Noch vor acht Uhr am Morgen spuckte der Zug die Reisenden am sowjetisch anmutenden Bahnhof von Ulan-Bator aus. Mit Sand durchsetzter Schneeregen, Schmutz und Schnee schlugen gegen das Fenster. Die junge Frau versuchte, den Mann zu wecken. In der Abteiltür stand ein mongolischer Reiseführer. Es war ein kleiner, zierlich gebauter, schöner, empört wirkender, grantiger Mann.
»Wollen Sie nach Ulan-Bator? Ist für Sie ein Zimmer im Hotel Intourist reserviert? Warum sind Sie dann immer noch im Zug? Sammeln Sie Ihre Sachen ein und folgen Sie mir!«
Um die Wirkung seiner Worte zu verstärken, schnappte er sich den Koffer der jungen Frau und ging. Der Mann blieb schnarchend auf dem Bett liegen.
Die junge Frau folgte dem Reiseführer in die Bahnhofshalle. Dort herrschte verschlafene Stille. Unfreundliche Schmiere blieb an den Schuhsohlen kleben. Der Boden war mit Essensresten, Papierabfall, Speichelklumpen, Hunde- und Vogelscheiße übersät; der stechende Gestank drang bis unter die Haut.
Sie gingen zum Taxistand auf der Paradeseite des Bahnhofsgebäudes. Es stand kein einziges Fahrzeug da. Der Reiseführer blickte wütend auf die russische Uhr an seinem Handgelenk und starrte dann unverwandt in Richtung Stadt. Der langsame, schräg fallende Schnee ging in Schneeregen über. Sandige Lappen plumpsten wie Steine in den Matsch. Alles sah grau, schlaff und irgendwie versiegt aus, über allem lag der Schlammgeruch der feuchten Erde.
Dann kam ein Taxi, eines mit einem kleinen Reh auf der Kühlerhaube. Der Reiseführer setzte sich nach vorne, die junge Frau nahm auf der geräumigen Rückbank Platz. Der Fahrer, ein dicker Mann mittleren Alters, trug einen Wintermantel russischer Art, zwischen den Lippen hatte er eine erloschene Belomorkanal-Papyrossi fünfter Klasse hängen, sein Gesicht war holprig und vernarbt. Im Auto roch es nach Benzin und altem Schafsfett.
Die Landstraße sah aus wie früher die Landstraßen in jenem Land, in dem die junge Frau aufgewachsen war. Schlamm und Schlick, Schlagloch neben Schlagloch. Immer wenn eine große Pfütze kam, gab der Fahrer Gas und bretterte mitten hindurch, sodass der Matsch in hohem Bogen auf Fußgänger und diverse Pferdewagen spritzte.
Vom Bahnhof zum Hotel waren es nur wenige Kilometer, aber die Fahrt dauerte über eine Stunde. Auf jede Beschleunigung folgte eine harte Bremsung, und danach ging es im Schneckentempo von zehn Stundenkilometern weiter. Zwischendurch hielt der Fahrer an, stieg aus, öffnete die Motorhaube, fluchte und holte einen schwarzen Stahlkanister aus dem Kofferraum, mit dem er offenbar Wasser in den Kühler füllte.
Das Hotel sah aus wie jedes andere Hotel für Westtouristen in jeder beliebigen namenlosen Sowjetstadt. Im Foyer gab es einen Tresen, einen kleinen runden Tisch vor den hohen Fenstern und eine mit Kunststoff überzogene Couch für drei Personen. Die Mitte des Raums nahmen Backsteine, ein Betonmischer, Mörtelsäcke und Bretter ein. Überall schwebte grauer Baustellenstaub in der Luft.
Der Reiseführer klärte mit einer Hotelangestellten die Papierangelegenheiten, und die junge Frau wartete. Schließlich bat der Reiseführer sie, ihm zu folgen. Sie stiegen die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf. Der Reiseführer öffnete eine erbärmlich wimmernde, schwere Tür, und vor der jungen Frau tat sich eine riesige, im Sowjetstil renovierte Suite auf. Das Fenster bot eine großartige Aussicht über die Stadt hinaus bis zur Wüste Gobi, über deren Sandhügel der Frühjahrssturm schrie. Die Suite hatte zwei Zimmer. Im Wohnzimmer standen eine schlichte, elegante, eventuell in der DDR hergestellte Polstergarnitur, massiv gebaute Stühle mit Krakowa-Stempeln auf den Armlehnen und Blumenvasen auf den Tischen. Im Schlafzimmer ruhte ein großes Bett. Von da aus sah man auf eine protzige Kopie des Gemäldes von Repin, das Iwan den Schrecklichen als Mörder seines Sohnes zeigte. In Iwans Augen schimmerte der Wahnsinn, sein Sohn sah aus wie ein Glanzbildjesus.
An der Decke des geräumigen Bades flackerte eine gelbliche Lichtröhre. Die Badewanne hatte die volle Länge, aber der Stöpsel war abgerissen. Die Dusche funktionierte, aus beiden Hähnen kam belebendes kaltes Wasser.
Lange betrachtete die junge Frau die Stadtlandschaft vor dem Wohnzimmerfenster. Links standen zwei dreizehnstöckige Häuser, rechts lag eine Jurtensiedlung und dazwischen ein merkwürdiger Komplex, der an Städte im Wilden Westen erinnerte. Das schräge Licht der bleichroten Sonne brannte auf einem der Sessel.
Im Kopf der jungen Frau galoppierten die Gedanken unangenehm im Kreis. Der Tag endete mit einem beängstigenden Sonnenuntergang, der schleichend in den Abend überging, dann beleuchtete der Mondschein die dunklen Jurtendörfer. Diese Landschaft, an deren Horizont das Wüstenmeer begann, war schön, öd und schauerlich zugleich. Die junge Frau wickelte sich in die Daunendecke. Sie dachte an Moskau, daran, wie sie gegen Ende des Herbstes mit Irina ein Picknick im Englischen Garten gemacht hatte, wie sie eine Bank fanden, auf deren feuchter Oberfläche gelbe Ahornblätter klebten und die Irina als Turgenjew-Bank bezeichnete.
Nun blinkte die Stadt mit matten Lichtern. Sie vermischten sich mit dem Dämmer der heranschleichenden Nacht und verschwanden schließlich in ihrem Schwarz. Deprimierend bereifte Finsternis presste die Stadt zusammen, machte sie klein und lautlos. Die junge Frau beschloss, am nächsten Tag die Nummer anzurufen, die ihr Irina mitgegeben hatte.
Kurz nach acht am nächsten Morgen klopfte es kultiviert an der Tür der jungen Frau. Draußen stand der Reiseführer. Sie gingen zusammen in den Speisesaal. Die junge Frau nahm ein sowjetisches Frühstück zu sich, der Reiseführer ein mongolisches, zu dem Milchtee, nach Schaf riechende Kekse und Maisbällchen gehörten. Es war der jungen Frau angenehm, so zu sitzen, einem anderen Menschen gegenüber. Sie erzählte ihrem Reiseführer, sie sei nach Ulan-Bator gekommen, um eine bestimmte Felsinschrift zu sehen, die sich an der südlich aus der Stadt hinausführenden Straße befand. Der Reiseführer sah sie mit finsterer Miene an.
»Westler dürfen die Stadt nicht verlassen.«
Die junge Frau bot ihm Dollars an.
»Sie kommen hierher und tun so, als könnten Sie mit Geld alles kaufen. Unsere heiligen Stätten sind nicht zu verkaufen. Ich habe ein offizielles Tagesprogramm für Sie erstellt. Wir werden zusammen die Sehenswürdigkeiten von Ulan-Bator und die Geschichte unseres Landes kennenlernen. Dabei bleiben wir innerhalb der Stadtgrenzen. Für alles, was Sie tun, bin ich verantwortlich.«
Die Dollars steckte er ein.
Draußen war es frühlingshaft warm, obwohl eine dicke Wolkenschicht den Himmel bedeckte, es herrschte Windstille, und es regnete nicht. Sie gingen ins historische Museum, der Reiseführer stets zwei Schritte voraus. Im Museum bewegte sich die junge Frau in Filzpantoffeln über den glatt gebohnerten Fußboden. Der Reiseführer begab sich von einer Vitrine zur anderen und sagte mit monotoner Stimme auswendig gelernte Verse auf. Mitten in einem Vers erhob er die Stimme:
»Die mongolische Ära schuf die Grundlage für das Erblühen der heutigen Sowjetunion. Vieles haben sie uns zu verdanken. Wir Mongolen haben Russland im Jahr 1242 erobert, und die Besatzungszeit dauerte zweihundertvierzig Jahre. Wir schufen in Russland eine funktionierende Zentralmacht sowie ein effektives Rekrutierungs- und Steuersystem. Wir haben in Russland all die Herrschaftsinstitutionen errichtet, die bis auf den heutigen Tag in der Sowjetunion wirken. Wir schufen die Bürokratie, deren Aufgabe darin besteht, der Macht zu dienen, nicht dem Volk. Wir brachen den Russen so gründlich das moralische Rückgrat, dass sie sich davon noch immer nicht erholt haben. Wir hämmerten den Russen die Atmosphäre des Misstrauens in den harten Schädel. Wir brachten Iwan dem Schrecklichen bei, was dieser an Stalin weitergab, nämlich dass die Aufgabe des Individuums darin besteht, sich der Gruppe zu unterwerfen. Macht der Einzelne einen Fehler, wird die ganze Gruppe zur Rechenschaft gezogen. Das ist die effektivste Herrschaftsform der Welt. Vor der Eroberung durch die Mongolen wussten die Russen nicht einmal zu feiern, sondern suhlten sich nur besoffen im Schweinemist. Sie haben von uns gelernt, wie man Freude im Leben findet. Die einzigen Erfindungen der Russen sind endlose Faulheit, Schlitzohrigkeit und skrupelloses Lügen. Um das Steuersystem zu schaffen, benötigten wir eine Schar chinesischer Volkszähler und Steuerfachleute, deren Effektivität und Kenntnisse schon zur damaligen historischen Zeit berühmt waren. Weil Russland dünn besiedeltes Gebiet war, setzten wir das Modell der indirekten Verwaltung ein. Bei diesem Modell trieben die russischen Fürsten die Steuern für die mongolischen Khans ein, sie waren also unsere Handlanger. Später machte sich das Moskauer Großherzogtum alle unsere Herrschaftsbräuche und Prinzipien, so wie sie waren, zu eigen. Wir haben Russland vor der frechen Invasion der westlichen Kultur gerettet.«
Zur Mittagessenszeit gingen sie hintereinander ins Hotel, und nach der Mahlzeit kehrten sie ins historische Museum zurück. Zum Abendessen machten sie sich wieder auf den Weg zum Hotel, betraten das Restaurant, setzten sich an einem Tisch gegenüber und redeten kein Wort. Nach drei Gängen stand der Reiseführer auf.
»Die Türen des Hotels schließen um acht. Danach kommt keiner mehr hinaus oder herein. Halten Sie sich an unsere Regeln! Es ist zu Ihrem Besten. Sie sollten berücksichtigen, dass unser Gesetz den Begriff Vergewaltigung nicht kennt.«
An der Ecke des Hotels schaute ein scheuer, schreckhafter Hund mit schmierigem Fell die junge Frau mit ängstlichen Augen an. Sie wurde immer trauriger. Die Kälte des umliegenden leeren Landes, das Elend der feuchten Winde und Wüstennächte drangen ihr unter die Haut. Die Menschen schlotterten. Auf der anderen Straßenseite erblickte sie zwei Geschäfte im Sowjetstil, das eine war ein Gastronom, das andere eine Papierhandlung. Am Türpfosten des Gastronoms hing ein Lautsprecher. Er spie einen Sowjetschlager aus. Nahezu leere Regale glotzten aus dem Schaufenster. Vor dem Laden stand eine Kühlwanne, in der ein Brikett gefrorener Fisch und zwei Plastiktüten Milch lagen. In der Papierhandlung wurden neben Schreibwaren russisches Schwarzbrot, Schaffleischpiroggen, Essigpickels und Groppen in Tomatensoße verkauft. Hinter der Papierhandlung befand sich die Post. Dort hingen Karten an den Wänden, auf denen die Wanderrouten der Schafe eingezeichnet waren. Die junge Frau schrieb ein paar Postkarten und kaufte dafür zu viele Briefmarken, auf denen die Industrie der Mongolei dargestellt wurde.
Auf der Hauptstraße wich sie Schlammpfützen, verwilderten Autowracks, durchgedrehten dicken, alten Sowjetautos und Pferden, die kurz vor dem Zerfall befindliche Wagen zogen, aus. Im Hof eines dreistöckigen Hauses spielte eine Schar Kinder in bunten Winterkleidern. Der Deckel der Abfalltonne war abgerissen worden, und der Müll quoll auf den vereisten Hof. Hinter der Tonne schimmerte der Kadaver eines zerfleischten Fohlens hervor.
Die junge Frau kehrte zum Hotel zurück und dachte unterwegs an den Mann und an das, was er über die Mongolen gesagt hatte: Wie kann ein Volk, das über eine so große Geschichte verfügt, nur so verkommen sein?
Sie suchte nach der Telefonnummer, die Irina ihr mitgegeben hatte, und wählte sie am Hoteltelefon, eine Stunde später erst erhielt sie ein Freizeichen. Eine sanfte, freundliche Männerstimme meldete sich. Nachdem sie ihm Grüße von Irina ausgerichtet und dargelegt hatte, wer sie war und warum sie sich in der Stadt aufhielt, brach der Mann in unkontrolliertes Gelächter aus. Schließlich vereinbarten sie, dass er am nächsten Abend nach der Arbeit mit einem Freund zum Hotel kommen würde.
Wieder saß die junge Frau auf der Couch. Die späte Glut der kranken Sonne flimmerte drückend über den Jurten. Sie schaltete das Radio ein. Es kam ein russischer Sender. Nachrichten, Berichte, Reportagen über die Wahlen des ganzen Volkes und ein bisschen Strawinski.
Es war Abend, sechs Uhr, und genau wie vereinbart, klopfte es an der Tür. Auf dem Gang standen zwei große, kichernde dreißigjährige Männer. Schüchtern nahmen sie im Wohnzimmer auf der Couch Platz. Die junge Frau bot ihnen Black-Label-Whisky an. Die Männer leerten ihre Gläser im Nu, und als die junge Frau die Gläser wieder füllte, passierte das Gleiche. Die Männer versprachen der jungen Frau, ihr das echte Ulan-Bator und die echte Mongolei zu zeigen.
Um acht klopfte es energisch an der Tür. Noch bevor die junge Frau öffnen konnte, ging die Tür auf, und drei stämmige Männer traten ein. Die Gesichter der beiden Besucher auf der Couch wurden gelb, und im nächsten Moment waren alle fünf Männer weg. Man hörte ihre Schritte noch eine Weile auf dem Gang. Die junge Frau begriff, was geschehen war und um wen es sich bei den Abholern gehandelt hatte. Alle Kraft schwand aus ihren Beinen, eisige Schauer liefen ihr über den Körper, sie fror und fühlte sich sehr schwach. Sie versuchte zu schlafen, aber es ging nicht, eine Januarnacht in Moskau drängte sich in ihren Kopf.
Sie hatte mit Mitka vor der Metrostation Roter Oktober gestanden und geflucht, sie hatten die letzte U-Bahn verpasst. Hinter ihnen lag ein langer Abend bei Arkadij mit viel Wein und Zigaretten. Sie froren und versuchten, vorbeifahrende Autos zum Anhalten zu bewegen. Schließlich stoppte ein blauer Lada. Am Steuer saß ein kleiner, behaarter, dunkler Mann, der versprach, sie nach Hause zu bringen. Unterwegs fragte er Mitka, ob er Haschisch von guter Qualität kaufen wolle. Bald befanden sie sich weit weg von zu Hause, in einer heruntergekommenen Trabantenstadt. Die junge Frau und Mitka folgten dem Mann in eine Wohnung, die nicht möbliert war. Zwei schmutzige Matratzen lagen auf dem Boden, außerdem Zigarettenkippen und leere Schnapsflaschen. Mitka wickelte das Geschäft ab, und gerade als sie sich auf den Weg machen wollten, schnappte sich der Fahrer hinter der Tür ein Beil und schlug Mitka bewusstlos. Die junge Frau kam nicht einmal dazu zu schreien, so schnell und so fest hatte der Fahrer sie am Hals gepackt. Sie war kaum fähig zu atmen. In den frühen Morgenstunden schlief der Fahrer dann im Suff ein, und Mitka gelang es, sich blutverschmiert ins Treppenhaus zu schleppen und jemanden um Hilfe zu bitten.
Die junge Frau öffnete die Augen. Sie hörte kein anderes Geräusch als das heftige Pochen ihres Herzens und das auf zwei Tönen herumhackende Ticken der Uhr. Sie nahm die Uhr an sich und stopfte sie in den Koffer. Danach hielt sie sich wach, um aufs Neue einschlafen zu können und so von sich und ihren Ängsten befreit zu werden. Der mongolische Himmel füllte sich indessen mit Sternen; sie waren hell und nah, sie erleuchteten den schwarzen Himmel wie ein Blitz im Sommer, aber die junge Frau verkroch sich unter der Bettdecke und sah sie nicht. Das Hotel war still, Ulan-Bator war still. So tief war die Stille des Universums, dass die junge Frau nur das Rauschen in ihren Ohren hörte. Das Entsetzen kam und ging, mal wurde sie von Angst erfüllt, dann wieder von Hass und dann von etwas, von dem sie loskommen musste, und schließlich empfand sie nur noch große Sehnsucht. Die Dunkelheit drückte ihr derart auf den Kopf, dass sie durchsichtig wurde. Endlich verlor die hartherzige Nacht ihre Bedeutung und ging in schwachen Morgenschein über.
Ungeduldig saß die junge Frau im Hotelfoyer auf dem Sofa und wartete auf den Reiseführer. Sie wollte mit jemandem über das, was am Vorabend passiert war, reden. Dann hörte sie zunächst vom Fahrstuhl her ein merkwürdiges Stöhnen, und als sie sich umdrehte, sah sie die drei Mitarbeiter des Geheimdienstes. Sie schleiften die zwei bewusstlos geschlagenen, brutal verunstalteten Gäste der jungen Frau durch das Foyer zum Ausgang und von da zu einem Lada, der draußen wartete. Blut und Schlacke hinterließen Flecken auf dem von Baustellenstaub überzogenen weißen Marmorboden. Einer der drei glotzte die junge Frau wütend an, der Zweite grinste, der Dritte schaute nicht einmal zu ihr. Die Frau an der Rezeption blätterte in ihren Unterlagen und sah nichts.
Nachdem der gelbe Lada im hellen mongolischen Morgen verschwunden war, kam eine Mongolenoma in einer großen schwarzen Strickjacke mit einem lettischen Zinkeimer aus dem Keller herauf. Sie wischte den Boden und ging anschließend wieder in den Keller hinunter.
Beim Frühstück erzählte die junge Frau dem Reiseführer von ihren Besuchern und dass sie abgeholt worden waren. Sie berichtete auch, was sie gerade gesehen hatte.
Als sie fertig war, sagte der Reiseführer mit einem trockenen Lächeln auf den Lippen, er wolle kein zweites Mal davon hören.
Sie verbrachten einen schweigsamen Tag im naturkundlichen Museum.
Am nächsten Morgen spaziert die junge Frau im Gefolge des Reiseführers durch die Stadt und dachte an Irina, aber Irina schien ihr entglitten zu sein, in weite Ferne, irgendwohin. Vor dem Gebäude der staatlichen Telefongesellschaft sagte die junge Frau zum Reiseführer, sie wolle nach Moskau telefonieren. Er versuchte, sie daran zu hindern, aber sie ging hinein und verlangte in ihrer Aufregung ein Zehn-Minuten-Gespräch. Sie warteten sechs Stunden, die junge Frau und der wütend auf den Boden starrende Reiseführer, bis die Telefonvermittlerin mitteilte, Irina melde sich nicht. Natürlich nicht, denn Irina und Mitka waren noch im Süden.
In den frühen Morgenstunden kam heftiger Wind auf. Er riss am Blechdach des Hotels und schleuderte Benzinfässer über die menschenleeren, von Eis überzogenen Straßen. Das Hotel erzitterte unter den Schlägen des Windes, es knarrte, bröckelte, schien einzustürzen. Die junge Frau fror. Der Sturm brachte als Begleitung aus der Wüste sandiges Schneegestöber mit, das waagrecht gegen das Hotelfenster peitschte und schmolz, sobald es an der wärmeren Scheibe haften blieb. Die junge Frau stellte sich vor, wie der Wind die Schrauben aufdrehte, wie die Muttern herunterfielen und die Nägel abbrachen, wie der Beton bröckelte und das ganze Gebäude zu einem Haufen Sand zusammenfiel.
Am nächsten Morgen teilte die junge Frau der Hotelangestellten mit, sie sei krank und werde sich den Tag über in ihrem Zimmer ausruhen. Den Reiseführer brauche sie nicht.
Dann stand sie in ihrem Zimmer am Fenster. Gleichgültig zog die Sonne von Ost nach West. Gegen Abend fiel sie hinter einem Jurtendorf herab, und düstere, schwere Finsternis legte sich über die Stadt. So wurde der Tag vom Abend abgelöst, der Abend von der Nacht. Die junge Frau sah zu, wie ein künstlicher Mond, der an den echten Mond erinnerte, hysterisch hell auf die weißen Dächer der Jurten schien. Sie hatte Sehnsucht nach den Moskauer Pappeln im Sommer.
Sie beschloss, ihren Reisegefährten zu suchen, denn sonst fiel ihr nichts ein. Sie rannte durch die klare, kalte Nacht und sah sich immer wieder um. Grünes Scheinwerferlicht fiel auf das Hotel, und graue Wolken flitzten nach Norden. Sie stürzte in den ersten Bus und fuhr aus der Stadt hinaus. In der Dunkelheit glommen die Lichter ferner Jurtendörfer. Der Bus kam an einer farblosen, unmittelbar neben der Straße schwankend dahinziehenden Gruppe von Leuten vorbei. Manche trugen Säcke auf dem Rücken, manche hatten die Hände voller Kolli und anderer Lasten.
Der Bus bog zu einem Baustellengelände ab, wo halb fertige sowjettypische Wohnblocks in die Höhe ragten. Mit offenen Bäuchen standen sie inmitten der aufgerissenen, zerwühlten Erde. Überall sah man Gerüste, Balken, Treppen, Etagen, Dächer, Stege, Übergänge. Die Lichter im Barackendorf der Bauarbeiter begrüßten schwächlich die heraufziehende Nacht. Vor dem Bauzaun waren ein alter Lastwagen und eine zerfetzte Planierraupe umgekippt. Die rötlichen Kreise der Lichtmasten zeichneten zitternde Ellipsen an den schwarzen Himmel, an den Baugerüsten war die gelbliche Abendbeleuchtung eingeschaltet worden.
Die junge Frau ging eine unfertige Straße entlang. Die Spuren der Lastwagen standen voller wässrigem Schlick. Am Tor der Aufsichtsbaracke schaukelten Lampions an quietschenden Drähten, als Wachhund stand ein Komsomolez-Bagger davor, auf dessen Dach eine einbeinige Lapplandmeise hüpfte. Lange hämmerte die junge Frau an die Tür der Baracke, bevor ein verschlafener Pförtner öffnete. Muffige Hitze schlug der Besucherin entgegen. Der Pförtner fragte sie streng, was sie wolle, musterte sie dann mit schief gelegtem Kopf und grinste.
»Ich habe mich schon immer gefragt, was die jungen Frauen von so einem Hallodri wollen. Je schlimmer der Kerl, desto interessanter. Ihr Frauen habt überhaupt keinen Selbsterhaltungstrieb. Wadim Nikolajewitsch Iwanow wohnt in der Baracke da drüben, aber da kannst du nicht rein. Gib mir deine Nummer, dann ruft er dich an, wenn er will.«
Sie gab ihm die Adresse des Hotels und ihre Zimmernummer.
»Denk dran, ich hab dich gewarnt.«
Sie kehrte ins Hotel zurück, vorbei an Jurtenslums, die von ekelerregenden Gerüchen vergiftet waren, durch rötliche nächtliche Finsternis und unangenehm kalte Stille. Alle Sterne des Orion leuchteten direkt über ihrem Kopf, und der schneeige Mond stieg hinter einer Betonmauer langsam zum Himmel empor. Viel später erschien im Osten das taube Morgengrauen und strahlte die tief hängenden Wolken an. Einige Schneeflocken schwebten ihr aufs erhitzte Gesicht.
Bevor sie einschlief, hörte sie den Morgenablauf der erwachenden Stadt. Sie dachte an den bereiften Wald Sibiriens, der seine Kraft verloren hatte und wie eine Mauer an die Felderebene grenzte. Sie dachte an die gefrorenen Grenzgebiete im Schneegestöber, wo gleichmütig die Rentierherden wanderten, auf der faulen Suche nach Nahrung, an die undurchdringlichen Bruchwälder, an die minimalen Höhenzüge, an die unbewohnten Gegenden, an das Schneetreiben, an Mückenschwärme und an die reglose, neblige Feuchtigkeit im Herbst, die die kleinen Dörfer einwickelte.
Der Mann rief nicht an.
An den nächsten Tagen besuchte die junge Frau mit dem Reiseführer das Mausoleum von Suche-Bator, den Winterpalast von Bogd Khan und das Lenin-Denkmal. Nachdem sie alle Sehenswürdigkeiten abgeklappert hatten, unternahm sie noch einen Versuch und erinnerte den Reiseführer an die Felsinschriften. Er lachte amüsiert, und sie verstand, dass es sinnlos war, darüber zu sprechen. Vom Fenster ihres Hotelzimmers aus betrachtete sie die stillen Wolken, die gemächlich nach Osten krochen.
Als Mitka nach acht Monaten Psychosemedikation nach Hause kam, hatte die junge Frau das Gefühl, er ahnte alles. Irina war es gelungen, über ihre Arbeitsstelle für sich und Mitka einen Platz in einem gesamtsowjetischen Sanatorium auf der Krim zu besorgen. Dort sollten sie sich ausruhen, und falls Mitkas Verstand schärfer als zuvor zurückkäme, würde alles wieder so sein können wie früher. Darauf hatte Irina die junge Frau vorbereitet, darauf, dass alles so werden würde, als wäre in Mitkas Abwesenheit nichts geschehen.
Die Morgen gingen kriechend in die Tage über, die Tage in die Abende, die tiefen Nächte füllten den Himmel und die Erde und waren lang wie das künftige Leben, voller Rauschen, Heizkörpersirren, der kalten Trockenheit der Bettwäsche und dem leisen Rasseln des sandigen Schnees. Die junge Frau ging im Zimmer umher, blickte aus dem Fenster auf die schlafende Stadt, in deren Dunkelheit der reißende, fettige Wind ertrank. Sie starrte auf die Nächte, in denen am Himmel so bleiche, große Sterne erschienen, dass man sie hätte berühren können. Sie wartete auf die Morgen, an denen die Sterne noch einen Moment unsicher funkelten und dann verschwanden. Sie sah den langsamen Auf- und Untergängen der verzweifelten Sonne zu, sie sah das flüchtige Licht der fallenden Sterne und verfluchte sich. Sie war müde und leer. Weit weg von allem. Sogar von sich selbst.
Allmählich akzeptierte sie ihre Einsamkeit und wartete nicht mehr auf den Anruf des Mannes. Inzwischen konnte sie die anhaltende Beklemmung, die Druck und Schmerz in ihrer Brust verursachte, schon ein wenig besser ertragen. Sie hatte gelernt, etwas gelassener auf ihr angespanntes Atmen zu horchen und auf ihr unruhig hämmerndes Herz, das krampfhaft ihr Blut verschlang.
Eines Abends stand der Mann vor der Tür. Er roch nach Kumys und Schafsfett. Die junge Frau schluchzte. Als sie aus dem Hotel traten, wurden sie vom steinharten, schweren Südwestwind mitgerissen und auf eine Jurtensiedlung zugetrieben. Der Mann ergriff die Schulter der jungen Frau und zog sie väterlich an sich. Sie erzählte ihm, was passiert war. Sie weinte, aber der Wind trocknete ihre Tränen so schnell, dass der Mann sie nicht sah. Er hörte ihr konzentriert zu, und als sie am Ende ihrer Geschichte angelangt war, brach er in hemmungsloses Gelächter aus.
»Du bist wirklich dumm. So eine wie dich habe ich noch nie gesehen, obwohl mir schon alles Mögliche über den Weg gelaufen ist. Mach dir keine Sorgen. Alles wird sich finden.«
Er schluckte sein Lachen herunter, kratzte sich eine Weile am Hinterkopf und knurrte:
»Ich frage mich, was die Kerle getrieben haben, dass Gott sie so bestraft. Hier kennt das Gesetz gerade mal den Totschlag, und das Bußgeld dafür ist so hoch wie der Preis für eine Flasche schwarzen Wodka. Ziemliche Schlitzohren, wie?«
Sie gingen schweigend weiter. Hinter dem Stadtviertel stob eine Windbö hervor. Die junge Frau schluckte den Wind und fing an zu husten.
»Wenn die Dinge nicht besser werden, werden sie schlechter, und vom Schlechten ist es nicht weit bis zum Guten. Sorge dich nicht, mein Mädchen, das kleine Unglück wird sich in ein kleines Glück wenden. Die stinkigen Faulpelze haben bekommen, was sie verdienen. Ein normaler Mongole geht nicht in ein Hotel, um sich mit Touristen aus dem Westen zu treffen, das ist so viel wie Selbstmord.«
Er sah die junge Frau mitleidig an.
»Ich hatte hier mal eine Nutte, die ich sehr gern mochte. Die wiederum hatte einen sechsjährigen Jungen, und der guckte mich immer an, als wollte er mich umbringen. Jedes Mal wenn ich die Hure bumste, hatte ich Angst, dass der Junge kommt und mir einen finnischen Stift in den Schädel rammt. Ich kaufte ihm in Moskau Bauklötze, mit denen man den ganzen Roten Platz aufbauen konnte, mit Lenin-Mausoleum und Kirche. Als ich sie dem Jungen gab, schmiss er sie sofort in die Ecke und starrte mich mit seinem Mörderblick an. Aber später, als ich wieder mal zum Ficken kam, sagte die Hure, ich soll mal unterm Bett nachsehen. Da war der Rote Platz in seiner ganzen Pracht wie der Schwanz von Berija.«
Die junge Frau hüpfte über den Pferdemist vor einem Getränkeautomaten und lachte. Hinter einer flachen Lagerhalle lag ein zugeschneiter Vergnügungspark, in dem ein altes, müdes Riesenrad erstarrt war. Der Mann rannte darauf zu. Die junge Frau sah, wie er die Tür eines schiefen Kabäuschens aufriss. Und dann flackerten wie von Zauberhand matte Lichtfetzen in den Glühlampen, die um den Park herumliefen, auf, und das Riesenrad setzte sich knarrend in Bewegung, zuerst langsam scheppernd, dann immer schneller wimmernd. Die junge Frau blickte abwechselnd auf den Mann und auf das Riesenrad und dann auf die seltsame Stadt und ihre schwarz gewordenen, verlassenen und auf den Brachflächen hingeworfenen, vom Wind beleckten Jurtenkadaver. Der schmelzende Schnee roch nach Frühling. Unter einem umgekippten Ölfass breitete sich eine Pfütze schwarzer, fettiger Flüssigkeit aus. Die junge Frau dachte an Moskau, an die Malaja Nikitskaja, die sie mit Irina einmal entlanggegangen war, an die gelblichen Lichter dort, die im Nebel schwammen.
Als die Dämmerung sich über dem Vergnügungspark zu blauem Dunst verdichtete, begleitete der Mann die junge Frau zum Hotel. Schon von Weitem sahen sie eine riesige ölige Schlammpfütze, auf deren Oberfläche der rote Ring des kalten Monds leuchtete. Am Rand der Pfütze spielten kleine Kinder, obwohl es schon Nacht war. Ein kaum vierjähriges Mädchen mit geschwollenen Beinen beförderte mithilfe eines Stocks Öl in eine kaputte Flasche. Ein Junge, der jünger war als sie, watete ohne Schuhe durch die Pfütze und bespritzte sich mit Öl.
Der Hoteleingang war abgeschlossen. Der Mann und die junge Frau standen mit dem Rücken zum Wind da und warteten. Auf den Wasserlachen im Schneematsch glänzte das schwache Mondlicht, der Wind rauschte gleichgültig. Schließlich kam eine Hotelangestellte und sperrte auf. Der Mann folgte ihr zur Rezeption und reichte ihr einen Fünfundzwanzig-Rubel-Schein. Sie lächelte schüchtern, und der Mann zwinkerte der jungen Frau zu, bevor er ging.
Sie stieg die Treppe hinauf und ließ sich in ihrem Zimmer glücklich auf die Couch fallen. Sie schlief in ihren Kleidern ein, ruhig, ohne etwas zu denken.