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Das Morgenlicht weckte die junge Frau. Der Mann reichte ihr ein Glas Tee, steckte sich selbst ein großes Stück Zucker in den Mund, rührte mit dem papierleichten Löffel im Tee und pustete lange, bevor er einen Schluck trank. Die junge Frau schaute eine Weile auf die Landschaft vor dem Fenster. Der Himmel war zu blau, der Schnee zu hell. Im Schutz einer einsamen Eberesche sah man ein blaues Holzhäuschen. Davor stand ein alter Mann mit einer Eisenstange in der Hand.

»Ich gehöre dem Lager der sozialistischen Welt an, du nicht. Unsereiner ist in allen Lagern gewesen: Pionierlager, Militärlager, Ferienlager und Arbeitslager. Schon als ich noch ein kleiner Junge war, haben sie mir den Zwangsarbeiterspaten in die Hand gedrückt, weil ich ein paar Betonmischer an mich gebracht und aus der Fabrik getragen hatte. Ich wusste, dass ich dafür ein Eisen an den Hals bekomme, aber trotzdem … Am schlimmsten war die Zeit, bevor sie mich erwischten, das Warten auf das Unglück. Das ist, wie wenn man durchs Räderwerk des Satans gedreht wird. Wenn das Schlimmste dann passiert ist, denkt man nur noch, das gehört halt zum Leben. Wenn man nur nicht vor Hunger oder an einem Ödem stirbt. In meiner Erinnerung liegt über allem der dumpfe Geruch von verdorbenem Fisch.«

Von der Kälte getrübt, färbte der Morgenschein die Eisdecke eines kleinen, wie eine Schlange sich windenden Bachs goldgelb. Rings ums Ufergestrüpp waberte dicker Nebel. Aus dem Weidicht reckten sich dünne vereiste Äste dem violett flimmernden Himmel entgegen. Ein wildes Ren mit weißen Flanken kam aus dem Nebel gerannt. Sein kleiner Schwanz zitterte.

»Mein Sohn ist von der Seele her ein Abtrünniger durch und durch. Der Held eines Jungen müsste Kosmonaut Alexei Leonow sein oder General Karbyschew, den die Nazis bei lebendigem Leib einfroren. Aber nein. Er träumt von Jasow und Konsorten und plant, nach Ost-Deutschland zu gehen, sobald er als Laufbursche eines Händlers genug Dollars zusammengekratzt hat, dass er sich einen Auslandspass beschaffen kann.«

Der Mann schien in sich einzusinken. Tiefe Düsternis hüllte den Waggon ein.

»Ich würde nie auf die andere Seite gehen, auch nicht für ’nen Tausender. Das wäre ja so, wie wenn ein Vogel freiwillig von einem Käfig in den anderen springt. Ich liebe dieses Land. Amerika ist ein von Gott verlassener Misthaufen.«

Nun wippte die Sonne auf der Höhe einer leicht bewaldeten Landschaft, und die Niedergeschlagenheit im Abteil verflog.

»Daheim in Moskau lese ich Katinka aus der Zeitung vor und in Ulan-Bator den Arbeitskollegen. Ist es dir recht, wenn ich dir auch was vorlese? Das würde mir Trost spenden. Wenigstens ein bisschen.«

Die junge Frau nickte.

»Massenkarambolage auf der Moskauer Ringstraße – fünf Tote und zwanzig Verkrüppelte; Explosion in einem Kohlebergwerk in der Ukraine – dreihundert Tote; Leck in einer Pipeline in Tscheljabinsk – tausendfünfhundert Rentiere im Öl ertrunken; Seilbahn in Georgien gerissen – vierundreißig Tote; und wieder ein U-Boot im Polarmeer versunken – zweiundsiebzig Soldaten starben; in einem Altersheim explodierte ein Heizkessel – hundertsiebenundzwanzig Tote; in einem Kindergarten platzte ein Heizkörper – vierundvierzig Kinder von kochend heißem Wasser verbrüht; im Schwarzen Meer sank ein Personenschiff – zweihundertsechs Passagiere ertrunken; eine Chemiefabrik kündigte ihren Vertrag – eine ganze Stadt von der Landkarte verschwunden; in Karelien brach ein Kraftwerk zusammen – dreizehn Ortschaften überflutet und siebenhundert Menschen ertrunken; wenn ein Atomkraftwerk einstürzt, sterben eine Million Menschen an Strahlenkrankheiten.«

Der Mann hielt mit dem Lesen inne und wartete. Dann streckte er den Rücken durch und holte Luft.

»Sowjetische Kampfflieger haben bei einem Testflug über Sachalin fünf Marschflugkörper verloren. Das steht hier wirklich.«

Er schmiss die Zeitung unters Bett und musterte lange den Fensterrahmen.

»Es war vielleicht im sechsten Schuljahr. Wir hatten einen Kerl namens Grigori Mitjakowitsch Kosinzew in der Klasse. Und dann gab es da einen unbegabten Lehrer, Jarek Kontscharow Ust-Kut. Genosse Ust-Kut.«

Der Mann lachte zuckend.

»Wie kann ein Mensch nur so einen Namen haben! Wir lachten schon damals darüber. Aus irgendeinem Grund hasste Genosse Ust-Kut den Schüler Grigor. Er quälte ihn fast jeden Tag. Zwang ihn vor die Klasse, verpasste ihm Backpfeifen und schimpfte ihn einen dummen Kerl. Wir dachten jedesmal, nicht schon wieder! Und jedesmal passierte es doch – bis auf das eine Mal, als sich Grigori den Kartenstock schnappte und damit Genosse Ust-Kut in die Visage schlug. Dann warf er den Stock auf den Boden und floh aus dem Klassenzimmer. Das hatte ein Mordschaos zufolge. Der Pförtner, der Rektor und andere Lehrer kamen herein und glotzten. Letztendlich hatte das Stück Schwanz nur eine kleine Schramme an der Nase und konnte die Stunde fortsetzen, aber kurz bevor es zur Pause läutete, ging die Tür auf, und im Türrahmen stand Grigori Mitjakowitsch Kosinzew und hielt eine richtige Flinte in der Hand. Er richtete sie auf den Genossen Ust-Kut, und als der Hammel kapierte, was geschah, fing er an zu kreischen wie ein Ferkel. Da drückte Grigori ab. Das Blut spritzte, und der Esel starb. Grigori hätte ebenso gut mich oder irgendeinen anderen Scheißkerl erschießen können, der ihm die ganze Schulzeit über zugesetzt hatte. Aber nein. Er verschonte uns. Damals verstand ich noch nicht, dass man nur Menschen umbringen soll, die Angst vorm Tod haben. In den anderen Fällen ist das Töten nämlich ein Freundschaftsdienst.«

Der Zug kroch voran, als bäte er um Verzeihung, während die groß und rund vom milchweißen Himmel scheinende Sonne den sauberen Schnee erhellte. So ging es einige Stunden weiter, dann verdeckte die schwarze Finsternis die großkotzige Sonne. Sibirien verschwand vor dem Fenster, kam aber wieder hervorgeschlüpft, bevor irgendjemand etwas bemerkte. Schwarz und beängstigend wuchs unmittelbar neben der Strecke die Wand des Waldes. Als sie endete, öffnete sich ein weiter Blick bis hin zu einem Fluss in der Ferne. Auf dem Schneemeer ragten drei Häuser auf, davor stand eine Sauna, aus der schwarzer Rauch quoll. Vor der Sauna sah man mitten in einer Dampfwolke eine dicke, nackte, rote Frau mit bloßen Füßen stehen. Der Mann bot seiner Abteilgefährtin Puschkin-Schokolade an. Sie war dunkel und scharf.

Dann schaute der Mann aus dem Fenster und konnte noch kurz die Frau vor der Rauchsauna sehen.

»Schlechtes Schnittmuster, aber fest vernäht.«

Die junge Frau kritzelte lange vor sich hin, bis sie dazu überging, auf ihrem Block ein sibirisches Dorf inmitten einer uferlosen Landschaft zu zeichnen. Mit leicht geöffnetem Mund starrte der Mann die junge Frau an.

»Ich kannte einen Kolja, der immer denselben Witz erzählte: Unsereinem wachsen beim Militär eiserne Kiefer, eiserne Backenknochen und ein eiserner Wille. Bloß ist bei den Schweißnähten schwer gepfuscht worden. Sobald man entlassen wird, bricht das Gerüst zusammen, sodass nur noch eine Erdschicht von anderthalb Metern hilft.«

Der Mann lachte so heftig vor sich hin, dass er sich mit dem Hemdsärmel über die feuchten Augen wischen musste. Er kniete sich auf den Boden, holte die zerknüllte Zeitung unter dem Bett hervor, faltete sie sauber zusammen und schob sie unter seine Matratze.

»Ein anderer Kolja, dessen Wünsche unerfüllt geblieben waren, malte mit weißen Buchstaben die Frage auf ein rotes Schild: Wo bleibt die glückliche Zukunft? Mit diesem Plakat stellte er sich dann auf den Roten Platz. Drei Minuten stand er dort, und schon kam ein Auto der Miliz und nahm Kolja mit. Man brummte ihm fünfundzwanzig Jahre auf – so lange, wie der Militärdienst bei unseren Vorvätern gedauert hatte. Und die Ehrenrechte verlor er für fünf Jahre. Wo bleibt die glückliche Zukunft! Darüber haben sogar die Tauben auf dem Roten Platz gelacht.«

Die feuerrote Nachmittagssonne machte sich vor dem windgepeitschten Himmel breit. Hinter ihr fielen riesige Schneeregenlappen herab. Die junge Frau kramte in ihrem Rucksack, der Mann deckte den Tisch fürs Abendessen. Sie aßen langsam und schweigend, tranken den Tee, der gut gezogen hatte: schwarzen, indischen Elefanten-Tee, von der jungen Frau im Valuta-Laden erstanden. Nach der Mahlzeit hätte sich der Mann gern unterhalten, aber die junge Frau wollte die Stille bewahren. Da zog der Mann das Messer unter seinem Kopfkissen hervor und fing an, damit hinter seinen Ohren zu schaben. Die junge Frau lag mit geschlossenen Augen da. So fuhren sie durch den ganzen langen, dämmrigen Abend, schliefen ab und zu, wachten wieder auf, jeder für sich. Die junge Frau war mit Mitka in dessen Zimmer. Auf dem kleinen blauen Plattenspieler torkelte eine LP von Jefferson Airplane, Mitka blätterte in einem Lexikon, das Anfang des Jahrhunderts gedruckt worden war, die junge Frau lag auf dem Bett und zeichnete nach einer Vorlage alte ägyptische Schriftzeichen, in der Küche sang Zachar beim Kartoffelschälen eine alte russische Romanze vor sich hin, und im Wohnzimmer unterhielt sich Irina ganz leise mit Julia.

Allmählich ging die Moorlandschaft in eine gleichmäßig flache Ebene über: verfallene, unter dem Schnee Sibiriens begrabene Sockel von Ruinen, eingestürzte Brunnen, Vogelhäuschen, die an Birken baumelten, Dörfer mit verlassenen Häusern, deren tote Fenster den Zug anstarrten. Ein Kettenfahrzeug der Milchzentrale war in einer Schneewehe stecken geblieben. Übers Feld stapfte ein Pferd, sein Rücken eingesunken wie ein altes Sofa. Es zog einen Heuschlitten hinter sich her, auf dem statt Heu zwei vor Kälte klamme, an den Beinen zusammengebundene Raufußbussarde balancierten.

»Weißt du, meine kleine Freundin, was heute für ein Tag ist? Heute ist der Tag der Kosmonautik. Also nicht der Tag der Kosmonauten. Und das ist noch nicht alles. Heute ist sowohl der Tag der Kosmonautik als auch der Tag der Himmelfahrt unseres verstorbenen großen Anführers, heute, am 5. April. Wir alle erinnern uns, dass am 5. April 1953, nein, es war am 5. März, das Herz des großen Lokomotivführers des Zuges der Geschichte, Generalissimus Josef Wissarionowitsch Stalin, so schweren Protest anmeldete, dass bereits Stunden später die Begräbnismaschinerie auf Hochtouren lief. Josef Wissarionowitsch war ein so schrecklicher und stählern kluger Mann, dass es einen immer noch schaudert. Jetzt, mein Mädchen, feiern wir Stalins Tod, wenn auch einen Monat zu spät.«

Er wühlte wie wild in seiner Tasche. Wühlte und beschwichtigte sich selbst.

»Du wirst sie schon finden, du wirst sie schon finden. Eine Wodkaflasche ist schließlich keine Stecknadel und ein Zugabteil kein Heuhaufen.«

Er fand die Flasche nicht in der Tasche, sondern am Ende unter der Matratze.

Großzügig goss er Wodka in beide Teegläser, schob eines davon der jungen Frau hin und erhob das andere.

»Trinken wir auf die Kosmonautik.«

Dann füllte er sein Glas erneut.

»Als Nächstes erheben wir das Glas zu Ehren der herrlichen jungen Frau sowie aller anderen mumienhaften finnischen Frauenfiguren. Auf die Schönheit!«

Wieder füllte er sein Glas und setzte ein offizielles Sowjetgesicht auf.

»Erheben wir nun das Glas auf eine umstrittene Persönlichkeit der Weltgeschichte, auf den verstorbenen großen Führer des Sowjetstaates, auf den eisernen Vater, auf den Posträuber von Tiflis, auf den georgischen Juden und König der Halsabschneider Josef Wissarionowitsch.«

Er leerte sein Glas, biss ein Stück Schwarzbrot ab und füllte das Glas ein weiteres Mal.

»Jetzt erheben wir wieder das Glas, und erneut steigt es zur Ehren des stählernen Mannes empor. Danke, Josef Wissarionowitsch, dass du die Sowjetunion zu einer starken industriellen Großmacht gemacht und die Hoffnung auf ein besseres Morgen und die stufenweise Linderung der menschlichen Leiden aufrechterhalten hast! Wenn man die Vergangenheit nicht ruhen lässt, geht das leicht ins Auge, und wenn man sie ruhen lässt, geht es in beide … Trinken wir auch auf General Schukow, den König von Berlin! Ohne ihn hätten die Nazis aus Moskau einen beleuchteten künstlichen See gemacht und die ganze Erdkugel von Slawen und anderen unhygienischen Völkern gesäubert, die Finnen eingeschlossen.«

Er leerte sein Glas und ließ noch einen kleinen Schluck hineinrinnen.

»Die Juden haben dem Großen Führer Gift in den Mund geschüttet, und auch wenn ich die Juden hasse, so gebührt ihnen Ehre für diese schöne Geste.«

Er leerte das Glas und warf ein leichtes Grinsen aufs Fenster.

»Ich kann mich an den Todestag dieses Mörders und Muschikenwürgers sehr gut erinnern. Petja und ich waren im dritten Schuljahr. In der fünften Klasse der Grundschule, die erste und vierte gab es nicht. Die Eins war mitten am Schultag eingestürzt, und der Bau der Vier war nicht fertig geworden. Als wir eines Morgens in die Schule kamen, sagte Walentina Saitsewa, der Vater aller Völker sei erkrankt. Allerdings wurde das kindliche Gemüt von dieser Nachricht nicht sonderlich berührt. Am nächsten Morgen berichtete die Lehrerin, der Generalissimus liege bewusstlos auf dem Krankenlager und die Ärzte meinten, es bestehe nur sehr geringe Hoffnung. Na und? Wir spielten weiter. Am dritten Morgen schluchzte die Lehrerin, nun sei der Vater verstorben. Ein besonders heller Kopf fragte, woran denn. Die Lehrerin antwortete, wenn man zu sehr am Leben festhält, setzt irgendwann der Atem aus und der Mensch erstickt … Nach der Schule ging ich mit Petja Arm in Arm nach Hause, die Fabriksirenen heulten wie bei Seenot, manche Männer auf der Straße weinten, andere lächelten. Daheim sah mein Großvater irgendwie sonderbar aus, nackt und fremd. Ich starrte ihn lange an, bis ich begriff, dass sein dichter, südlicher Schnurrbart verschwunden war. Jetzt fängt ein neues Leben an, sagte der Großvater und gab uns Kringel. Er war Mitglied der Partei, und einer seiner Lieblingssätze lautete, zu Stalins Zeiten war dieses Land für Kommunisten der gefährlichste und ungesündeste Ort zum Leben gewesen.«

Der Mann rieb sich eine Weile das Kinn.

»Wahrheiten gibt es Tausende und Abertausende. Jeder hat seine eigene. Wie oft habe ich dieses Land verflucht, aber was wäre ich ohne es? Ich liebe dieses Land.«

Im Abteil lag der scharfe Geruch von Brennöl. Er kam aus dem vollen Wodkaglas, das auf dem Tisch im Takt des Zuges zitterte. Die junge Frau rückte es ein Stück von sich weg. Der Mann folgte dem vibrierenden Glas mit dem Blick.

»Ausländerin! Sie beleidigen mich zutiefst, da Sie nicht mit mir trinken.«

Er biss ein Stück von einer Salzgurke ab und starrte die junge Frau mit bohrender Miene an. Sie zog eine Grimasse und richtete den Blick zu Boden.

»Meine Mutter flößte mir immer Wodka ein, wenn ich krank war. Schon als Säugling habe ich mich an den Wodkageschmack gewöhnt. Ich trinke nicht, weil ich unglücklich bin oder weil ich noch glücklicher sein will, sondern weil die Schlange in mir nach Wodka schreit.«

Ohne einander anzuschauen, saßen sie gedankenverloren da. Die junge Frau dachte an ihren Vater und an den Tag, an dem sie ihm erzählt hatte, sie werde zum Studieren nach Moskau gehen. Er hatte sie lange mit erschrockenem Gesicht angesehen, und dann war ihm eine Träne über die Wange gelaufen. Ihr Vater hatte sich vollkommen betrunken, sich in seinem Lada verschanzt und verlangt, dass er sie zum Bahnhof bringen dürfe.

»Ich habe mir gerade überlegt, ob Gott eigentlich Russe ist. Wenn ja, dann müsste auch Jesus Russe sein, denn er ist ja Gottes Sohn. Und die Maria? Wie rechnet man das? Vor Iwan dem Schrecklichen dürfte es ja eigentlich niemanden gegeben haben. Aber wenn der den Säbel in die Hand nahm, rollten Köpfe. Leute wurden zwangsumgesiedelt, vertrieben und vernichtet. Es ist Gottes Befehl, brüllte Onkel Iwan. Der erklärte alles mit Gott. Der alte Fuchs. Gründete den damaligen KGB, damit der sich um die Säuberungen kümmerte. Dann kam Zar Peter der Große, der uns zu Europäern machen wollte und in Sklavenarbeit die Stadt Sankt Petersburg erbauen ließ. Euch Finnen zum Gefallen! Er ist euch in den Arsch gekrochen, der Schwächling. Danach kam die deutsche Prinzessin, Katharina die Große. Dieses Weibstück, deren Fotze größer als eine Waschschüssel war, ließ sich von Potjomkin bumsen, der einen Riemen wie eine Aubergine hatte. Die Geschichte Russlands ist kein Triumphzug der Vernunft. Und Nikolaus I.? Bei dem bekam jeder Kerl sicherheitshalber zweihundert Rutenstreiche und tausend Stockhiebe beim Spießrutenlauf. Viele haben diese Hölle nicht überlebt. Wir haben schon immer die edle Kunst der Folter beherrscht.«

Der Mann legte den Kopf an die kalte Fensterscheibe und schloss die Augen. Einen Moment lang glaubte die junge Frau, er schlafe ein, aber bald öffnete er wieder die Augen. Vor dem Fenster blitzte ein orangefarbener Schnitt im Himmel auf. Der Mann sah die junge Frau geradezu zärtlich an.

»Es ist Zeit, es ist höchste Zeit, sagte Iwan der Schreckliche und erteilte den Befehl, die Transsibirische Eisenbahn zu bauen. Oder war es Alexander II.? Ohne diese verfluchte Eisenbahn würde ich jetzt mit meiner Süßen im Arm in Moskau liegen. Sie haben sich diese Eisenbahn ausgedacht, um die Ärmsten der Armen zu quälen. Würde sie wenigstens in einem Rutsch durchfahren, aber nein, an jedem verlassenen Bahnhof in jedem erbärmlichen Dorf wird zum Pissen angehalten, und von der Sorte gibt es im großen Sowjetland wahrlich genug. Aber andererseits. Was soll’s. Es könnte schlimmer sein. Zeit haben wir ja.«

Mit apathischem Gesichtsausdruck erhob er sich vom Bett. Er ächzte, zog sich verschämt dünnere Kleider an, machte ein paar betrunkene Gymnastikübungen, setzte sich auf den Bettrand und richtete den Blick zu Boden.

»Ich arbeite für die Mongolen und mache mich somit für ein Land nützlich, in dem keiner von unseren Leuten lebt. In der Mongolei fällt kein Schnee, sondern Kies. Dort wachsen keine fetten Wälder wie bei uns, dort gibt es keinen einzigen Pilz und keine Beere. Letztes Jahr gab es bei uns auf der Baustelle einen Vorfall, bei dem sich jeder Kerl in die Hose geschissen hat. Wir hatten einen Genossen, nennen wir ihn Kolja. Das war ein Scheißkerl, aber trotzdem einer von uns. Und dann war da eine Herde von diesen Mongolen, die zur Baustelle kamen und behaupteten, Kolja habe einen von ihnen abgestochen. Wir haben nur gemeint, verzieht euch, ein Russe sticht keinen ab. Als wir am nächsten Morgen zur Baustelle kamen, steckte vor dem Tor ein Holzkreuz falsch rum im Boden. An sich kein Problem, aber an dem Kreuz hing Kolja mit dem Kopf nach unten. Sie hatten ihn gekreuzigt und ihm geschmolzenes Zinn in die Kehle gegossen. So sind sie, unsere Mongolen. Die haben genauso eine schmutzige Seele wie wir, bloß keine so traurige.«

Der Zug sprang heftig über mehrere Weichen und hielt dann abrupt an. Sie waren in Atschinsk. Arisa rief, der Zug stehe jetzt zwei Stunden. Der Mann wollte das Abteil nicht verlassen, damit sein schöner Rausch nicht an der frischen Luft verflog.

Die junge Frau sprang auf den Bahnsteig und machte sich auf den Weg in die Stadt, die über den abendlichen Verrichtungen einzuschlafen schien. Auf einem leblosen Boulevard ging sie ins Zentrum. Es fiel schwerer Schneeregen. Die Stadt war düster und gestaltlos, feucht und silbrig grau, zottige Wolken hingen über den bunt gestrichenen Häusern, hin und wieder blitzte zwischen ihnen der weiße Mond hervor. Vor dem Schaufenster eines Gastronom-Geschäfts blieb die junge Frau stehen. Es sah aus wie von Rodtschenko gebaut, die Packungen mit den dünnen Nudeln schossen wie Blitze zum Himmel empor. Auf einmal spürte die junge Frau etwas Warmes am Fuß. Ein kleiner Mischlingshund pisste ihr auf den Schuh.

Der Hund schaute sie mit seinen Knopfaugen freundlich an, bellte kurz und zeigte seinen goldenen Eckzahn. Dann machte er ein paar Schritte, blieb stehen und starrte sie erneut an. Sie begriff, dass er sie mitnehmen wollte.

Die Straße, auf der sie gingen, war menschenleer. Die junge Frau hörte das Geräusch ihrer Schritte nicht, obwohl der Schneeregen in Schnee überging, der über den Petrowskije-Boulevard kroch, in eine schmale Nebenstraße abbog und vor einem Brotladen seine Kraft verlor und trocknete. Es wurde kälter. Der Hund blieb vor einem Kellerfenster stehen. Das Fenster ging auf, und von drinnen hörte man eine Reibeisenstimme.

»Wie viel?«

Die junge Frau überlegte kurz.

»Zwei? Gib Scharik einen Drei-Rubel-Schein!«

Die junge Frau grub einen Schein aus der Tasche und hielt ihn nach kurzem Überlegen dem Hund hin. Dieser schnappte sich das Geld und huschte zum Fenster hinein. Wenig später tauchten auf dem Fensterbrett zwei Fuselflaschen ohne Etikett und eine Viertel-Rubel-Münze auf. Die junge Frau nahm die Flaschen, bedankte sich bei dem Nichts und ging auf hell klingendem Schneeasphalt zum Zug zurück. Im Abteil überreichte sie dem verdutzten Mann die Flaschen.

Schnurrend verstaute er sie im Wodkafach seiner Provianttasche und schlief ein. Sobald er seinen übelsten Rausch ausgeschlafen hatte, fing er an, das Nachtmahl auf dem Tisch zu arrangieren.

Nachdem sie die lange, träge Mahlzeit genossen hatten, machte der Mann die Abteiltür auf.

»Lassen wir die Welt herein!«

Er massierte sich die Schläfen und kniff sich in die Ohrläppchen. Die junge Frau war müde, zeichnete aber noch eine sibirische Retortenstadt.

Der Mann wollte die Zeichnung sehen und betrachtete sie lange.

»Das ist nichts«, sagte er und warf den Block zurück. »Du hast überhaupt keine Fantasie, mein Mädchen. Du solltest zuerst einen kleinen Fluss zeichnen und darüber eine hübsche Brücke. Am einen Ufer skizzierst du einen Weg, der im hohen Gras verschwindet, danach eine Wiese und hinter der Wiese einen Wald. Am Waldrand lässt du die Glut eines erloschenen Lagerfeuers aufblitzen. Und zum Schluss pinselst du die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs an den Himmel. So ein Bild würde ich mir an die Barackenwand hängen.«