestiegen einen Trolleybus, in dem es so heiß war, dass ihnen der Schweiß in Strömen herablief, und zockelten zuversichtlich zur Satschatjewskigasse, wo es einen Laden gab, in dem Irina einmal zwei Büchsen Sardinen guter Qualität entdeckt hatte. Aber diesmal hatten sie nichts, nicht einmal Salzgurken. Eine Zeit lang standen die beiden ratlos in der zugigen Gasse und überlegten, wohin sie am besten gehen sollten. Mit eisigen Zehen machten sie sich untergehakt auf den Weg zur Leninskaja. Aber auch danach war ihre Netztasche kein bisschen schwerer. Sie liefen ein Stück und beeilten sich, in die Timirjasew zu kommen. Dort fanden sie eine Flasche Kölnisch Wasser für Juri, aber nichts zu beißen. Mit dem Bus fuhren sie einen Bogen zum Tschistyje Prudy, brachten Juri das Kölnisch Wasser und bekamen von ihm sechs Eier. Warum geht ihr nicht in den Valuta-Laden?, hatte Juri gefragt. Wir haben keine Dollars, hatte sie geflüstert, wir haben sie schon Anfang des Herbstes alle ausgegeben und mein Stipendium auch. Juri rief ihnen hinterher, dann geht in Gottes Namen auf den Markt, obwohl er wusste, dass es dort absolut nichts gab. In der Sokolnikigasse schnappten sie sich zwei große Gläser Borschtsch, nahmen sie unter den Arm und steuerten stolz die Straßenbahnhaltestelle auf dem Twerskoi-Boulevard an. Irina sah auf die Uhr und sagte, sie müsste längst zur Vorlesung im Institut sein. Vor der Papierhandlung schlotterte eine Frau vom Land. Die junge Frau kaufte ihr eine prächtige Gladiole ab und reichte sie Irina, und gerade als sie sich abwandten, flüsterte die Landfrau, sie habe zwei Hühner in der Tasche, ob sie daran interessiert seien. Und ob, hatte Irina gesagt und den Kauf getätigt. Dann rannten sie zur nächsten Metrostation. Irina fuhr mit der blauen Linie zum Institut, die junge Frau nahm die gelbe Linie und brachte die Tasche mit den Hühnern nach Hause. Zachar war da, und die junge Frau bat ihn, mit in die Küche zu kommen. Sie öffnete die Tasche, und da zappelten sie, zwei niedliche braune Hühner, deren Schnäbel von brüchigen Gummis zusammengehalten wurden. Zachar untersuchte die Hühner und stellte fest, dass sie nach einigen Wochen Fütterung mit Getreide reif für den Topf seien. Sie brachten die kreischenden Tiere ins Bad. Zur Polsterung breitete die junge Frau schmutzige Wäsche in der Badewanne aus, als Hühnerstange diente der Wäscheständer aus Holz. Am Abend, als alle zu Hause waren, gaben sie den Hühnern Namen. Das kleinere hieß Plita, das größere Kipjatok. Einen Tag vor Mitkas Fest schlachtete Zachar die dicken Hühner routiniert im Bad und rupfte sie auf dem Balkon. Dann brachte Irina der jungen Frau und Mitka bei, wie man Huhn à la Stalin zubereitete.

Ein halber hellgrauer Mond quoll über dem verschneiten, verschwiegenen und melancholischen Nadelwald auf, der rot schimmernde Mars leistete ihm Gesellschaft. Ein kleiner Junge, der am anderen Ende des Ganges mit einer verzierten Tonpfeife spielte, sang leise vor sich hin. Als das Mondlicht matter und schmutziger wurde, kehrte die junge Frau in ihr Abteil zurück. Sie war hungrig und müde.

Im Abteil roch es nach Consul-Haarwasser, das man nur in den Lädchen der Parteihotels bekam. Durch den Geruchsschleier hindurch sah der Mann die junge Frau geradezu schüchtern an.

»Geht es besser?«

Auf dem Tisch waren ein Damebrett, ein batterieloses kleines Blaupunkt-Transistorradio mit grünem Katzenauge und ein fröhlich hüpfend Dampf ausstoßender Reisesamowar bereitgestellt. Der Mann hatte Tee in eine Emaillekanne gegeben und goss nun kochendes Wasser darauf.

»Das mit der Muschi tut mir leid. Mich hat der Teufel geritten. Die Macht der Finsternis.«

Stolz berührte er mit der Hand die Schläfe, wo eine kleine Wunde zu erkennen war. Dann deutete er auf den Winterstiefel der jungen Frau, den er mitten im Abteil platziert hatte.

»Das hast du richtig gemacht. Ich hätte eine ordentliche Züchtigung verdient gehabt.«

Die junge Frau lächelte.

»Danke, mein Mädchen. Für die Bedrücktheit gibt es zweierlei Gründe: Entweder wir wollen, aber können nicht, oder wir können, aber wollen nicht.«

Die junge Frau breitete ihren Proviant auf dem Tisch aus und fing an zu essen. Sie bot auch dem Mann etwas an, aber der hatte keinen Hunger.

Als sie gegessen hatte, zog sie unter der Whiskyflasche in ihrem Koffer Garschins Rote Blume hervor und begann zu lesen. Mitka hatte ihr das Buch gegeben und gesagt, darin stehe, wie ein krankes menschliches Gemüt funktioniere. Langsam las sie in dem zerlesenen, im vorigen Jahrhundert gedruckten Buch mit den vergilbten Seiten. »Man entkleidete ihn trotz seines verzweifelten Widerstands. Mit einer durch die Krankheit verdoppelten Kraft riss er sich aus den Händen einiger Wärter los, sodass sie hinfielen; endlich überwältigten ihn vier, indem sie ihn an Armen und Beinen packten und in das warme Wasser tauchten. Es erschien ihm kochend heiß, und in seinem verrückten Hirn zuckte der zusammenhanglose, sprunghafte Gedanke von einer Tortur mit siedendem Wasser und glühendem Eisen auf. Wasser schluckend und krampfhaft mit den Armen fuchelnd und den Beinen strampelnd, an denen ihn die Wärter festhielten, sprudelte er kreischend sinnlose Worte heraus, von denen man keine Vorstellung haben kann, wenn man sie nicht selbst gehört hat.«

Sie legte das Buch auf den Tisch. Ach, Mitka!

Zärtlich packte der Mann das Radio in die Tasche und warf sich dann aufs Bett. Der späte Mond schaukelte haltlos über dem wilden Gelände.

»Endlich scheint das Eis zu brechen, Mädelchen«, stellte der Mann leichthin fest. »Jetzt kann ich einschlafen. Für den Schlafenden ist das Leben leichter.«

Sie sah zu, wie der Mann im Schlaf schnaufte. Er hatte etwas an sich. Vielleicht waren es seine Kohlblattohren. Seine Art, das Messer zu halten. Sein flacher, muskulöser Bauch. Sie nahm wahr, wie der Schein am westlichen Himmel für einen Moment das ganze Weltall purpurn färbte und wie am schwarzen Firmament die Sterne aufblitzten, einer nach dem anderen.

Sie dachte an Mitka, an seine langen Wimpern, an die vollkommenen Zehen, an das nach innen gekehrte Lächeln. An den Tag, an dem sie im strömenden Regen ins Museum der Streitkräfte geflohen waren, wie sie sich in einem Panzer versteckt hatten und wie der Aufseher sie nach der Schließung gefunden hatte. Das alles hatte dazu geführt, dass sie noch in den frühen Morgenstunden mit dem Aufseher im Wachhäuschen mit Sektgläsern anstießen. Mitka, dessen Zimmertür immer offen bleiben musste, war in die Psychiatrie gegangen, damit er nicht zur Armee musste und nicht nach Afghanistan in den Krieg.

Und durch die Dunkelheit hindurch gefror die Nacht zu einem roten Morgenanbruch vor dem Fenster. Der gelbe Mond kehrte den letzten leuchtenden Stern vor der feurigen Sonne hinweg. Und langsam wurde ganz Sibirien hell. Zwischen den Betten machte der Mann in blauen Trainingshosen, weißem Hemd und mit Schweiß auf der Stirn Liegestütze; verschlafene Augen, trockener, übel riechender Mund, im Abteil der klebrige Gestank des Schlafs, ein Fenster, das nicht atmete, stille Teegläser auf dem Tisch, schweigende Krümel auf dem Boden. Ein neuer Tag stand bevor, seine orangefarbenen Reifbirken und Kiefern, hinter denen verborgen Tiere umgingen, und auf den offenen Mooren wellte sich frischer Schnee, weiße, flatternde Unterhosen, schlaffe Penisse, Mischi, Maschi, Muschi, weite Blumennachthemden aus Flanell, Wollsocken, Schals, Zahnbürsten mit in alle Richtungen abstehenden Borsten.