Der große gedrungene Oberschaffner steckte die Trillerpfeife in den Mund und pfiff lange. Kurz darauf heulte die Lokomotive drei Mal auf, und der Zug setzte sich dröhnend in Bewegung. Die Räder schlugen Funken auf den Schienen, aus den beigen Plastiklautsprechern erschallte der heitere, grobschlächtige Säbeltanz von Chatschaturjan.
Der Mann zog dem Lautsprecher und dessen defektem Lautstärkeregler mit qualmender Zigarette im Mundwinkel eine Grimasse.
»Dieser Gänseschwarm ist aus dem Arsch geboren worden«, stellte er fest, packte sein Kopfkissen und drückte es fest auf den Lautsprecher. »Eigentlich habe ich keine Lust, zarte Töne zu ersticken, aber es geht nicht anders.«
Zurück bleibt Chabarowsk mit dem Rauch aus den fensterlosen Fabriken und den Smogwolken, die im Frühjahr auftauen. Zurück bleibt Chabarowsk, das Paris Sibiriens, mit seinen ornamentreichen, von der Patina der Zeit überzogenen Häusern. Zurück bleibt die von Schwerindustrie und Ölraffinerien getötete Erde, die von verlassenen, modernden Stahlbetonplatten umgebene Stadt, durch deren Gassen die Frauen in Pelzstiefeln mit hohen Absätzen gehen, zurück bleiben das kurz vor dem Zerfall stehende, aus chinesischem Stahl errichtete Stadtkombinat und die stinkende Fischfabrik. Zurück bleibt Chabarowsk, die schwach beleuchtete schöne Stadt, die müde Erde. Das dort ist noch Chabarowsk gewesen, die verlassene Industriezone, der gepflanzte Kiefernwald, die tot geborene, unfertige Wohnblocksiedlung, der verschmutzte, kranke Wald, der dichte Lärchenwald, die Frau mit ihren Essenstüten, die miserabel retouschierten Fotos der Generalsekretäre an den Telegrafenmasten. Der Zug beschleunigt. Eine fünfte Plattenbauansammlung, Siedlung genannt, im Überlebenskampf gefallene Einfamilienhäuser, offenes Land, chinesischer Wald, Brachacker, ein einzelnes neunstöckiges Haus auf den Feldern. In der Ferne saust in Zuggeschwindigkeit der letzte Überrest einer Fabrik vorbei, dann Urwald, Moor, Fichtenwald, Japanberge hinter dem Horizont, Sake und Haikus. Das ist nicht mehr Chabarowsk. Der Zug fährt. Ein unter der Schneelast eingestürztes Haus, ein Dorf mit zwanzig Holzhäusern zwischen greisen Sträuchern, die golden blinkenden Lichter der Bergwerke. Der Zug taucht in die Natur ein, stampft durch das verschneite, menschenleere Land. Alles ist in Bewegung: der Schnee, das Wasser, die Luft, die Bäume, die Wolken, der Wind, die Städte, die Dörfer, die Menschen und die Gedanken.
Nach und nach wurde die Musik leiser und verschwand schließlich ganz. Der Mann ging zum Rauchen in den kalten Vorraum des Waggons. Er rauchte seine Zigarette mit schweren Zügen, bis runter auf die Fingernägel. Dichtes Schneegestöber tobte über dem baumlosen Moor. Inmitten der Schneeebene lag vergessen ein kleines, lichtloses Dorf. Nur eine einsame Krähe kämpfte auf einem erkalteten Schornstein gegen das Gestöber. Wieder im Abteil, klappte der Mann das Damebrett auf. Sie spielten schweigend. Der Mann gewann.
Nach der dritten Partie schnaubte er. »Es gibt kein blöderes Spiel, aber trotzdem …«
Sie spielten noch sechs lange Partien, so lange, bis beide vollkommen erschöpft waren. Der Mann schlief ein, die junge Frau sehnte sich nach Moskau. Sie dachte an ihre vorige Reise, bei der Mitka und sie bis Kiew mit zwei jungen Männern im Abteil gewesen waren. Der eine hockte während der gesamten Fahrt in sich versunken da. Der andere war technischer Zeichner gewesen, hatte am Planungsinstitut studiert und begeisterte sich für alles, was mit Zahlen, Tabellen, Spalten, Skizzen, Präzisierungen und vor allem mit Kupons zu tun hatte. Die ganze Reise über las er in Fachblättern.
Als Irina im Alter von siebzehn Jahren mit Mitka schwanger war, schickte Zachar sie zu ihrer Tante in den Kaukasus, in die Berge Lermontows. Dort verliebte sie sich in Galina, eine Studentin, die ihr ähnlich war, und nahm sie bei der Rückkehr mit nach Moskau. Sieben Jahre lang lebten Galina, Irina, Mitka und Zachar mit einigen anderen Verwandten zusammen in einem Haushalt. Dann zog Galina fort. Mitkas Erzählungen zufolge war Irina danach mindestens mit einer Tonja, einer Katja, einer Klasja und einer Julia zusammen gewesen. Als sich die junge Frau und Mitka kennenlernten, verbrachte gerade Julia ihre Nächte in Irinas Schlafzimmer, wohnte aber anderswo. Alles geschah im Geheimen. Die junge Frau redete nicht viel mit Julia, obwohl sie sich oft an der Tür zu Irinas Schlafzimmer oder im Flur begegneten. Mitka hasste die Freundinnen seiner Mutter. Nicht weil sie Frauen waren, sondern weil er seine Mutter für sich alleine haben wollte. So hatte er es selbst ausgedrückt.
Am türkisen Himmel blinkten nur zwei Sterne, beide weit voneinander weg. Schwere Wolken ballten sich über der Erdoberfläche. Der jungen Frau kroch kalte, kraftlose Verzweiflung in die Brust. Die Freude vergaß man, dachte sie, die Trauer und die Dummheit jedoch nie.
Ein kleiner gelber Vogel kam aus dem Gebüsch und flog ans Fenster, blickte misstrauisch herein und flattert wieder davon. Ein alter Elektriker hatte einen schiefen Telegrafenmast erklommen. In der einen Hand hielt er eine wirre Drahtrolle, in der anderen einen schwarzen Hörer. Hinter dem Elektriker stieg ein neongelber, anschwellender Nebelwirbel auf, ringelte sich wie eine Schlange zischelnd nach oben und stieg Funken sprühend zum Himmel empor. Ihm folgten eine zweite, eine dritte und eine vierte brennende Nebelwolke. Es waren Polarlichter, die am klaren blauen Himmel blitzten, sie färbten den Schnee grün und den Bürzel der Bergente schwarz. Dann sog die Taiga das Polarlichtermeer auf, und der Himmel wurde leer und rein. Allmählich ging die Taiga in ein Wäldermeer über, das Wäldermeer in ein Feldermeer und das Feldermeer in ein Bruchwaldmeer. Der Mann schlief mit fröhlichem Gesichtsausdruck. Die junge Frau betrachtete ihn lange amüsiert, schlummerte ein, wachte kurz auf und driftete dann erneut in tiefen, todesähnlichen Schlaf ab.
Der Mann beendete seine morgendliche Gymnastik und füllte ein Glas mit Wodka. Der jungen Frau reichte er ein Glas mit einem Schluck Tee.
»Wünschen wir uns Leben und Sorgen, unbefangenes Lachen, Weinen ohne Grund, hemmungsloses Vergnügen, milden Kater, ewige Gesundheit und einen zu frühen Tod! Trinken wir auf die weibliche Schönheit in unserem Abteil und auf die Wächter des Unrechts, auf den Abschaum, der zu anderer Arbeit nicht taugt, auf den Betrug, damit wir in eine bessere Richtung betrogen werden. Es lebe die Miliz!«
Mit einer einzigen Handbewegung kippte er sich die ganze Ladung in die Kehle, dann biss er ein Stück Zwiebel ab und füllte das Glas erneut.
»Jetzt ist Schluss mit Trinksprüchen und Spielerei, jetzt wird gesoffen! Einen Waggon Wodka, bitte!«
Das Glas wurde geleert und sofort wieder gefüllt.
»Katjuscha, das kleine Dummerchen, konnte mich nicht ertragen, und darum verliebte ich mich in sie. Aber eines sage ich dir: Es gibt auf der Welt kein größeres Durcheinander als den weiblichen Verstand.«
Über dem baumlosen Moor tobte dichtes Schneegestöber. Scheues Morgenlicht wollte sich zwischen die grauen Wolken drängen, jedoch ohne Erfolg.
»Herz und Verstand. Das ist es, alles … Ich trinke jetzt den einen oder anderen Schluck, und dann unterhalten wir uns.«
Er nahm das Messer in die Hand und schabte damit über den Ellenbogen. Seine Augen glänzten, als hätte er gerade geweint.
»Es lebte einmal an der Wolga oder am Jenissei, irgendwo in der Gegend, ein Junge mit seiner Mutter und seinem Vater. Der Junge hörte, wie der Vater zur Mutter sagte, entscheide dich, ich oder der Junge. Darauf die Mutter, sei unbesorgt, der stirbt bald, und dann sind wir zu zweit. Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Junge von seinem dreibeinigen Hund und kam nie mehr zurück. Er gesellte sich zu seinesgleichen, lebte fortan auf der Straße und verkaufte sich für Brot. Er flüsterte den Männern ins Ohr, ich bin ein kleiner Junge aus Odessa …«
Eine Stunde später machte der Mann die nächste Flasche auf. Dann die dritte, die letzte; er füllte das Glas, trank es aber nicht leer, sondern nahm nur einen Mundvoll und gurgelte. Die leere Flasche stellte er unter den Tisch.
»Ich lob dich nicht umsonst. Darum sage ich Ihnen direkt, liebe Reisegefährtin, dass Sie mich wenigstens einmal ranlassen sollten. Davon nutzt du dich untenrum nicht ab.«
Ein schüchternes Lächeln lief über sein Gesicht. Die junge Frau setzte sich am Bettrand auf. Der verschneite Waldozean füllte uferlos die ganze Landschaft aus. Bis zum Horizont liefen die Wälderwellen, in Täler hinab, auf Hügel hinauf. Zwischen den Hängen schlängelte sich ein kleiner Fluss, an dessen eisfreien Tiefstellen dickes rotes Wasser strömte. Der Mann versetzte der jungen Frau einen hochmütigen, intelligenten Blick.
»Lass mich wenigstens ein bisschen …«
Sie schaute ihm direkt in die Augen. Er ließ den Blick auf seine Hände sinken und erstarrte in Gedanken. Das aufgeregte Seufzen der Lokomotive drang bis ins Abteil.
»Dort bumste ich Wimma, und alles lief wie am Schnürchen. Das war ein Leben! Aber dann kam es, dass man mir Geld anbot. Lebensmittel kann man leicht ablehnen, aber Geld nicht. Es gab Unstimmigkeiten mit Wimma, und ich verpasste ihr sechs Stiche mit diesem sibirischen Messer. Ich versuchte, ihr Herz zu treffen, aber anscheinend wurde sie von Gott beschützt, denn sie spazierte aus unserer Wohnung heraus und zur Nachbartür hinein. Dort verschwand sie wie die Mütze im Ärmel. Jahre später hörte ich von einem Kartenkumpel, dass Wimma angeblich in einem Lager in Karabaschi als Braut gesehen worden war. Dort soll sie eine Lesbenhochzeit gefeiert haben und gesungen, dass sie nie mehr Zivilistin werden würde.
Glaub nicht alles, was ich dir eintrichtere, mein Mädchen!«
Er verstummte abrupt und schwieg lange, schmatzte mit den trockenen Lippen und schniefte.
»Die russischen Nutten kapieren gar nichts. Von denen kriegt man nur die Syphilis. Die heruntergekommene Schönheit der alten Huren – auf die spricht mein Schwanz an.«
Er griff sich in den Schritt. Offene Lust erweichte sein Gesicht.
»Einmal nur. Das macht das Leben schöner und heller. So war es bis jetzt immer.«
Das Abendrot brannte aus, der Tag ging zu Ende.
»Machen wir es wie die Sowjethuren mit Anschreiben oder wie nach eurem Muster gegen glatte Scheine? Ist dir Geld nicht recht? Dann nicht. Wenn die Lust weg ist, helfen auch keine Rubel. Du kommst schließlich aus einem reichen Land und wischst dir mit meinen Rubeln bloß die Fotze ab.«
Er starrte die junge Frau mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an wie ein gedemütigtes Kind.
»Hundertfünfundzwanzig, Euer Gnaden. Ist das genug? Ich möchte sehen, wie sich eine finnische Fotze von einer russischen unterscheidet. Oder muss man bei dem Fräulein das Wort Muschi benutzen?«
Er schwieg eine Weile, dann kniff er die Augen zusammen und stöhnte.
»Es macht mir nichts aus, dass du es mit hundert heißen Finnenburschen getrieben und mit dicken Backen ihre Schwänze gelutscht hast. Ich hab noch nie das Eigentum anderer verschmäht.«
Er kniete sich auf den Fußboden und fing an, die Knie der jungen Frau zu küssen. Sie stieß ihn von sich. Da schnappte er sich das Messer vom Tisch.
»Jedes Weibstück gibt sich her, wenn man sie mit dem Messer an der Halsschlagader kitzelt. Leider bin ich nicht so einer.«
Er schob das Messer unter die Matratze. Dann stand er auf und ließ sich direkt auf die junge Frau fallen. Er roch nach Moordampf und Hering, und sein Herz schlug heftig. Einen Augenblick später brach er in unbändiges Gelächter aus. Er hustete der jungen Frau sein versoffenes Lachen derart ins Gesicht, dass ihre Wangen glühten.
»Meine kleine Nutte, ich könnt den Schwanz in dich hineinrammen wie in Sülze. Aber nein. Weißt du, es gibt nichts, was ein Russe nicht erträgt. Wir halten alles aus. Auch die Tatsache, dass man nicht immer eine Fotze kriegt.«
Seine verschwitzten Wörter rochen nach Alkohol und rannen an den dampfenden Wänden des Abteils herab, als er sich am Bettrand der jungen Frau aufsetzte.
»Jetzt brauch ich zur Reinigung der Seele ein Glas Wodka.«
Er füllte sein Glas, kippte sich den Inhalt runter und schien schon wieder aufs Bett fallen zu wollen, stand jedoch schwankend auf. Die junge Frau kauerte an der Abteiltür, bereit, notfalls auf den Gang zu fliehen, der Mann ließ sich nun doch auf ihr Bett kippen. Ächzend richtete er sich gleich danach auf, kratzte sich die Brusthaare, lehrte mit zwei Schlucken ein Glas Wodka und bedachte die junge Frau mit einem müden Blick.
»Morgen, mein Flittchen, fang ich ein neues Leben an. Je dichter der Wald, desto dicker die Partisanen.«
Er stieß ein anämisches Heulen aus, krachte erneut in voller Länge auf das Bett der jungen Frau, vergrub das Gesicht im Kissen, schnellte hoch, rappelte sich vom Bettrand auf und stand beängstigend schwankend mitten im Abteil. Sein Blick war stumpf und trüb, die Lippen feucht vom Schreien.
»Ich beneide die Fliegen, denn ihr Leben ist leicht.«
Er schlug mit der Faust gegen die Abteiltür, schwankte hin und her, weinte und brach im Weinen in unverschämtes Gelächter aus.
»Schlag mich! Schlag mich! Prügel dem Kerl die Scheiße aus dem Leib! Hau mir auf die Schnauze!«
Er schrie, und der Schweiß lief ihm über die Stirn. Regungslos saß die junge Frau auf ihrem Platz, der Mann ließ sich vor ihr auf die Knie fallen, versuchte, ihre Knie zu berühren, und sagte fast flüsternd, mit sanfter Stimme:
»Schlag mich wenigstens! Hau dem alten Bock den Schädel kaputt, meine kleine Hure! Meine kleine Sadistin. Tritt mich! Tritt mir in die Eier, dass ich das Leben spür! Lehr mich, wie man lebt, und gib mir Frieden. Sogar die verkommenste russische Nutte ist besser als du. Ich will sterben. Stecker raus, Kabel durch … Schneid das Kabel durch!«
Er taumelte zur Abteiltür und rief in den Gang:
»Tee und ein Handtuch! Arisa! Tee und ein Handtuch!«
Kurz darauf trug Sonetschka auf einem Tablett zehn Gläser dampfenden Tee und ein sauberes Handtuch ins Abteil. Der Mann leerte in schneller Folge ein Glas nach dem anderen. Dabei glänzte sein Gesicht rot, und Schweißperlen rannen ihm über den Hals. Er wischte sich trocken, schnarchte einmal auf und versank dann in tiefen Schlaf. Aus dem Nachbarabteil hörte man gedämpfte Stimmen.
Von dem Dampf aus den heißen Teegläsern beschlugen die Scheiben. Draußen bewachten die schneeigen Schatten schlanker Fichten die tote Taiga. Vor einem kleinen Gebüsch stand ein verlassener Bahnhof. Der Zug sauste daran vorbei und erzeugte dabei so starken Druck, dass die Rahmen der eingeschlagenen Fenster auf die Erde plumpsten. Bald verschwanden auch die Fichten, und um den Zug herum öffnete sich eine karge, fast wüstenhafte Landschaft.
Die junge Frau suchte in ihrer Tasche nach dem Zeichenblock und fand das Geschenk, das sie von der Rezeptionistin in Irkutsk bekommen hatte. Sie drehte es in der Hand hin und her. Es war ein Thermometer in der Form des Kremlturms. Sie stellte es neben der Vase auf den Tisch.