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Die Bahnhofslichter färbten den Schnee und die Seite einer vom Wind zerfetzten Zeitung grün. Die junge Frau hörte Arisa rufen: »Sobald wir die Erlaubnis haben, fahren wir! Bis dahin bleibt jeder in seinem Abteil!«

Lange stand der Zug am Grenzbahnhof Nauschki. Die Milizionäre sammelten von allen Reisenden die Pässe ein und trugen den leblosen Mann fort. Dann nahmen die Zollbeamten ihr Ritual des Allesdurchwühlens in Angriff. Der gesamte Vorgang dauerte sechseinhalb Stunden. Den Zeichenblock der jungen Frau nahmen die Zöllner mit.

Kurz bevor der Zug loszuckelte, schleppten die Grenzposten den Mann ins Abteil zurück. Er schnarchte vergnügt, knirschte mit den Zähnen, und der Geifer troff ihm aus dem Mundwinkel aufs Kopfkissen, das von seinen fettigen Haaren dunkel geworden war.

Der Zug blökte, heulte auf und fuhr fröhlich hoppelnd los. Tschaikowskis sechste Sinfonie walzte aus den beigen Lautsprechern über die Reisenden hinweg wie ein Panzerwagen.

Die junge Frau stand auf, sammelte die benutzten Teegläser ein, ging auf den Gang und dort weiter zu Arisas und Sonetschkas Abteil. Arisa bat sie, kurz Platz zu nehmen und mit ihr und Sonetschka gemütlich eine Tasse Zitronentee zu trinken.

Die junge Frau nickte zum Dank, setzte sich auf das harte Bett und schaute auf den Strauß senfgelber Chrysanthemen in der niedrigen Vase. Arisa schnitt mit einem stumpfen Messer eine Zitrone und fing mit angespannter Stimme zu reden an:

»Im Januar ’34 starb die Frau, die bei der Eisenbahn Bedienstete war, in einem Verschlag unserer Kommunalka. Bevor die Leiche kalt geworden war, kochte der Kessel über. Meine Mutter nahm einen schweren Kampf darum auf, wer den Verschlag bekommen sollte, und bei diesem Ringen wurde keiner verschont. Eines unschuldigen Tages wurde der Streit jedoch entschieden, eine fremde Frau zog in den Verschlag. Meine Mutter beschimpfte sie als Judas, obwohl Nachbarin Njuta sagte, dieser Mensch sei mal eine bedeutende Persönlichkeit gewesen, die Sekretärin eines trotzkistischen Führers. Ich mochte die neue Frau und fragte meine Mutter, ob ich sie besuchen dürfe. Meine Mutter verbot es mir streng und verpasste mir eine ordentliche Ohrfeige, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Die Frau hieß Tamara Nikolajewna Berg. Mein Vater nannte sie Mara, und mit seiner Erlaubnis durfte ich zu ihr gehen, wenn meine Mutter nicht da war. So lebten wir zwei Jahre, und immer wenn meine Mutter diese Tamara einen unnützen Menschen oder Judas hieß, brachte mein Vater sie zum Schweigen. Dann war die Frau eines Tages nicht mehr da und die Tür ihres Verschlags zugenagelt. Erst nach dem Tod meiner Mutter erzählte mir mein Vater, dass meine Mutter die Frau grundlos denunziert habe – daraufhin wurde sie verhaftet.«

Arisa schluckte kurz, schwieg eine Weile und spuckte dann wütend in die Ecke.

»Niemand liebt die Wahrheit.«

Ohne sich umzublicken, stand die junge Frau auf und ging. Sie spürte eine Beklemmung, die sich allerdings löste, als sie den Mann sah. Sie legte sich auf ihr Bett und ließ die Augen zufallen.

Sie dachte an Zachar, an Irinas Vater, den Mitka als Mann des Schreckens und der Liebe bezeichnete, einen gut über achtzigjährigen dünnen Mann. Als die junge Frau ihm vorgestellt worden war, hatte er gesagt, am Ende müsse er auf seine alten Tage noch wegen Kosmopolitismus ins Lager. Irina hatte erzählt, für Zachar sei das Jahr ’37 schon im Jahr ’34 gekommen. Damals sei sein Bruder, ein Mitarbeiter der Komintern, verschwunden.

Mit merkwürdigem Brüllen blieb der Zug mitten auf einer rissigen Asphaltebene stehen. Sie hatten Suche-Bator erreicht, den Grenzbahnhof auf der mongolischen Seite. Die junge Frau trat auf den Gang und lehnte sich ans Geländer. Die Waggontür wurde geöffnet, und nach einem wütenden Windstoß drängte in einer Wolke aus Gleisschottergestank ein Trupp Passmilizen in blauen Uniformen und mit niedlichen Käppis herein. Ihnen folgten die Grenzposten, dann fiel die Tür zu. Die Grenzposten schleiften den Mann auf den Gang. Er öffnete das eine Auge einen Spaltbreit, aber es fiel sofort wieder zu. Sein Hemd war am Rücken feucht.

Nachdem das Ritual des Allesdurchwühlens beendet worden war, übergab ein Grenzer der jungen Frau mit amüsiertem Lächeln den Zeichenblock, den man auf der sowjetischen Seite konfisziert hatte. Die Schatten der Waggons krochen über den Bahnsteig, über das orange glühende, mit Sand bestreute Glatteis, ein einsames Yak ging am Fenster vorbei, und zurück bleiben die Sowjetunion, die Mineralwasserautomaten (ohne Sirup eine Kopeke, mit Sirup drei Kopeken), die Minibus-Taxis, die Mädchen mit Zöpfen und schwarz-weißen Schulkleidern, das unbekannte Land, seine Flachstellen und Tiefen, die in einer Nacht erbauten Städte, die Bezirkszentren, die Dörfer, die Moore und Sümpfe, die Wildmarkgebiete, die Wälder, die Sturmschäden, die Kahlschlaglinien, die linkisch retuschierten Fotografien der Mitglieder des Politbüros am Rand des Zentralplatzes, die neugierigen Menschen vor den Spezialgeschäften, die öffentlichen Saunas, die Zentralkaufhäuser, die Straßenkehrer, die Schneeschaufler, die bestochenen Hotelportiers, der wohlschmeckende Wodka, der trockene georgische Sekt und das Gefühl der Sicherheit auf einer nächtlichen Sowjetstraße. Zurück bleiben die Cafés, in denen man immer satt wird, die weiß auf rot gemalten Parolen, die Schlangen vor den Theaterkassen, die Eisdielen und die Saftcocktails, die Volksmusik, die Diskos in den Valuta-Bars und inmitten einer geschändeten Landschaft die nachts randalierenden Jugendlichen in den ordinär vor sich hin grollenden Plattenbausiedlungen. Zurück bleiben die Sowjetunion, die Lenin-Denkmäler und Lenin-Porträts, die Aquarelle, die verlassene Ufer an einem weiß schäumenden Meer darstellen, die Installateure, Ölarbeiter, die elenden Kolchosenangehörigen und Bergleute, die Nummern- und Adressenauskunftskioske, die Gedenkstätten der Revolution, die Tanzböden in den Parks, die alten Paare, die sich mit Pelzmützen auf dem Kopf im Takt eines traurigen Walzers wiegen, die Treppenbesen, die Flurbesen, die Stubenbesen, die Kammerbesen, die Kellerbesen, die Pflasterbesen, die Stallbesen, die Scheunenbesen, die Klobesen, die Vorgartenbesen, die Hinterhofbesen, die Gemüsebeetbesen, die Brunnenbesen, die alten, in große schwarze Strickjacken gewickelten Frauen, die in staubigen Stulpen und fussligen Pantoffeln gleichgültig ihre schlaffen Besen schwingen. Zurück bleiben die alltägliche Aggression in den Oberleitungsbussen, in den Lebensmittelgeschäften, in den dunklen Ecken der Kommunalkas, in den Kellern der Kolchosen, die Freigebigkeit, das Utopische, das Unpraktische, der Unwille, selbstständig zu werden, die Opferbereitschaft, die Unterwürfigkeit, das ewige Klagen, das legitime Nichtstun, die passiven Volksgenossen, deren Erfindungsreichtum keine Grenzen kennt. Zurück bleibt das Land, in dem ein Unglück als Glück gedeutet wird. Zurück bleiben die die Zeit anzeigenden Wanduhren in den Eingangshallen der Amtsgebäude Moskaus, die Kabinette der Experten, die Parteikomitees der Fabriken, die geheimen Spielhöhlen, die verbotenen Hauskonzerte, die Kunstausstellungen in Atelierwohnungen, die Ortskomitees, die Wärterhäuschen, die Blinibuden, die Plätzchenbuden, die geflickten Dächer, die unterm Schnee eingestürzten Häuser, die Millionen verhungerten Bauern, Städter, Arbeiter, die Millionen in den Gefängnissen, die in Arbeitslagern und auf Baustellen entkräfteten und erfrorenen staatstreuen Volksgenossen, die Denunziationen, die Tyrannei der Partei, die Wahlen ohne Wahlmöglichkeit, der Wahlbetrug, die Erniedrigung und das maßlose Lügen, die Millionen in sinnlosen Kriegen Gefallenen, die an Massengräbern hingerichteten Männer, Frauen, Kinder, die Millionen Sowjetmenschen, die der Apparat misshandelt, gefoltert, schlecht behandelt, vernachlässigt, niedergetrampelt, in die Knie gezwungen, gedemütigt, unterdrückt, verängstigt, getäuscht, zwangserzogen, zum Leiden gezwungen hat. Zurück bleibt die Sowjetunion, das müde, schmutzige Land, und der Zug rast in die Natur hinein, stampft durch eine sandige, menschenleere Landschaft. Alles ist in Bewegung: der Schnee, das Wasser, die Luft, die Bäume, die Wolken, der Wind, die Städte, die Dörfer, die Menschen und die Gedanken.

Die junge Frau fragte sich, wie sie dieses sonderbare Land lieben konnte, das Land und seine demütige, anarchische, gehorsame, rebellierende, sich um nichts scherende, findige, leidende, schicksalsgläubige, stolze, alles wissende, hasserfüllte, kummervolle, fröhliche, verzweifelte, zufriedene, ergebene, liebende, zähe und genügsame Bevölkerung. Konnte sie beide lieben, Mitka und Irina? Den Sohn und seine Mutter?

Die Nacht saust durch die Finsternis und wird zum Morgengrauen, das sich bald in einem neuen lichtlosen Tag verflüchtigt. Der Schnee klettert an den Baumstämmen empor, ein Greifvogel sitzt auf einer orangefarbenen Wolke und sieht auf den Ringelwurm des Zuges herab.

Sobald sich das Durcheinander lichtete und die Leute mit den Kolli ihre Plätze gefunden hatten, schleiften Arisa und Sonetschka den Mann ins Abteil. Arisa fluchte dabei vor sich hin.

»Dieser Bock ist so schwer wie ein Grabstein.«

Der Mann röchelte und wimmerte mit gequälter Miene. Für einen Moment streckte er den Rücken gerade und starrte die junge Frau an, dann sank er wieder in sich zusammen. Sein Gesicht war sehr alt und müde. Schläfrig und verächtlich blickte er auf die junge Frau.

»Wo ist die Wodkaflasche? Gebt mir Wodka!«

Arisa schaute ihn amüsiert an und sagte mütterlich:

»Schnauze halten und schlafen!«

Der Mann versank in unruhigen Schlaf. Sein Hemd stand offen, und seine verschwitzte, haarige Brust glänzte im matten Licht der frühen Morgenstunde.